Mittwoch, 28. August 2019


Die Sommerschul-Files



Unterm Dach unerbittliche 30 Grad, ohne Schwanken, ohne Wanken. Es ist so heiß, daß sich selbst die Libellen, die zu Besuch kommen, auf den Rücken legen und das Salz von meinen Lautsprechern lecken. Eigentlich habe ich Urlaub, aber zu viel zu tun, um verreisen zu können. Dazu ist mir bei der Hitze nicht nach Hin und Her, Termine, die sich nicht koordinieren lassen, andere, die unbestimmt bleiben. Ich muß Gutachten besorgen und Unterlagen beibringen, dazu Ideen jonglieren und beruflich Bilanz ziehen.

Weiterbildung ist ein Thema, weshalb ich lieber in der Sommerschule wäre. Entspannt und konzentriert zugleich, tagsüber das Wesentliche zusammenmalen, abends Protestlieder am Lagerfeuer singen.

Lotto war auch nicht, 90 Millionen lagen im Jackpot, bei solchen Summen ist die Währung fast egal. Von dem Geld würde ich ganz viele Rentenpunkte nachkaufen, damit ich später als Lottomillionär nicht zum Amt muß. Dort würde man mich womöglich zwingen, meine Wohnung in New York (die ich mir von den Lottomillionen als Alterssicherung kaufen würde) zu veräußern. Und dann wäre ich im Grunde keinen Schritt weiter als jetzt, wo ich auch keine Wohnung in New York habe.

So weitgreifend und selbstbeleuchtend analysiere ich die Lage und entspanne mich zur Guten Nacht mit den Fällen von Murdoch Mysteries. Die kanadische Serie geht im Heimatland schon in die 13. Staffel (dazu gibt es ein paar "Christmas-Specials" und frühere, zum Teil anders besetzte TV-Filme). "Sleuthing in the Age of Invention" heißt die Tag-Line, die Serie spielt im Toronto von 1899 und ist durchsetzt mit gesellschaftlichen, emanzipatorischen Umbrüchen wie Frauenbewegung, Arbeiterbewegung, Royalismus und Anarchismus, einer Vielzahl weiterer neuer Denkweisen wie Spiritismus, aber auch (anachronistischer) moderner Malerei wie den Kubismus, und eben den vielen technischen Erfindungen der viktorianischen Zeit. Da fährt ein frühes Elektrofahrzeug ein Rennen gegen einen Wagen von Henry Ford, gibt es den Phonographen zur Stimmaufzeichnung, das Telefon, den Kampf zwischen Tesla und dem finsteren Edison und dem zwischen dem Pferd und dem Fahrrad.

Detective Murdoch fährt Fahrrad und ist auf seiner Dienststelle (Obacht!) schräg angesehen, weil er seine Zeit damit "vertrödelt", Bluttest einzuführen, Fingerabdrücke zu sammeln, UV-Leuchten (um Blutspuren sichtbar zu machen) und Photoapparate zur Beweissicherung einzusetzen - als ginge klassische Polizeiarbeit nicht auch ohne dieses ganze obskure Zeugs (so sein Chef).

An seiner Seite (herzseitig links) arbeitet eine fesche, sehr emanzipierte (Obacht!) brünette Gerichtsmedizinerin (gespielt von einer australischen Schauspielerin), die Kugeln in Leichen sucht und Organe wiegt und dabei in ihrer Pathologie Schellackplatten mit klassischer Musik auf dem Grammophon spielt. Trotz "big love in the air" kommen die beiden (Obacht!) nicht recht zusammen, auch wenn alle anderen in der Umgebung darüber mit den Augen rollen.

Ab der zweiten Staffel, wenn sich Team und Macher und Schauspieler freigespielt haben, wird es richtig munter, auch wenn es eine B-Serie bleibt, hübsches TV-Niveau halt, nicht so ambitioniert wie Ripper Street oder Coppers. Aber eben vollgepackt mit Anspielungen auf Filme, Romane und populären Mythen (etwa, wenn Murdoch in Klondyke einem Mann namens Jack London den Begriff "call of the wild" vermittelt) und witzigem foreshadowing technologischer Entwicklungen wie etwa der "iMail". In einer frühen, sehr amüsanten Folge wird ein ermordeter Hobbyastroom entdeckt, dessen Studierzimmer voller mysteriöser Zeichnungen von Planetenbahnen und Marsoberflächen ist. Als Murdoch und sein Constable Crabtree nachts die Umgebung untersuchen (ein Bauer hat nämlich Kornkreise auf einen Feldern entdeckt!), gleiten plötzlich (Obacht!) unerklärliche Lichter über den Himmel. Während Crabtree vermutet, es seien (Obacht!) Aliens gelandet, folgt Murdoch der Spur zu einer Scheune und (Achtung, Spoiler!) und entdeckt Männer, die an einem russischen Zeppelin werkeln. Die Emittler werden dabei entdeckt und betäubt - und als sie am nächsten Morgen erwachen, sind (Obacht!) in der Scheune keinerlei Spuren mehr zu entdecken, und ihre Geschichte wird von niemandem geglaubt.

Ich vermute hier eine Anspielung auf eine bekannte US-amerikanische (die aber in Kanada gedreht wurde) TV-Serie, die manche für "soooo 90er" halten. Ich möchte daher ergänzen: "Soooo 1890er!"

>>> Murdoch Mysteries, Trailer

Super 8 | von kid37 um 00:28h | 11 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 18. August 2019


Technik und Gerede



Derzeit packe ich kleine Ideen vorsichtig mit der Pinzette am winzigen Fellkragen und sortiere sie in die freien Mulden von alten Eierkartons. So kommt nichts weg und auch nichts dran. Vielleicht, so lautet eine davon, mache ich ein Magazin. Das wird heißen Technik und Gerede. Vielleicht auch Kultur, Technik & Gerede oder Kulturtechnik und Gerede ("Hiermit beantrage ich Titelschutz in allen Schreibweisen und Variationen"). Man soll da nicht gleich zu Anfang schon alles im Detail zerreden.

Darin geht es zunächst einmal um eine Art Archäologie - "of a past that never was". Vielleicht ein kleiner Essay über Knackser auf Schellackplatten. Oder über die Entfesselung einer statisch gebundenen Performanz von Musik durch den Durchbruch des Grammophons. So wie man heute kein Kino braucht, um einen Film auf dem Mobiltelefon zu sehen. "Spiritismus als vormodernes Speed-Dating" lautet mein erster Beitrag (mit Ektoplasma-Centerfold!). Von der Tonalität her alles - bei aller Schwere der Gedanken - im munteren Plauderton, das Magazin soll schließlich viele Cold-Brew-Coffeetable erreichen und von Menschen gelesen (und gekauft) werden, die sich auch sonst für Hifi-Klumpert und technisches Lebenstilgedöns interessieren. Sich aber auch fragen, was das alles bedeutet für ihr Leben und das der anderen. Im Entertainment-Teil werden nur Stummfilme vorgestellt und Lyrik des Expressionismus, aktuelle Trends in der Plattenkamerafotografie und Stars des Vaudeville.

Ich könnte mir aber auch vorstellen, ein Magazin zu machen, das hieße Affen & Elefanten. Vor ein paar Jahren sah ich auf einer Ausstellung ein brillantes Bild von Gabriel von Max, der vor hundert Jahren gutes Geld mit Gemälden heiliger Frauen, Märtyrerinnen und skeptischer Affen machte. Statt dieses Geld zu sparen, kaufte er, man muß sich die Gesichter vorstellen, obskures altes Zeugs, tote Tiere, Fossilien und Skelette und lebte voller Ekstase wie in einem Museum. Und anstatt mich als Erben einzusetzen, verfiel seine Villa am Starnberger See und soll abgerissen werden (dies ist vielleicht auch schon geschehen), die Sammlung blieb zum Glück erhalten. Von Max hätte ich jedenfalls gerne ein Titelbild für die erste Ausgabe.

Schön und detailreich ist auch der Elefant auf dem Cover (wunderbares Digipack zum Ausklappen, mit Fotos und Texten übrigens) des Albums "Kramuri" der Gebrüder Marx, die hier neulich so nett empfohlen wurden und - Zufall oder nicht - nur ein paar Buchstaben von Gabriel von Max verschoben sind. Die Lebensfreude in deren Texten ist angenehm reduziert ("Als ich das Licht der Welt erblickte/Verließen alle Engel Wien"), die Lieder beklagen den Verfall der Welt ("Mei Gschropp redt wie a Piefke/Und is in Wien geborn/Vü mehr kaunn gor net schiefgeh/I glaub i bin verlorn") und dissen wie in "Scheißnatur" die, äh, Natur ("Du bleda Paradeiser/Warum bist du nur rot?")

Es würde also mehr ein Naturmagazin über das Leben der Tiere und Gewächse, aber alles von unten betrachtet. Nächsten Monat dann Gründer-Gespräch, das muß man ja alles erstmal finanzieren. Mit ohne Geld.

>>> Geräusch des Tages: Gebrüder Marx, Scheissnatur


 


Donnerstag, 8. August 2019


Groszmannssucht in Arkadien



In meinem Erzählband Bei der letzten Zigarette begann es zu regnen habe ich eine handvoll Geschichten über melancholische Groszstadterinnerungen zusammengefaßt, junge Menschen, die nach vorne leben und alte, die das Leben dann von hinten erklären. So im Groszen und Ganzen.

Früher wurde ich von Malern ja so gemalt. Die abgerissenen Köpfe meiner Feinde in der Hand! Heute muß ich mich an Supermarktkassen wegschubsen lassen von jungem, groben Volk. Bald wird man mich auf eine Eisscholle setzen, damit ich ins arktische Meer treibe, denn die Gartenzwergfabrik wird entkernt, alle Menschen müssen raus.

Gut immerhin , daß ich keinen Hang zum Pathos habe, es wäre schlimm um uns alle bestellt. Vor ein paar Jahren hatte ich mal überlegt, nach Düsseldorf zu ziehen, auch eine interessante, mir teilweise merkwürdig sperrig daherkommende Stadt. Am Rhein. Aber dann war die Wetterlage dort leider nichts für mich, ich blieb also hier und dachte weiter grosz vor mich hin. Das Leben ist ja mal so, mal so. Ich sage nur: "First we take Manhattan, then we take Berlin."

Georg Grosz, der alte Groszmaler, hat das ähnlich gehandhabt, nur in umgekehrter Richtung. Das ist in sehr entzückenden, den Stil des Meisters hübsch nachempfundenen Bildern in dieser Comic-Biografie von Lars Fiske beschrieben. Fiske hat zuvor auch schon ein ähnliches Werk über Kurt Schwitters geschaffen (ebenfalls im groszartigen Avant-Verlag erschienen). Politisch scharf, ironisch in der Heldenbeschreibung und angemessen frivol, denn Grosz war da nicht scheu, und seine Modelle auch nicht. Und es waren ähnlich wild bewegte Zeiten.

Ich liege ein wenig in der Sommerhitze flach, fächel mir mit einem Monsterablatt Luft zu und und schüttel den Kopf über meinen Lebenslauf und die passenden Papiere dazu. Aber da gibt es nicht grosz was zu verstehen.

(Lars Fiske: Grosz. Berlin: Avant Verlag, 2019.)


 


Samstag, 3. August 2019


Vienna Calling #7

Wann sind wir endlich daheim?
Wir sind nie daheim!

(Kreisky, "Dow Jones")



Es ist Zeit, Baba zu winken. In Wien macht das, Bitte, bitte!, die Katze Kreisky, für mich ja immer noch die beste Schrammeldiskursrockband Österreichs, da können sich alle Wandas ins Bilderbuch legen. Die Woche ist rum, das Wetter wird besser, denn der Abschied naht. Noch schön in der Sonne am Platz sitzen, Pläne schmieden, Sonnenbrillen rauf- und runterschieben, den Kindern beim Spielen zuschauen. Schauspieler laufen vorbei.



In der inneren Stadt aber stehen die apokalyptischen Reiter. Und, man stelle sich das vor: Wie ein ungeschickter Gast, der beim Hinausgehen die wertvolle chinesische Vase umwirft, stürze ich am letzten Abend die Regierung. Sozusagen. Ein delikates Urlaubsvideo sickert durch, und ein Land hält den Atem an. Hat er das gerade wirklich so gesagt? Mit der letzten Maschine komme ich aus dem Land, ehe hinter mir alles zusammenbricht.

Die magnetische Anziehungskraft der Stadt aber bleibt. Vielleicht sollte ich dort endlich eine Dependance errichten, den ganzen Klumpat in Hamburg zusammenpacken und umsiedeln. Einen Titel tragen, einen Laden erwerben und fortan nur noch Kunst und Bücher verkaufen, abends im Beisl was singen, einen Text vortragen. Das kann doch alles so schwer nicht sein, die drei Mark 50 Schilling zum Leben muß man doch wohl zusammenbekommen. Der Dow Jones zuckt auf und ab, auf nix is' Verlaß, is' nämlich nicht. Da muß man in Bewegung bleiben.

>>> Geräusch des Tages: Kreisky, Dow Jones


 


Donnerstag, 1. August 2019


Vienna Calling #6



Wien ist immer gut gekleidet. Männer halten stets einen Ersatzkragen in der Tasche bereit, die Damen tragen fesch und extravagant vor der Staatsoper oder abends zur Burg auch Klimperbehang. Im Vergleich dazu ist Hamburg leider grau und trostlos oder eben ein Szeneviertel im Kapuzenpulli. Nur Ringelhemden, die gehen immer. Auch ganz ohne Kragen und Klimperbehang.



Ich sag mal nix dazu, aber wenn ich nach Wien komme, hängt man mittlerweile die Ringelstrümpfe raus. Sehr charmant, ich bleibe stoisch, freue mich aber innerlich. Überhaupt die Aufmerksamkeit und Freundlichkeit der Menschen. Grantler kenne ich dort nicht. Das ist eben der sprichwörtliche Wiener Wald: Wie man reinruft... usw. Ebenso stoisch nimmt man dort meine piefkeschen Versuche hin, Weanerisch zu reden. (Kellner spucken mir möglicherweise in die Suppn dafür, aber höflicherweise nie vor meinen Augen.)



Es sind die Widersprüche dieser Stadt, die ich reizvoll finde. Vieles geht mit Augenzwinkern, manches provozierend langsam, die Läden heißen mit weichem B wie ein Kinderabzählreim: Beständig, Bipa, Billa. Manches neu, vieles alt, anderes verborgen. Obskures atmet einen überall überraschend an, im 1. Bezirk gibt es laut Türschild so etwas wie einen "psychoanalytischen Waffengutachter", das kann man sich für Romane nicht ausdenken.

Irgendwo trällert ein Sopran, irgendwo wird laut gekeucht. Irgendwo ist gerade Pensionistentag, irgendwo wird grad gestorben. Vor dem Haus steh'n schwarze Pferde. In Hamburg, der Freien und Abrißstadt, wäre das alles schon entwickelt und entsorgt, umgewandelt in ein Containerlogistikzentrum, ein Musicaltheater, ein Bürokomplex. Erinnerungen macht man besser anderswo.


 


Sonntag, 28. Juli 2019


Vienna Calling #5



Weil ich diesmal irgendwie schlecht zu Fuß war und Wien in den Fängen der Heiligen Eismarie, war mir eher nach Innen und Sitzen. So daß ich dachte, als Buß- und Fürbittgang für innere und äußere Schwäche mache ich mal eine ausgeweitete Kirchentour. Also nicht immer nur Stefansdom, einmal in durch Menschenhände verkeimte Weihwasser tunken, sich an das katholische Erbe erinnern und innere Zwiesprache anzustimmen. Bekanntlich haben aber auch andere Kirchen schöne Opferkerzen, dazu allerlei Prunk und zur Schau gestellte Tafelkunst.



Im katholischen Wien herrscht kirchlich-beschaulich ein anderer Schnack als im protestantischen Hamburg, man sieht - für den reinigenden Schauer - leidende Heilige, durchbohrt, geköpft und verbrannt. Goldene Reliquienschreine, viele Füße, weitere verehrte Gebeine und Fetzen von diesem und jenem, Opferstöcke und Opferkerzen. Dazu gibt es Wlan mit teilweise ganz humorig benannten Routern, Stichwort "Tor zum Himmel" usw. Achtet mal drauf.



Ich habe gar nicht alle geschafft, zumeist aber gut in den Bänken gesessen. Meditiert, den Kopf gehoben und Deckengemälde betrachtet, Seitenflügel und Altararrangements, dazu Orgelproben gehört. Ein eigener Reiseführer würde sich lohnen, in dem der Sitzkomfort der Bänke bewertet wird und auch, ob es neben dem Beichtstuhl auch weitere stille Örtchen gibt. Dominikanerkirche, die üppige Franziskanerkirche, St. Peter, die Votiv-Kirche, ein paar andere kenne ich noch von früheren Besuchen, so wie die Kirche am Steinhof - noch nie aber war ich in der Karlskirche, weil mir das immer zu touristisch oder sonst gerade für den Terminplan nicht passend schien. Man sitzt dort aber, auch das wäre ein Punkt für meinen Reiseführer, sehr schön im Warmen auf den Stufen, wenn die Sonne scheint, und kann den Menschen auf dem Platz zuschauen.


 


Mittwoch, 24. Juli 2019


Vienna Calling #4



Wer die schöne Stadt besucht, tut dies ja meist wegen der herzensschönen Menschen dort, aber oft auch einfach nur wegen der schönen Kunst. Da es auf dem Naschmarkt so leer geworden ist, zeigt man nun auch dort viel Kunst, großformatig und in vielen unterschiedlichen Stilrichtungen.



Man sitzt dann vis-a-vis, brustet und prostet sich zu, singt ein fröhliches Lied zu einem vernünftigen Getränk, sagt "a geh" und meint "komm her", und "angreifen" ist immer noch keine Kriegserklärung. Es sind volksnahe Legendenerzählungen, Heiligentafeln, die Bild für Bild die Stationen erklären, wo St. Tschocherl und die hl. Beisl umherwanderten und Wunder wirkten. Wo zwölf Tschick geraucht und ebenso viele Glaserl gestemmt wurden. Noch heute erzählen die Leute davon.




Wer nicht malen kann, klöppelt Worte aneinander. Oder umgekehrt. Am Ende hilft der Glaube, weshalb es in der schönen Stadt auch so viele Kirchen gibt. Aber davon vielleicht später. Ich mag es ja, wenn es freundlich zugeht in der Welt, Stille statt Geschrei, Blicke statt Besserwisserei. Die Kunst betrachten, staunen, mit der Taschenlampe leuchten. Und anschließend gehst einfach hoam.