
Dienstag, 28. Februar 2012
Mit diesen vielen jungen Leuten hier auf einmal wird es langsam unheimlich im Viertel. Diesmal strömten sie zum Kunstveranstaltungsraum (so was gibt es hier auch schon) gleich bei mir ums Eck. Der Giger Hans-Ruedi zeigte dort eine Retrospektive. Von wegen passé also, andererseits - sind nicht gerade junge Leute häufig ganz besonders konservativ? Übermäßig neugierig war ich nicht, hatte ich letztes Jahr erst eine Werkschau in Wien gesehen. Aber wenn schon mal was hier im Stadtteil passiert...
Interessanterweise war es doch nicht die Übernahme der Wiener Ausstellung, die Auswahl in Hamburg war eine andere und zeigte deutlich mehr Skulpturen. Die allerdings wirkten ein wenig fremd, weil sie zum Teil aus ihrem Kontext gerissen waren. So war das patinabesetzte Rückteil eines Müllwagens (Passagen) wenig bedrohlich, aber immerhin für Rostfreunde beeindruckend. Gigers Weiterverarbeitung des Motivs ins Obszöne aber fehlte, ebenso wie bei vielen Bildserien. Kein Hinweis auf indizierte Plattencover, befremdliche biomorph-assoziative Formen und Penisparaden. Definitiv undersexed und ein wenig domestiziert wirkte folglich diese Hamburger Werkschau eines großen Verstörungskünstlers. Auch die tragische Geschichte um die einstige Lebensgefährtin, Muse und Model Li Tobler blieb ausgeklammert. Die Schauspielerin hatte sich 1975 mit gerade einmal 27 Jahren erschossen und ließ einen erschütterten Giger zurück. Dieser deutliche Wendepunkt ist immerhin ein weiterer möglicher Schlüssel für Teile seines Werkes, der einer "Retrospektive" gut angestanden hätte. Überhaupt kam die Frühzeit etwas kurz. Die "Atomkinder", Gigers Schülerarbeiten, waren (in Teilen) zu sehen, in Wien gab es darüberhinaus aber auch Dokumente aus frühen Galerie-Zeiten, wo Giger mit aus harten Brotlaiben ausgehölten Schuhen zu Ausstellungen erschien. Dafür gab es das Alien und ein paar andere Monstren, besagte Möbel und viel zu viel hinter Glas. Nicht, daß man bei Airbrushbildern großartig auf Strukturen und Haptik hofft, aber so hermetisch gegen den Alienatem der Besucher geschützt, hätten es auch Posterdrucke sein können.
Die Schau läuft noch bis zum 3. März, wer sie sehen will, muß sich sputen.
Anschließend zur HfBK, diplomierte Kunst anschauen. Im labyrinthischen Gebäude verteilt, zeigte sich großteils ebenso gezähmtes, ganz anders als auf den Jahresaustellungen, wo die Pferdchen freier laufen. Ein, zwei chinesische Malerinnen fielen mir auf, Christin Kaiser bekam darüber hinaus von mir den "Mutpreis", sie hatte gleich das ganze Atelier mit ein paar tausend Litern Wasser geflutet, das teuflische Duo Simon Hehemann und Stefan Vogel, verbrauchten den von ihrer letzten Ausstellung bei Feinkunst Krüger übriggebliebenen Gips und gestalteten einen begehbaren Stalakmitenwald in ihrem Atelierraum. Interessant auch Carsten Bengers Arbeit, weil er dabei die Aktion von The KLF zitierte, die 1994 ihre künstlerischen Einkünfte (eine Million Pfund) auf einer schottischen Insel verbrannten. Heute verbrennen nur noch Nichtkünstler Geld. Das sind dann aber gleich Milliarden.
(H.R. Giger. "Retrospektive". Fabrik der Künste, Hamburg. Bis 3. März 2012; "Absolventenausstellung 2012". HfbK, Hamburg. 23.-26.2.2012)

Sonntag, 26. Februar 2012
Herrlicher Sonnenschein heute, da will man nicht unter der mit schwarzer, viktorianischer Spitze versehenen Marquise Markise liegen, sondern raus, raus, raus. Im experimentellen Selbstversuch, wie sich die allgemeine Wackligkeit und Visuseinschränkung auf dem Rad auswirkt, habe ich mein treues Gefährt ächzend aus dem Winterschlaf geweckt, aufgepumpt und notdürftig saubergewischt. Dabei eine beklemmend-interessante Entdeckung im Radkeller gemacht: Dort, wo bislang nur Baumarkt- und Gerümpelräder standen, hat sich nun ein Raleigh mit Brookssattel dazugesellt. Gentrifizierung allerorten, sie rücken immer näher. Nun, vielleicht sind es ja nette Leute. Vorsichtshalber habe ich mich heute aber mit Helm auf meinen eigenen Brookssattel geschwungen, nicht wegen der neuen Leute, mehr der Situation geschuldet, von der der Konditionseinbruch durch Winterpause und Flachliegen nur bescheidener Teil sind.
Dementsprechend langsam ging es voran, und mächtig verschwitzt, die kleine Runde runter an die Elbe, viel Betrieb bereits am neuen Café, im Frühjahr wird dort kein Durchkommen sein. Mein Tablett, das mal am Rande erwähnt, kann übrigens auch GPS. Ich weiß, ihr habt alle Smartphone oder wie das heißt und kennt das schon lange, ich aber war jetzt doch erstaunt, ein rotes Kreuz (nicht der Sanitätsdienst) auf der Straßenkarte zu entdecken, nur zehn Meter von meinem tatsächlichen Standort entfernt. Was es alles gibt. Und was die jetzt alles über mich wissen! Fast so viel wie ihr.

Samstag, 25. Februar 2012
Die Ratlosigkeit der Ärzte ist immer meßbar an der Frequenz, mit der sie auf die reichhaltige Forschungstätigkeit hinweisen. (Zitat: "Das betrifft oft junge Menschen. Die will man schließlich in Lohn und Brot halten.") Nun bin ich nicht nur erfreut, zu einer jungen Zielgruppe zu gehören, nachdem schon lange Jahre mein als Kokettieren mit dem Alter längst nicht mehr als Kokettieren verstanden wurde (von sogenannten "jungen Leuten" selbstverständlich). Ich habe mein Labor natürlich sofort umgeräumt, um mich fortan selbst verstärkt insbesondere der Hirnforschung zuzuwenden. Schon allein, um nicht nur in Lohn und Brot, sondern auch in Bewegung zu bleiben.
Meine neues Role-Model ist ja der liebe Dr. Finkelstein, wir erinnern uns, der geniale und gutherzige Wissenschaftler, der von der bösen Sally so gequält wurde. Derzeit aber hänge ich eher noch wie Fox Mulder über La Science des Monstres, ein exquisites und reich bebildertes Fachbuch von 1948, das mir zusammen mit vielen Genesungswünschen überreicht wurde (Großen Dank nochmal!). Daß mein Französisch gleich mancher Nervenbahnen quasi eingerostet und ziemlich unbrauchbar geworden ist, nehme ich nur als geringes Hindernis war. Mit Hilfe eines alten Anatomiebuches fahre ich die roten und blauen Linien wie auf einem Schnittmusterbogen nach, vergleiche die Bezeichnungen, rate die Bedeutung (bin doch erstaunt, wie dick so ein Ischiasnerv sein kann) und vergleiche es mit den am Bauch zusammengewachsenen Skeletten und einäugigen Wesen in La Science des Monstres. Da Tierversuche ja böse sind, werde ich meine Versuchsreihen an Hülsenfrüchten vornehmen. Das nämlich waren in der Grundschule (1948ff.) die ersten Versuche, an die ich mich erinnere. Erbsen und Bohnen auf einer Untertasse keimen lassen, mal bedeckt, mal unbedeckt.
Wer sich medizinisch schick bedecken möchte (super Überleitung, ein Ergebnis meiner Reizstromexperimente) werfe bitte mal einen unentzündeten Blick auf das Projekt von Suzanne Lee. Die forscht am berühmten Londoner Saint Martins über Kleidung aus Zellkulturen. Nachwachsende Unterhosen und echte "Haut" Couture, ganz faszinierend.
(Étienne Wolff. La Science Des Monstres. Paris: Gallimard, 1948.)

Mittwoch, 22. Februar 2012
Manchmal, beim frei-flottierenden Rumdenken, wenn einem die Gedanken wie vom Leinenzwang befreite junge Hunde durch die Büsche springen, fallen einen querasssoziierte Synapsenfunken an ("Die wollen nur spielen!") und lenken den Blick auf die Vergangenheit. Was macht eigentlich... leitet sich dann oft eine suchende Erinnerung wie die an verflossene Liebschaften ein. Die Mary, die Susi, die Jane, man denkt sich Och oder Hoffentlich ruft die nie mehr an oder denkt ans Rechnungsbuch und erinnert die offenen Posten.
Ähnlich räumt man auch anderen Vergangenen nach. Ich meine, wo wir schon über Verflossene reden, was macht eigentlich der Borkenkäfer? Einst präsent wie sonst nur eine stürmische Liebschaft, hört man vom ihm genau wie von seinem älteren Bruder Das Waldsterben eigentlich nichts mehr. Hinweggewaschen wie ein Grauschleier, von Mutti vielleicht oder vom sauren Regen, auch so ein vergessenes Phänomen, das schlaflose Nächte uns zu bereiten in den 80ern auf jedes Jugendzimmerdach tröpfelte.
Was bleibt, ist meist nur Rost, malerisch verrotteter Rest. Eine Transformation wie sonst nur im Tierreich, die im Verlassen des Raupenstadiums alte Blechbüchsen in bunte Schmetterlinge verwandeln kann. David Maisel fotografiert so was, es sind Metalldosen, in denen die kremierten Überreste verstorbener Patienten einer psychiatrischen Anstalt aufbewahrt werden. Jahre in der feuchten, sogenannten "Bibliothek" haben den Gefäßen zugesetzt. Häßlicher sind sie nicht geworden.
via ICP Library

Samstag, 18. Februar 2012
Beim letzten Mal wurden nicht alle Schnitte gemacht, also mußte ich die Tage noch mal in mein zweites Wohnzimmer. Mittlerweile kenne ich mich ja gut aus, die Assistentin routiniert, sie legt mir eine Decke über, während ich mir fast ebenso routiniert den Lärmschutz zurechtrücke, sie will mich schon reinschieben, ich frage "Kontrastmittel?" - ach ja, stimmt, sie zieht mich zurück und legt mir noch schnell einen Zugang. Ich mag diese Teamarbeit, das efffiziente Hand-in-Hand, ohne große Worte und Erklärungen. Auch innendrin fühle ich mich bald heimisch, eigentlich könnte ich mir kleine Fotos an die Röhrenwände pinnen, ein Poster von Bananananamanamananramanana vielleicht. Während diese Industrial-Rhythmen durch die Kopfhörer schreddern, habe ich Zeit für eine kurze Rückbesinnung:
So traf ja neulich schon Besuch aus Berlin ein, sie kommen vielleicht, um sich satt zu essen oder abends mal auszugehen. Wie gut, daß bei Herrn Krüger noch lange Licht ist. Hold The Line heißt die aktuelle Gruppenausstellung. Am Eröffnungsabend beweist sich, wie vorausschauend es war, größere Räumlichkeiten zu beziehen. Bald nämlich müssen etliche Besucher geduldig vor der Türe warten, sie trotzen der Kälte, denn sie wissen, die Kunst wird ihre Herzen wärmen.
Eine Großskulptur von Ellen Sturm dominiert den Raum, eine gemütlich ausgestreckte Nana, der man verstohlen auf die geheime Stelle zwischen den Augenbrauen schaut, während man sich beschämt erinnert, bei den täglichen physiotherapeutischen Übungen geschludert zu haben. Heiko Müller zeigt bedrohliche Waldszenen, ein Bambi in Gefahr, den Jägern blitzt der Wahn aus den Augen, Klaus Waschk, der verbindende Hochschullehrer, brachte die Künstler zusammen und in seinen Zeichnungen das Figurenensemble eines George Grosz in die Hamburger Kohlhöfe. Beachtung verdient das Gewächshaus von Gesa Lange. Fast hätte ich es nämlich übersehen, weil mich der Shabby Chic des alternden Tomatenschutzraums schon genug begeisterte. Aber meine Begleitung wies auf das Atmen und Beben hin. Der aufgeschüttete Boden im Kulturhaus nämlich bewegt sich, pulst und pumpt gar unheimlich, man wartet auf das verräterische Herz, das sich mit einem Schrei freilegt, zum Glück drängt keine Hand im billigen Effekt ins Freie, spritzt keine Flüssigkeit hinaus. Vielleicht, so mutmaße ich, liegt darunten die Braut, Uma Thurman kämpft sich mit der Fünf-Finger-Technik aus dem Sarg und wird gleich im gelben Trainingsanzug durch die Menge brechen. Nichts von alledem aber geschieht, wir beobachten gebannt, überspielen unsere Angst mit amüsiertem Kunstbildungsbürgerlächeln, beobachten argwöhnisch die Wellen, das Toben unter der Erde, während ich mir in der Hosentasche vorsichtshalber meine Wohnungsschlüssel wie einen Schlagring zwischen die Finger stecke. Ich meine, man weiß ja nie, ist eine große Stadt hier und draußen schon dunkel!
Weiter dann ins Nachtcafé, glitzernde Lichter und kilometerweitführendes Reden, ruckzuck drei Uhr, endlich wieder Abende ohne Sperrstunde, ohne Nachtschwester. Simulierter Normalverlauf, auch wenn so vieles so anders ist.
("Hold The Line". Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 25. Februar 2012.)

Freitag, 17. Februar 2012
... am Grab des Elektrolahundes
und der Nachrichtensprecher
trägt ein ehrliches Gesicht.
Die Tragödie und ihre Wiederkehr als Farce. Die letzten Koordinaten des Ernsthaften liegen verborgen und tief in der eigenen Knochenhaut. Tage zurückerinnern, als die Erde noch stillstand, Atem halten, die Höhe der Fahnen auf ihren Masten kontrollieren. Heute im verfratzten Grand Guignol, burlesken Kasperletheater nur noch die Kermit-Show ("Applaus! Applaus! Applaus!"). Das Unerhörte vom Umzugswagen eines Karnevals geworfen, ein schunkelndes Land auf Anfang, ein einstürzender Neubau (die tanzenden Türme!).
Bereitstehen, wenn et Trömmelche jeht.

Sonntag, 12. Februar 2012
Ach, die seligen 80er. Die ersten Jahre waren nur Graubrotgraubärgrauzeit, dann schien penetrant die Sonne, selbst in den Videoclips von Siouxsie and the Banshees. Parallel gab es diese merkwürdige Wendung, als nämlich diese drei Mädels von Bananananamramanamana aus der Punk- und später Fun Boy Three-Ecke in die Plastikschmiede von Stock-Aitken-Waterman gerieten, deren kaugummiklebenden Kirmesmusik ab der Mitte dieses schulterverstärkten Jahrzehnts keiner mehr entkommen konnte. Schönes Beispiel hier. Die fröhlichen Drei scheren sich nicht um Playback, auch die Choreographie sitzt nicht bei allen richtig. Dabei ist die prinzipiell Verkehrspolizisten-easy: bei "heard" faßt man sich an die Ohren, bei "heart" legt man die Hände auf die Brust. Zwischendrin, ich bin in Tanzbegriffen nicht so sattelfest, gibt es den Hampelmann, die holländische Poldermühle, den händeflatternden Schwalbenschwarm und die Cowboypistolen - und dann zum Schluß den Kopf zurück, einen Griff in die Big hair-Frisur und dabei einen dieser neonbunten 80er-Jahre-Cocktails gurgeln. Aber so waren die Zeiten, selbst ich trug damals noch kurze Hosen. Man hatte ja alles noch vor sich, zum Beispiel die Mädels von Banananamaramanamarama.
Zwischen den Wellen (wir sind jetzt in der Jetzt-Zeit), in denen ich allerlei fehlgeleiteten, wie elektrischen Strom durch meinen Körper rauschenden Nervenimpulsen nachlausche, mache ich sogenannte physiotherapeutische Übungen. Da dachte ich, schau doch mal, was die Damen von Bananamarnamanranamana heute so machen, ich bin ja der Bill Murray der internationalen Karaokebühnen, ich mache denen das einfach nach. Das sah hier zuerst auch ganz leicht aus, Arme nach links, Arme nach rechts, wedel, wedel, Schwalbenschwarm. Aber irgendwie, ich muß das zerknirscht zugeben, sind die immer schon gerüchteweise (Rumour!) als extrem trinkfest geltenden Fräuleins mir voraus, dabei sind die keinen Tag älter als ich.
Falls ich doch noch meine große Jubiläumsparty mache in 13 Jahren, lade ich die ein, mit Sonic Youth wird es eh sicher schwierig werden. Dann aber Polonaise und alle zusammen.
