
Mittwoch, 14. Oktober 2020
Als Freund der inneren und äußeren Schlichtheit, ganz Wabi-Sabi also, stelle ich derzeit mehr Sabi als Wabi zur Schau. Aber siehe, auch diese Patina ist nur scheinbar. Denn beim Sortieren schüttel ich meine Gedanken gut durch, knete ein wenig an den Synapsen und puste mein Hirn ordentlich von Staub frei.
Zuletzt habe ich viel (sozusagen ein "Crashkurs") über automobile Sicherheit gelernt. Autos, die Piepsen und Summen, wenn ihnen Umwelt zu nahe kommt. Als geübter Beifahrer kann ich Vergleiche anstellen. Ich habe Dinge erlebt (und überlebt), die dem Gehirn eines Phantasten entsprungen sein könnten. Mit Gaffa-Tape zusammengeklebte Autos, die über Landstraßen geprescht werden. Junge Fahrerinnen, die mit ihren Kleinwagen bei 120 forsch in eine geschwungene 80er-Baustelle durch Nürnberger Hütchen voltigieren, daß einem der Schweiß in den Nacken perlt und einem Liedzeilen einfallen wie "when a ten-ton-truck crashes into us...", dann noch überpulsierte Slalom-Schwimmer im Stop-and-Go-Stadtverkehr, daß einem lagerungsschwindlig wird, hielte man sich nicht am Türgriff fest. Immer wieder also ein Genuß, wenn man gut luftkissenumpackt und grundentspannt aus der Komfortzone befördert wird. Man spart ja auch Magenpastillen!
Blockaden, auch das ist interessant, lassen sich wegstempeln. Hau "quasi" weg! In fünf, sechs Monaten schlagen zudem nicht nur manche Hirne, sondern auch Herzen schneller. Alles Gute bis dahin, möchte man rufen. Und schon ist der nächste Anrufer in der Leitung... Ähnlich, wie wenn ein Gedanke den nächsten jagt. Ich könnte zum Beispiel auch Hellseher werden und für jeden Tag eine besondere Karte aus dem Anatomieatlas (Adolf Faller, Der Körper des Menschen) ziehen. Ihr Glückstag: Hirntag.
Wenn ich links unten in die Ecke schaue, stelle ich fest, daß da Bücher gespeichert sind, die [ich] längst vergessen habe. Ich könnte da einfach was freiklopfen und brauche für Lesegenuß keine neuen bestellen. (Das ist der Notvorrat für den nächsten Lockdown.) Ich bin ja kein Intellektueller, habe mir jetzt aber folgendes gedacht:
Neue Gedanken sind also möglicherweise alte Gedanken, die man nur nicht mehr erinnerte. Als somnambule Gestalt schlingert man an Nürnberger Hütchen vorbei durchs Leben, denkt "Ach!" und "Kommt mir bekannt vor!" und ahnt nichts von den Zusammenhängen. Jetzt tut mal nicht überrascht.

Samstag, 10. Oktober 2020
Kurz mal durch den Regen stippen. Klingverse auf der kleinen Insel. Generative Verästelungen, Grammatikdiskussionen, Sprachaustausch, ganz munter eigentlich. Ich muß mal mehr raus, Kunst antippen, Auszeit nehmen, Muster erkennen.
Schleichwege über die Insel, einmal falsch abgebogen und Neues entdeckt. Kaffeepause am großen Fluß, alles super entspannt. Kanten, Kurven, Analysen. Blickwechsel, könnte man sagen.

Sonntag, 4. Oktober 2020
Auf der kleinen Radtour heute bei einheitlich angenehmen Wetter fuhr ich an einigen Abschlußgrillveranstaltungen vorbei, Duft in der Luft, es wurde noch mal auf Rasen getobt, über Wege spaziert, letzte Obstbeute gemacht. Für die herbstliche Jahreszeit habe ich mir unterdessen eine kleine Leselampe gebastelt, um darunter schwermütige Literatur oder aber fantastische Zeitschriften zu lesen. Denn bald heißt es, in Grobstrickware hinter Schmökern sitzen, dazu Knisterfeuer auf DVD und virtuelle Hirtenhunde zu den Füßen.
Ich könnte in meinem Debütroman Ein Bummelstudent der Liebe lesen. Dort schreibe ich mit heiterem Unterton über die Geschichte eines jungen Mannes, der irgendwann um die Jahrtausendwende in den Trümmern seines Lebens in einer fremden Wohnung sitzt, und im Radio läuft Bernadette Hengsts "Der beste Augenblick in deinem Leben" ("Ist gerade jetzt gewesen"). Und das ist erst der Grundakkord. Schon während der Lektüre verfärben sich die Blätter des Buches und fallen einem Kastanien auf den Kopf.
"Im Rheinland lebt man erst, wenn es nebel und näßt", heißt es bei den Fehlfarben. Die wissen eben wie man Lebensfreude macht. Mein Lampenverkauf wird Licht in die Welt und Geld in meine Kasse bringen. Derweil habe ich einen Job als Parkplatzwächter angenommen. Viel frische Luft, interessante Gespräche, Leitungsfunktion ("Hier können Sie nicht stehenbleiben!"), ein bequemer Arbeitsplatz. Noch ohne Leselampe, aber man muß da immer nach vorne schauen.

Freitag, 25. September 2020
In der wie nur an ungeraden Tagen unter der Hand weitergegeben hefegenährten Sauerteigspeise von vitalen, jungen Nacktschwimmerinnen kultisch verehrten Reihe Mit toten Tieren durch das Jahr kommen wir heute zu einem bedauerlichen Vorfall. "Nur tote Vögel fliegen in den Strom", heißt es bekanntlich. Doch dieses lebensgedrosselte Exemplar fiel nicht etwa einer Überlandleitung oder einer Uploadsperre zum Opfer, schon gar nicht einem Windrad, sondern dem motorisierten Straßenverkehr an einer Hamburger Ausfallroute. Wie ein Menetekel liegt die Zippe nun an der Wand, ausgesungen hat diese Turdus philomelos, denn siehe, es ist die Zeit, da die Vögel vom Himmel fallen und die Fische bäuchlings nach oben schwimmen. Die Jahreszeit der Melancholia bricht an.
Epidemische Seuchen können wir in der Regel vorhersehen und vermeiden; Sturm, Pest und teure Zeit sagen unsere Astrologen voraus; Erdbeben, Überschwemmungen, einstürzende Häuser, verheerende Feuersbrünste kommen Schritt für Schritt, oder kündigen sich durch ihr Getöse an; Unrecht, Betrug, Kränkung und Schurkerei der Menschen aber kann keine Kunst der Welt umgehen.
So schreibt Robert Burton (1577 - 1640) in seiner berühmten Abhandlung Die Anatomie der Melancholie (1621 ff.). Zischelwinde schleichen ums Haus, etwas Kühles greift unter die Kleider. Menschen tragen Masken und bleiben auf Abstand. Jetzt heißt es Abhärten, Speicher füllen, den Gesang einstellen. Unsere Kreise werden enger. Paß auf, paß auf, paß auf.
>>> Geräusch des Tages: Titanic Orchestra, Songe d'Automne

Dienstag, 15. September 2020
Ich bin ja wie eine Zikade. Eine Bloggerzikade. 17 Jahre Sieben Tage lungere ich im Boden rum und entwickle und dann haue ich einen Blogbeitrag raus. Die letzten beiden Wochen jedoch waren so eine gemischte Tüte an Impressionen und Impressarios, daß ich erstmal in Ruhe meine Flügelchen putzte und die Brille geraderückte, um alles nach einem System in fest zugeordnete Behälter zu sortieren.
Hin und wieder sind ja Menschen an mir oder meiner Arbeitskraft interessiert oder behaupten dies. Bis ich dann frage, was denn mit meinem Büropinguin sei und ob ich den mitbringen dürfe. Man melde sich - je.des.mal. Dabei ist der freundlich, gut für die Stimmung und überhaupt nie nachlässig gekleidet.
Ich bin selten überrascht, ich wittere die Reaktion der Gegenseite wie einen fischparfümierten Pinguin gegen den Wind, gebe aber natürlich jedem seine Chance, sich charakterlich zu präsentieren.
Derzeit zieht ja der für Ahner und Astrologen bedeutsame Überraschungsplanet Uranus durch die Häuser. Bei mir ist es "Kontakt und Kommunikation", so daß mich am heißesten Tag des Spätsommers überraschend Skigebietstouristikpost aus Österreich ereilt. Eine Depeche mit dickvermummelten Leuten oben auf der Alm bei Serfaus-Fiss-Ladis aus Tirol. Eine willkommene Abkühlung hier unterm heißen Zinkdach des Leuchtturms. Gerade muß ich für die kommende Herbstsaison Regenhauben aus Fischleder probieren. Ein fantastisches Material, sehr beständig, elastisch und wasserabweisend. Aber selten und teuer. Meine Haube wurde aus Haileder gefertigt, denn der Hai ist mein neues Krafttier fürs Berufsleben. "Verhandeln wie Mackie Messer" habe ich jetzt als Fortbildungsseminar gebucht, nachdem ich für meine bisherige Taktik der soft persuasion ausgelacht wurde.
Auch ich werde trotz all meiner Forschungen in meinem geheimen Geheimlabor wissenschaftsadversiverweise nicht jünger und könnte so etwas wie eine Gleitsichtbrille verwenden. Brille runter, Brille rauf, dann fällt sie zu Boden, ich muß die Augen zukneifen - das ist alles nicht mehr kommod, wie man auf einer österreichischen Skipiste sagen würde. Mit Gleitsicht haben aber viele Probleme, ich werde daher jetzt dieses oben abgebildete Modell tragen, bei dem man je nach Bedarf die Gläser tauschen kann. Eine fantastische Erfindung. Genius. Habe mir bereits Röntgengläser bestellt, denn bei Vorträgen soll man sich sein Gegenüber ja immer nackt vorstellen, um sich nicht einschüchtern zu lassen. Die Technik ist mir grundsätzlich bekannt, habe die aber bislang immer nur selektiv angewendet. Die Röntgenbrille wird mir nun helfen, Personen ohne Ansehen der Person zu durchleuchten.

Mittwoch, 9. September 2020
"Emma Peel kann Karate" war in meiner Kindheit ein offenbar bedeutsamer, obgleich für mich etwas unverständlicher Spruch. Zwar hatte ich auch gelegentlich, erlaubt oder auch nicht, Folgen von "Mit Schirm, Charme und Melone" gesehen. Da kämpften und kombinierten zwei Agenten, paritätisch ein Mann und eine Frau, durchs schwarzweiße Kaltkriegsengland und jagten geheimnisvolle Schurken. So weit, so klar. Aber wenn Onkel und Tanten bei Tisch saßen und beim Sebstgebrannten angelangt waren, hieß es mitunter "Emma Peel kann Karate" - und dann wurde gelacht. das fand ich verwirrend, aber Onkel und Tanten taten zufrieden.
Nun führten Hamburger Nieselregen (innerlich und äußerlich) dazu, aus meinem erratisch geführten DVD-Archiv ein paar Folgen The Avengers, so der Originaltitel, mit Diana Rigg als Emma Peel zu schauen. Hier ihr erster Auftritt, bei dem man sieht, daß Ms Rigg eine zumindest rudimentäre Fechtausbildung genossen hatte. Bei Patrick Macnee bin ich mir da nicht so sicher, aber er wehrt sich so gut er kann. Ich wehre mich auch immer, so gut ich kann, deshalb habe ich eine gewisse Verbindung zur Serie aufbauen können.
In der Folge "The Cybernauts" geht es um böse Roboter, die mit Lochkarten programmiert und von künstlicher Intelligenz gesteuert, als Todesmaschinen durchs Land ziehen. Sehr vorausschauend, wirkt wie heute. Ganz im Gegensatz zu einer leicht verhascht wirkenden Folge aus dem an den Skurrilitäten nicht armen ländlichen Britannien. In einem Krankenhaus für Eisenbahner werden von einer fremden Macht heimlich Störsender gebaut, während auf dem Landsitz nebenan der spinnerte Earl of Soundso einen Eisenbahnthemenpark im Wohnzimmer unterhält und ansonsten mit einem Minizug (ähnlich der im Prater) übers weitläufige Gelände tuckert. Dabei werden schöne Kinoverweise präsentiert. Man sieht wie eine künstliche Landschaft am Zugfenster im Wohnzimmer vorbeigezogen wird, um den Eindruck von Bewegung zu erzeugen (ein Grammophon liefert dazu die Geräusche, und ein Blasebalg bläst Rauch vorbei), während der Hausdiener außen am Waggon wackelt. Der Earl ist zufrieden.
Auf der Strecke aber wartet unterdessen die arme Ms Peel mit bebendem Busen auf ihren Retter. Ganz Damsel in Distress wurde sie in ihrem wirklich sehr engen Lederoutfit von Schurken geknebelt und an die Gleise gefesselt. Die bösen Buben haben die Garteneisenbahn in Bewegung gesetzt und rasen auf die Arme zu. Zum Glück eilt Kollege Steed herbei, und es entwickelt sich, unterlegt mit wilder Klaviermusik und in hackeligem Tempo gefilmt eine Zugkeilerei in bester Stummfilmmanier. Die Dame wird in letzter Sekunde gerettet. Kid37 ist zufrieden.
Alles gar nicht so dumm, und man sieht auch, daß Emma Peel wirklich Karate kann. (Im Tweedkostüm sogar.)

Sonntag, 6. September 2020
daß dieser Mann ein ähnliches Leiden litt wie er,
daß er an einer ungestillten Inbrunst krankte,
die sich aus einem engen und törichten Leben
in alte Bücher geflüchtet hatte.
(Paul Leppin. Severins Gang in die Finsternis.)
Mit 17 oder so las ich das Buch das erste Mal. Es gab ein Exemplar in der Stadtbücherei. Mehr als der Titel hatte sich nicht so recht in Erinnerung gehalten, und der diffuse Befund, daß ich es ganz gut fand. Die Lücke in meiner eigenen Bibliothek habe ich nun endlich gefüllt, und Severins Gang in die Finsternis (1914) erweist sich als bestürzend spiegelnde Lektüre, wenn man, nicht mehr ganz 17, selbst bereits ein, zwei Mal durch Gänge gegangen ist. Der Titelheld, ein abgebrochener Student und Büroknecht, schleicht durch die alten Gassen Prags, steigt den Röcken hinterher und stürzt sich ins Unglück. Dabei trifft er auch den alten Antiquar Lazarus, von dem es heißt: "Er hatte schon bald ein halbes Jahrhundert auf dem Rücken, aber trotzdem waren die Weiber noch immer seine liebste Passion." Alles kein Umgang für den jungen Mann und so nur die knappe Zusammenfassung.
"Seine exzentrischen Prosawerke erzielten häufig wegen ihrer freizügigen Behandlung erotischer Themen Skandalerfolge", heißt es bei Wikipedia über Leppin. Ich weiß nicht, ob sein Gedichtband Glocken, die im Dunkeln rufen in diese Richtung geht. Ich werde es herausfinden. Wenn ich mich recht erinnere, ist es mit Gespenstern bei Severin nicht weit her, bin aber erst bei der Hälfte. Der Ton ist melancholisch freilich, die lasziven Abenteuer, die er sucht, wärmen kurz, sind traumhaft flüchtig wie aus einem Roman von Huysmans entstiegen. Kurt Pinthus meinte, es sei ein Buch "das beunruhigt, das niederdrückt, das ein wirreres Grauen in uns weckt als unheimliche Geschichten und spukhafte Abenteuer" (aus dem Nachwort zitiert).
Es gibt eine neueres Ausgabe mit allen Illustrationen der Originalauflage. Meiner fehlen diese, dafür spendierte der Verlag einen fiesen Plastikschutzumschlag, der bei mir allerdings als allererstes einen Gang in die Finsternis antreten mußte.
(Paul Leppin. Severins Gang in die Finsternis. Ravensburg: Peter Selinka, 1988.)
