Sonntag, 19. Februar 2017


Ein koloriertes Leben



In meinem Debütroman Die Tatzen eines sehr großen Tieres schrieb ich bekanntlich über die Bedeutung des Mysteriums im Alltag. Wie erstaunt war ich, meine eigenen Gedanken in The Secret History of Twin Peaks wiederzufinden, in dem ich heute ein wenig blätterte (dazu: ein verdammt guter Kaffee, leider keinen Kirschkuchen). Da heißt es nämlich: "A wise old man once told me that mystery is the most essential ingredient of life, for the following reason: mystery creates wonder, which leads to curiosity, which in turn provides the ground for our desire to understand who and what we truly are."

Ich las dies mit geheimen Erstaunen, während ich Musik aus meinen neuen Lautsprechern wie neu hörte. Erstmals in meinem akustisch weitgehend schlicht geführten Leben habe ich mir letzten Jahr sogenannte "Lautsprecherboxen" gekauft, also "was Vernünftiges" im für Enthusiasten immer noch unterem Segment. Aber: eine Offenbarung für die Ohren bereits jetzt, schälen sich doch nun plötzlich aus meinen Musikträgern Mysterienklänge heraus, die bislang noch ungehört waren. Auch so ein Wunder im Alltag. Ich könnte nun also im frisch gestärkten weißen und durch silberne Manschettenknöpfe beschlossenem Hemd dasitzen, ein Glas mit Hochprozentigem (gemeint ist natürlich Sauerkrautsaft oder ähnlich gesundes) in der Hand und dufte-dezentem Hifi-Sound lauschen.

Ich tat es für die Wirtschaft, denn das letzte Hemd hat keine Taschen. Die Woche über habe ich überlegt, was eigentlich auf meinem Grabstein stehen soll, denn über alles denkt man nach, nur nie über letzte Dinge. "Da wäre mehr drin gewesen" fand ich am Ende recht passend. Das klingt nach Bilanz, ohne zu pathetisch zu wirken. "Wohltäter", "Er liebte die Menschen" oder "Auch schon tot" hatte ich verworfen. Dazu müßte man mich ein bißchen kennen und vor allem einen Sinn für Humor haben. "Da wäre mehr drin gewesen" hingegen eckt nicht an und beklatscht nicht nur den Stifter, sondern ist auch Moral und Mahnung für die an meinem Grab Vorüberschreitenden. Ist das also auch erledigt.

In unseren nostalgischen Zeiten bin ich gerührt über das kolorierte Leben, wie das früher einmal war. Jacques Henri Lartigue war ja Autodidakt, überraschte aber mit einem reichhaltigen, sehr hübschen Werk von Alltags-, Motorrennen- und Modefotos, die meist in Schwarzweiß gehalten waren. Weniger bekannt sind seine Farbfotos, die von einem entspannten Leben berichten, wie es früher jeder hatte. Warum meine Blumen da den Kopf hängen lassen, weiß ich nicht. Aus Österreich erreichte mich der Rat, die mal über Nacht an der Decke aushängen zu lassen. So eine Art Blumen-Bondage vielleicht. Für die Gelenke ist das ja auch gut, was man deshalb weiß, weil man noch nie eine Fledermaus mit Rückenproblemen entdeckt hat.

Die Kollegin hat meine Schuhe gelobt.


 


Donnerstag, 2. Februar 2017


Weltausstellung 2017

Altlasten sie schieben über den Schnee/
Sie sagen: Ach weh! Ach weh! Ach weh!

(Pieter Bruegel der Ältere:
"Die Jäger im Schnee". 1565)



Liebe ist, so ein altes chinesisches Sprichwort, wie Luftpolsterfolie. Stellst du Altlasten drauf, macht es "plopp", "plopp" und "plopp". Bis die Luft raus ist. Moderne Museumsbewohner wie ich wissen, bei Altlasten machst du innere Transformation, machst du voodoomagnetisch aufgeladene Fetische, einen inneren Flohmarkt - und dann ausgekehrt das Zeug in die herzhygienische Kunstanstalt.



Unser aller Lieblingsgalerie Feinkunst Krüger verwandelten im Januar die Rasselbande Nills Knott, Martin Nill, Gideon Pirx, Patrick Sellmann und Daniel van Eendenburg in die titelgebende Weltausstellung für all jene die 1889 die in Paris verpaßt haben.

Dorstselbst eine Pyramide voller Geheimnisse, eine Wohnzimmerkollektion voller magischer Ritualgegenstände, Skulpturen aus Erinnerung, Dioramen voller Ungeheuerlichkeiten. Bilder mit Fernblick, Tableaus mit Weitsicht, emotionsgeladene Objekte, greifbar und unbegreiflich. Unglaubliche Funde von finsteren Reisen, Vergangenheitsklumpert, neu zusammengefügte Fragmente für einen Fernglasblick in die Zukunft. Einen besseren Start ins neue Jahr hätte man nicht erfinden können. Und hier war alles wahr, und nur dort mußte man gewesen sein. Denn was man im Zeitalter des endlos reproduzierenden Internets nicht spüren kann, ist die Aura der Artefakte.

Weltausstellung. Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 28.1.2017


 


Donnerstag, 26. Januar 2017


"Wir sehen uns in 25 Jahren."



Wenn man sich nach langer Zeit wiedersieht, sollte man gut vorbereitet sein. Die einen werden sagen, das sei aber "so 90er". Als wäre das nicht selbst bereits ein Spruch aus dem letzten Jahrzehnt. Viele andere werden sich kaum noch an was erinnern. Wirklich, heißt es dann. So ist das damals gewesen? Schnell hagelt es hitzige "Niemals!", gefolgt von kruden Beweiskaskaden, die sich in immer wilder verdrehte Behauptungen ondulieren, gezackte Wellen wie der gestreifte Teppich im Red Room. Am Ende eine unversöhnliche Gegenüberstellung von Unterstellungen, Unterlassungen, versehentlich verratene Geheimnisse und halsschlagaderpochende Trotzköpfigkeiten. Während man selber zaghaft denkt: "Aber - I want to believe!"

"Wir sehen uns in 25 Jahren", flüsterte der Geist von Laura Palmer einst im Traum Dale Cooper zu. 25 Jahre sind eine lange Zeit. Welche Liebe hält schon so lange? Na, natürlich die zur schönsten Wasserleiche der TV-Geschichte. Die zum verdammt guten Kaffee, sprechenden Holzscheiten und sehr leisen Gardinenstangen. Zu Taschendiktiergeräten und Kirschkuchen. Sentimentaler Mist! brüllen manche. Gar nicht! antworte ich ruhig und entschieden und auf diese Weise jegliche Diskussion sachlich und überzeugend und zugleich tolerant beendend.

Ich bin eben vorbereitet. Ich lese die geheime Geschichte von Twin Peaks und halte mich bereit für den Mai. Wo die einen gewohnheitsmäßig und beleghaft ihre Steuererklärung machen, andere aber eintauchen werden in die dritte Staffel über die kleine Stadt, die wie ein müde gedachtes Gehirn in jedem Winkel ein dunkles Geheimnis verbirgt.

(Mark Frost. The Secret History of Twin Peaks. New York: Flatiron Books, 2016.)

Super 8 | von kid37 um 23:07h | 9 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 17. Januar 2017


Daddy-o

Manchmal denke ich, mein Bart ist mein einziger Freund. Das ist natürlich Quatsch. Die Kunst ist mein einziger Freund und wurde sträflich vernachlässigt. So habe ich überhaupt noch gar nicht verinnerlicht, daß dieses Jahr wieder eine documenta ist. Die letzte mußte ich ja als einziger hier im Geläuf verpassen, denn da hatte ich ein Theaterengagement als ungnädiger Kranker. Aber nun habe ich mir ein Ziel gesetzt.



Auch im letzten Jahr habe ich einiges an Kunst verpaßt. So ärgere ich mich, daß ich in Wien nicht zu Berlinde de Bruyckere gegangen bin. Da habe ich mich selbst verzaudert. Dabei hat es hier so ein berührendes, sanftes Video dazu gegeben. Ich finde diese Frau jedenfalls sehr beeindruckend, sie hat eine angenehm ruhige Art. Später habe ich in Düsseldorf die sicherlich ebenfalls sehr beeindruckende Jean-Tinguely-Ausstellung mit den großen Maschinen verpaßt. Aber da hatte ich immerhin zum tröstenden Ausgleich und kleine Entschuldigung eine Lebensmittelvergiftung. So einen großen Wurf hat man ja auch nicht jeden Tag. Und im Grunde will so eine peristaltische Entäußerung ja mit einem performativen künstlerischen Akt verglichen sein. Ich denke, Marina Abramović hat bei ihren Aktionen auch nie mehr gelitten.



Versöhnlicher wurde es zum Jahresausklang. Nachdem ich die Eröffnung - um in der quasi erfolgserprobten Serie zu bleiben - ebenfalls verpaßt hatte, habe ich dann immerhin noch die Finissage von der von Herrn Krüger und Heiko Müller wieder ganz wunderbar gestalteten Jahresshow Don't Wake Daddy sehen können. Zwar gab es schon einige Leerstellen an der Wand, bei denen meine überschwengliche Imagination die Lücken füllen mußte. Aber schließlich sollte die Kunst auch hier und da unterm Weihnachtsbaum liegen, da habe ich Verständis. Bei der letztjährigen Ausgabe, der elften bereits, zeigten unter anderem wieder Veteranen wie Ryan Heshka (von dem ich jetzt ein kleines Comic-Abum besitze), Alex Diamond, Femke Hiemstra und Fred Stonehouse, Moki und natürlich Heiko Müller (meist) neue Werke. Ein großer Spaß, und mit großer gesundheitlicher Wirkung: Mir ging es gleich viel besser.

So soll und muß und kann es nicht anders weitergehen dieses Jahr. Ich darf mich nicht selbst beirren. Und schon gar nicht beirren lassen. Es fährt ein Zug zur Wilhelmshöhe.

Don't Wake Daddy XI. Feinkunst Krüger, Hamburg. 6. bis 23.12.2016


 


Sonntag, 8. Januar 2017


Handwritten Tweets



Don’t expect high fidelity. Vinyl, eine der schönen Nachrichten dieser Tage, legt weltweit wieder zu, erfuhr ich im Internet. Das Bild übrigens zeigt einen Blick in meine abendliche Blogsendestube und mein Twitter-Shack. Man sieht mich dort, aufmerksam konzentriert am 140-Zeichen-Sendeempfänger, bereit für die Weltnachrichten. Umso erstaunter war ich, daß die Londoner Geräuschkapelle A Vicious Circle dies so illustrativ für ihr letztes Projekt, das 2016 erschien, verwendet haben. 12 Lieder wurden hierfür veröffentlicht - und zwar, kommen wir zu den spinnwebenfrischen Neuigkeiten - nicht etwa auf diesem neumodischen Vinyl, sondern auf Wachszylindern.

Und bevor wieder jemand überheblich daherkommt mit dies "sei aber so 1887", lese ich in einem Artikel auf A Closer Listen, daß die Technik tatsächlich in jenem Jahr erfunden wurde. Und doch klingt es erstaunlich frisch, wie man hier nämlich nachhören kann. Vielleicht, weil sie es in diesem Raumschiff aufgenommen haben. Handwritten Tweets haben die das Ergebnis genannt. Hätte ich auch drauf kommen können. Ganz mein Humor.

Radau | von kid37 um 22:54h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 7. Januar 2017


Wegen Glatteis geschlossen



Das Bundesamt für Katastrophenschutz hat nun bereits mehrfach dringlich geraten, Vorräte anzulegen. Wenn mal was umfällt oder man selber mal umfällt oder irgendetwas droht, umfallen zu können. Bei Glatteis beispielsweise. Ich habe nun die Mohrrüben durchgezählt und Brot gewogen und Vitamin C in Dosen gefunden und komme zu dem Schluß, in meinem Rapunzelturm bis Montag durchhalten zu können.

Zudem habe ich gemäß dem Rat des Bundesamts in der letzten Woche ausreichend Lesevorräte in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen angelegt. Zu einem meiner zahlreichen Vorsätze für das neue Jahr gehört es nämlich mehr zu lesen als in den letzten mageren Jahren. Das übt Konzentration und Kontemplation und hält einen vom Gelärme sozialer Medien fern.

Wenn ihr keine Spikes habt, zieht euch Wollsocken über die Schuhe.


 


Sonntag, 1. Januar 2017


Neues Jahr, neues Lied



Kürzlich veröffentlichte die bewundernswerte Angeliska einen sehr persönlichen Rückblick auf Instagram. Zehn Jahre, 2006 bis 2016, illustriert durch zwei eindrückliche Vorher-Nachherfotos und eine, durch ihr Blog ja gut bekannte, bewegte Reisebeschreibung im Schnelldurchgang. Das Trauma nach Hurrikan Katrina, ihr Umzug weg von New Orleans, ihre große Liebe, ihr Verlust. Wenn ich zehn Jahre zurückschaue, kann ich im übertragenen Sinn ähnliches beschreiben, und wer kann das nicht. Wie wir uns alle verändert haben. Ich stelle Verluste fest, die schönen Momente, die Veränderungen, teils dramatische, teils gute. An mir, an meinem Umfeld. Immer weitermachen, heißt es ja. The cracks repaired with gold, schreibt Angeliska. Das ist gut. Ich hätte wohl eher "eisern mit ein wenig Rost" gewählt. Wir wollen nicht übertreiben.



Nichts zeigt den Wandel so sehr wie die Wahl der Instrumente. Als ich vor zehn Jahren meine große Karriere als Kunstmaler begann, konnte ich mir gerade so eine Pinseldose aus dem Discounter leisten. Heute, auf dem Markt deutlich arriviert, zeige ich meine Position mit künstlerischem Wohlstandsbauch, vielleicht ein wenig satt schon, aber mit betont unauffällig plazierten, dabei immer bescheiden gebliebenen Hinweisen auf Status und Erfolg.

Jetzt folgt ein neues Jahr, ein neues Lied. A New Song. Vielleicht nicht so unbekümmert unbeschwert wie das unten angefügte kleine Video zum Warpaint-Song. Aber, meine Güte, wir haben ja kein anderes. Es ist für uns alle neu wie ein frisch gekauftes Skizzenbuch. Man darf nur nicht die Silvester-Rituale vergessen. Vor vielen Jahren war ich auf einer Party, und meine Freundin vergaß, um Mitternacht mit mir anzustoßen. Vergessen. So aber kam das Unglück in die Welt! Dann gibt es Leute, die tragen an Silvester keine rote Unterwäsche und wundern sich später, warum da ein ganzes Jahr nichts läuft. Oder sie haben zwischen den Jahren Wäsche gewaschen. Oha. Aber wie sage ich immer: Hauptsache, gesund! Also weitermachen.

>>>Geräusch des Tages: Warpaint, New Song