Dienstag, 7. Juli 2020


Fernrohr geradeaus

So you turned
your days into night-time/
Didn't you know, you can't make it
without ever even trying?

(Karen Dalton, "Something On your Mind")



Mit Sucherblick auf alte Backsteinfenster, rückwärts Geschichte, vorwärts bloß Skizzen, heißt es jetzt wieder, volle Muckikraft an festgefranzte Hebel setzen. Weichen stellen. Sprache finden. Und eine Sprachregelung, alles aber deutlich loud and clear durch eine Maske gesprochen. Von Selbstabsolution Besoffene von den Schulterstücken bürsten, happy bouncing mit Partybrille. Bücher zusammenschnüren, Leitsätze notieren, einen karierten Picknickdeckenblick für verregnete Sommertage üben.

Bin bereit für Mondbäder, die letzten Wolken vom Himmel kratzen, mit dem Wassersprenger alle nass machen und sich selbst. Weggefährten aufreihen, nachts eine Allee pflanzen, die großen Bäume hier, die Fähnchen dort, tumbleweed verwehen lassen. Schleppwaltzing am Ufer entlang wie Ringos* Schlagzeugspiel, während der Sommer Tag für Tag verkommt. Aus dem Nachbarhaus klingt Fleetwood Mac, in welchem Dachterrassenpartyjahrzehnt leben wir denn hier? Ich warte auf "thunder only happens when it's raining" aus diesem Lied, das nur scheinbar wie der Wetterbericht klingt.

Empire State of Mind mit Brettern vernagelt, befremdliche Bilder, verschobene Pläne, Knistern in der Leitung. Man muß eben lauter singen, mit dem Finger über Straßenkarten malen, sein eigenes Theaterstück schreiben oder überhaupt und endlich mal auch sonstwas tun.

>>> Geräusch des Tages: Karen Dalton, Something On Your Mind


 


Freitag, 26. Juni 2020


Arcadia




Mittsommer und Ofenhitze, nachts höre ich, wie sich das vom Tage ausgeglühte Metalldach meines Leuchtturms mit Plop und Ploing wieder zurückformt. Aber auch Gezischel und Getuschel im benachbarten Grün, ein Rauschen und Knacken, Frauen in Weiß huschen an den Anlegern umher. Ein wenig unheimlich und beklemmend. Ganz wie der britische Collagenfilm Arcadia von Paul Wright. Komponiert mit Material aus dem BBC-Archiv, meist Dokumentationen neben ein paar Spielfilmen (aber keine thematisch allzu offensichtlichen wie zum Beispiel The Wicker Man) verwandelt er das problematische Verhältnis von Mensch und Natur in einen rauschhaften Bilderstrom. Der dunkel gefärbte Soundtrack dazu stammt von Adrian Utley (Portishead) und Will Gregory (Goldfrapp).

Aufgeteilt in mehrere Kapitel sehen wir den Wandel der britischen Landschaft, ihre Unterwerfung durch den Menschen, die Verstädterung und die Industrialisierung. Und dann die Versuche der Rückeroberung, die Suche nach Arkadien. Freikörperkultur der letzten Jahrhundertwende und allerlei undurchsichtige paganistische Rituale suchen die verlorene Einheit mit Natur und ihren Kräften. Volkstänze und unverständliche Feierlicheiten bis hin zur Ravekultur der 90er-Jahre zeigen die eine Seite. Immer gespiegelt mit der bösen: Landnahme, Raubbau, immer wieder die Jagd, Kriege, monströs industrialisierte Landwirtschaft.

Am Ende bleibt man erschöpft und etwas verschwitzt nach diesem düsteren Folk-Horrortrip zurück. Will sich die Kleider vom Leibe reißen, auf nassen Wiesen und durch Büsche herumspringen oder einfach nur gesittet und matt mit Kuchen und Tee am Flußufer sitzen.

Super 8 | von kid37 um 17:06h | 5 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 20. Juni 2020


Faust in der Tasche



Schnauze voll von Pandemie: Mit dem Walter-Serner-Wort der "letzten Lockerung" auf den Lippen ist vieles wieder begehbar geworden. Zum Glück auch Galerien, laut einer von mir in meinem geheimen Geheimlabor durchgeführten Kleinstudie soll sich Kunst ja positiv auf vielerart Krankheitsverläufe auswirken. Die Affenfaust in Hamburg zeigt die beiden Leipziger Künstler Doppeldenk mit 100 + 1 Jahre Bauhaus.



Ungewohnt bunt für meine kleine verregnete Welt, aber voller Tiere und trauriger Sensationen (auch Jesus am Kreuz ist dabei). Neonskulpturen, bauhausgrafische Holzklotzmännchen, flächig gemaltes. Wie Street-Art im Galerieformat präsentieren sich die Werke im ehemaligen Supermarkt in der Nähe der Reeperbahn.



Maskenpflicht bleibt, wer bunte hat, fügt sich hier gut ein, geht bitte nah ran an die Kunst und hält Abstand zu den anderen Menschen. Ein vorbildliches Konzept, das ich mir für weitere Lebensbereiche wünsche. Die Doppeldenker Marcel Baer und Andreas Glauch kommen grellbunt, vordergründig unschuldig, dabei aber ganz schön ironisch daher - und irgendwie macht das nach einer Weile Süßkramhunger.



Wie schön wäre eine buntsortierte Eisdiele anbei oder ein Marshmallow- oder Fruchtgummiverkauf mit lustigen Erdbeerflamingos oder sauren, rosa Schaumgummischweinchen. Ums Eck liegen Kaffee & Kuchen im Café, auch hier bitte keine angestrengt überdachten Fantasienamen angeben. Anschließend entspannt durchs Revier streifen, jeglichen Groll in der Tasche lassen und alle Gesellschaftsteile freundlich grüßen.

Doppeldenk, "100 + 1 Jahre Bauhaus". Affenfaust-Gallery, Hamburg. Bis 8.8.2020.


 


Dienstag, 16. Juni 2020


Zwei und zwei zusammenzählen



Vor Jahren ist mal eine Bekannte von mir mit ihrem Steuerberater durchgebrannt. Das hat mich aus verschiedenen Gründen so pikiert, daß ich seither meine eigene Erklärung nur noch über die Elster abgebe. Das wird diesem Berufsstand eine Lehre sein. In die beamtenschelmisch benannte Elster trage ich einfach alles, was ich an Zahlen finde, in das (hoffentlich) entsprechende Feld ein - und am Ende bekomme ich 200,- Euro erstattet und habe meine Ruhe. Ich werde dann immer ausgelacht, weil andere jedes zweite Wochenende stundenlang Quittungen und Belege in einen Leitz-Ordner kleben und ächzen und anschließend einen "Termin beim Berater" haben, ächzen, und dann 400,- Euro zurückkriegen, aber auch viel Stress im imaginierten Arbeitszimmer und in der Lebensgemeinschaft haben. Also manchmal.

Ich jedenfalls habe gerade meine übers Jahr gut versteckten Tresore raufgeholt und sortiere meine drei Unterlagen, weil ich langsam die zweihundert Euro gut gebrauchen könnte. Pandemiefolgen. Nach langer Quarantäne habe ich kaum noch etwas anzuziehen, dabei kann man am Horizont fast den Herbst schon sehen, der seine Kollektionen Ende August bereits in die Läden wehen wird. Und dann geht's schon schnell an die Weihnachtsgeschenke und das Silvesterfondue. Dann sitzt man da und nuschelt undeutlich in seine Maske, Mensch, 2020 war jetzt auch nicht so ein schönes Jahr. Gut, daß ich noch 200,- Euro von der Steuer zurückerhalten habe.

Das war jetzt schon die ganze Moral von der Geschichte. Aufgeschrieben an Tag #537 der Quarantäne.


 


Samstag, 6. Juni 2020


Nachtstücke



Bye-bye, Junimond, heißt es wehmütig hierzulande. Der brave Bürger sitzt, Raspelstimme im Ohr, am Stutzflügel daheim, klimpert was um a-Moll herum und schaut mit vor sanfter Selbstüberflutung angeschmolzenem Bick in die zitternden Kerzenflammen, weil die Dichtungsstreifen an den Fenstern lange schon nicht mehr erneuert wurden. Mit Glück flattert die Hausfledermaus vor dem einsetzenden Gewitter zurück unters Dach (Filmspule), nachdenklich.

Vollmond im Juni, in knapp zwei Wochen werden die Tage zum Glück wieder kürzer, dann muß man das Elend nicht so lange und deutlich betrachten. Dieses Jahr ist die große Zwischenprüfung heißt es, ehe im nächsten unorthodoxe Anschauungen greifen. Noch lungern sich selbst demaskierende Hipster auf Hustenpartys im Park, man kabelt, man zoomt, stellt Rechnungen um und andere auf. Manche haben, schöne Oke, Automatenpuppen ihrer selbst vor Kameras gestellt.

Ins Haus ist ein wenig Ordnung eingezogen. Ich habe oben und unten Regale gebaut. Und hatte ich früher schon ein-, zwei Mal wilde Wespen unterm Dach, brütet dort seit ein paar Jahren ein Bachstelzenpaar. Die ziehen ein bis zwei Junge groß und räumen wie flitzeflinke Kammerjäger unter Insekten auf. Ich empfehle das sehr. Morgens Gezwitscher, mittags Flugstunden des Nachwuchs, nachts nur noch lautlose Fledermäuse.

Ein Blog im Ultraschallbereich wird meine neue Erfindung. Unerhörtes schreiben, sich mit Echowellen durch Twitter tasten, tagsüber aber wie ein Kohlwickel getarnt in der Internetecke hängen. Nur ab und zu mal umdrehen (Filmrolle).


 


Montag, 25. Mai 2020


Die Speisung der 6000



Wer immer weitermacht und die Flinte nicht voreilig ins Blogfeld wirft, erreicht auch runde Sachen. 6000 Tage Das hermetische Café, das sind umgerechnet ungefähr 237 Jahre Bloggen! Wer hätte das gedacht, damals als man Blogtexte noch mit der Pferdekutsche zum Briefkasten bringen mußte, damit der Herr Olbertz die auf seiner Plattform einstellen kann.

Dem Kontaktverbot ist geschuldet, daß es keine große Party gibt. Soviele Mitglieder hat ein Haushalt nicht. Andererseits auch schade, denn ich war am Wochenende fleißig und habe extra eine Hypnotisiermaschine gebaut. Die hätte ich gleich ausprobieren und die Trägen munter, die Rastlosen ruhig und die Erzürnten sanft machen können. Ein diplomatisches zirkuliertes "Ruhe im Karton!" hat schließlich oft schon Wunder gewirkt.

Auch hier hoffe ich, den Betrieb wieder ein bißchen anzukurbeln und regelmäßiger zu schreiben. Aber von Ankündigungen ist noch keiner satt geworden. Ich bin also selbst am meisten gespannt.


 


Sonntag, 24. Mai 2020


Das kurze Kino



Krise frißt Kultur: Leider mußte das von mir ausgedachte und praktischerweise auch gleich kuratierte David-Lynch-Talentfestival wegen Corona abgesagt werden. So wurde auch mein munter-dilettantischer Auftaktbeitrag über einen merkwürdigen Waldausflug nicht richtig fertig. Wie überall derzeit: Kaum hebt man die Stimme, wird man ausgebremst. Ausweichen ist die neue Lebenskunst. Zum Beispiel, anstatt Escape-Room-Rätsel lösen, einfach mal die Tarifpläne von Deutscher Bahn, HVV und Niedersachsen durchdringen, ohne Kompaß, ohne Führer. Und ohne Machete natürlich. Es ist ein Dschungel dort draußen.

Mit flackerndem Rotlicht, aber in Schwarzweiß, kommt überraschend David Lynch persönlich angefahren und sorgt für filmische Entschädigung. Der Youtube-Kanal David Lynch Theatre wird zum Autokino für daheim (Zeit, die Kekskrümel vom Rücksitzsofa zu kehren) und präsentiert den kuschelig animierten Kurzfilm Fire (Pozar). Marek Zebrowski (mit dem Lynch schon bei "Polish Night Music" zusammenarbeitete) spielte die Musik mit dem Penderecki String Quartet ein - ganz apart.

Wer es bunter mag, findet hier hingegen ein Vorstadtleben wie gemalt: Angenehm sorglos gezeichnet und unaufgeregt animiert, jongliert der so bezaubernde wie leise verstörende, mehrfach ausgezeichnete Kurzfilm The Noise of Licking von Nadja Andrasev mit vielen Themen, die mich interessieren. Pflanzen zum Beispiel. Neben den Pflanzen gibt es eine blumenliebende Frau, eine voyeuristische Katze und einen seltsamen Besucher. Dressed in Black.

Super 8 | von kid37 um 14:43h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link