
Montag, 4. April 2011
Atom, Atom, ick hör dir schon: Weil unser Land ja so kernkraftsicher ist, sorgt eine nukleare Lappalie derzeit für ein wenig Aufregung. Aus der ehemaligen Kernforschungsanstalt in Jülich nämlich werden 2285 Graphitkugeln vermißt. Bei den Mittelstrahl-emittierenden Bällen handelt es sich um "ausgebrannte" Brennelemente aus einem dieser Kugelhaufenreaktoren, die mal als große Zukunft galten, bis man feststellte, daß der große Plan 9 der Energiegewinnung seine Tücken hatte.
Nun, ein knappes Vierteljahrhundert später, stellt man also fest, nanü, da fehlen ja gut und gerne 2000 von diesen etwas über tennisballgroßen Kugeln, wo sind sie nur, wo sind sie nur, Kurt, hast du die vielleicht in den Keller...? Nicht? Ah ja, hier müssen irgendwo Papiere sein, wo habe ich sie nur... oder doch in dieser großen Kiste, Dieter, erinnerst du dich noch an die Graphitkugeln, die hier immer rumlagen... können doch nicht weg sein... gestern waren die doch noch... Na ja, man kennt das - man sucht und sucht und am Ende sitzt die Brille die ganze Zeit auf der Nase.
Die schwarzen Graphitkugeln werden jetzt im Zwischenlager vermutet, ganz genau weiß man es wohl nicht. Nun dränge ich mich ungern ganz nach vorne, aber vielleicht könnte ich hier weiterhelfen. Vielleicht nämlich wurden die einfach hier und da eingesteckt.
Anfang der 1980er Jahre nämlich verschleppte uns unser Geografielehrer auf Exkursion in besagtes Kernforschungszentrum. Der Herr Lehrer war ein überzeugter Schüler der "Alles sicher, vor allem in Deutschland und selbst wenn etwas passiert, wird es sofort vermeldet"-Sekte und beseelt davon, etwas von diesem wahren Glauben auch auf uns junge Menschen herabtropfen zu lassen, die wir allzu häufig in Diskussionsrunden von sogenannten "Gefahren" und "Zweifeln" sprachen. Die Erinnerungen an diesen Ausflug sind zugegebenermaßen spärlich und verwischt, ich träumte bei diesen regelmäßigen Fahrten zu irgendwelchen Chemiewerken oder Kläranlagen meist vor mich hin, holte im Stehen Schlaf nach oder schaute im Bus auf die Felder links und rechts der Autobahnen und dachte, hoffentlich halten wir nie an, so könnte ich endlos weiterfahren.
Jedenfalls wurde unsere in der Mehrzahl in schäbige olivgrüne Parkas gekleidete, vor sich hinpubertierende Truppe von den Herren Kernphysikern in die Wunder der Hochtechnologie eingewiesen, die Vorzüge eines Kugelhaufens gegenüber Siedewasser erklärt und die kleinkindsichere Ungefährlichkeit der Kernkraft auf eindrucksvolle Weise demonstriert. Da lagen nämlich tatsächlich einige von diesen schwarzen Nuklearkugeln herum und der Herr Oberkernphysiker erklärte, wenn die ausgebrannt seien, dann seien die quasi "leer", die Radioaktivität also weg, futsch, was zurückblieb, sei harmlos wie eine Bocciakugel. Leider ist meine Erinnerung an die konkreten Erklärungen ebenso futsch, ich weiß aber noch wie ich versuchte, auf meiner Stirne mittels Faltenwurf ein Fragezeichen zu formulieren.
Dann wurden wir aufgefordert, eine solche Kugel ruhig mal anzufassen, es wurden (eine? mehrere?) in die Gruppe gereicht, die Bälle wanderten von Hand zu Hand, einige machten die üblichen Faxen, taten so als wären die ungeheuer schwer oder würden ihren auf den Boden fallen, es wurde gegrinst und gescherzt und "Aha" gemacht, und ich sagte, als die Reihe an mich kam, diesen Kelch setze ich mal aus, ich faß' die Dinger nicht an. (Ein Satz, den man im Leben in allen möglichen Situationen gebrauchen kann.)
Heute denke ich natürlich, daß alles tatsächlich so harmlos war, wie es auch unser Lehrer immer und immer wieder erklärt hat. Es waren sicher Dummys oder eine von diesen angeblich "tauben" Bällen, die dazugemischt wurden, vielleicht kann das einer der mitlesenden Kernphysiker etwas besser erklären. Andererseits, es waren ja Physiker, und wenn jene die Erwachsenenversion unserer Leistungskursler darstellten, deren unbekümmerte Experimentierfreude von einer gewissen pubertären Lebensverachtung geprägt war, die nur von der Nachlässigkeit ihrer Frisuren übertroffen wurde, dann... weiß ich es auch nicht.
Jedenfalls, zurück zu den 2285 Kugeln. Ich weiß wirklich nicht mehr, ob wirklich alle rumgereichten Kugeln den Weg zurück nach vorne fanden. Ich meine, wir hatten ja damals nichts, wir bekamen noch nicht einmal Kugelschreiber oder Notizblöcke, Buttons oder Schlüsselbänder zur Erinnerung an diesen aufregenden Tag im Kugelhaufen - was, wenn Schulklasse um Schulklasse sich andere Andenken mitgenommen haben? Jetzt nur mal so. In den Raum gestellt.

Sonntag, 3. April 2011
23° - Wie ein plötzlich aufplatzender Riß im Lack durchbrach ein Vorgeschmack auf Sommer den kaum entfernten Winterdreck, die Schuhe also schlurften über den Gehsteig durch Reste von Splitt und Sand, mit dem erst kürzlich noch das Glatteis stumpf gemacht wurde, frisch nachtätowierte Oberarme staken bleich und entzündet aus noch frischer gewaschenen T-Shirt-Ärmeln, Mädchen versteckten ihre übernächtigten Augen hinter dicken Sonnenbrillen, verpennte Menschen wunderten sich in gefütterten Übergangsjacken, woher auf einmal diese wie unschuldig aufspielende Temperatur kommen mochte. Kurz: der erste Frühling ist noch nicht einmal da, da witterten manche schon den zweiten.
(Verpaßt aber: die Zwillings-Eröffnung, die Gettys völlig vergessen, aber ich mußte mal wieder den Kopf rausziehen aus all den Vernissagemenschen. Diese Woche ist viel zu tun, Phototriennale in Hamburg, und ich habe natürlich überhaupt keine Zeit.)
Denn ich bekomme die Worte immer noch nicht zu Papier. So viele Erinnerungen gilt es zu ordnen. Wie wir irgendwo in Frankreich durch die Nacht fuhren, Sigur Rós in diesem altem Discman, den ich auf das Armaturenbrett geklebt hatte, ich sagte, ich führe nachts am liebsten und träumte, während du auf dem Beifahrersitz schliefst. Ich drehte die Musik schließlich lauter, weil mir niemand mehr antwortete und dachte, eingehüllt in eine Wolke aus Klang wie in einer glänzenden Rettungsdecke, toll, ich kann die Seitenbegrenzungen nicht mehr sehen, dieser kleine Suzuki hat doch tatsächlich soeben wie auf Schmetterlingsflügeln die Fahrbahn verlassen, schwebt durch die Nacht, gleitet wie ein rotlackierter Tänzer in eine interstellare Umlaufbahn, und ich sagte wie ein huldvoller Galan, der die ersten Blumen des Jahres überreicht, schau mal, die Sterne da links und auch die da rechts, die schenke ich alle dir. Dann aber kam die Mautstation, und du sagtest, aus dem Schlummer erwacht, man müsse doch im Leben echt für alles bezahlen.
>>> Geräusch des Tages: PJ Harvey, Silence

Freitag, 1. April 2011
...ich hab' gar kein Blog.

Mittwoch, 30. März 2011
Ganz in der Nähe dieser alten Seifenfabrik ("Hoho, mein Junge. Da machen sie Seife aus alten Knochen!") bin ich aufgewachsen. Manchmal wehte der schwermütig parfümierte Geruch herüber ("Das ist gute Seife", sagte Frau Mutter) und hing wie ein klebriges Spinnennetz in der feuchten Luft, in dem sich die ganz kleinen Tiere und unbrave Kinder verfangen konnten. An der Schwarzbach saß die Fabrik, eine schmutzgefärbte schnurgerade Straße mit düsteren Hausfassaden, "genau eintausend Meter lang", so das drohende Raunen der gichtigen Männer, die, Männer wie wir!, den ganzen Tag über unten am Büdchen standen und heiser in braune Glasflaschen sprachen.
Lars von Trier benutzte die zerfledderte Fabrik als einen Drehort für Antichrist, ich hätte ihm die Stelle verraten können.

Montag, 28. März 2011
Den kühlen Wind in die Gardinen lassen, breit geöffnete Fenster, den ersten Kaffee ins Licht halten, mit den nackten Füßen einen Sonnenfleck auf dem Fußboden suchen, Agnes Obel singt etwas dazu. Ein Reklamemoment, ein Sonntagmorgen nach einer zu kurz geschraubten Nacht, Zeitumstellung, eine kleines Bier in einer noch kleineren Bar, verstreute Menschen in der U-Bahn, vier Uhr, fünf Uhr oder sechs, man rät und rätselt und malt sich eine eigene Zeit.
Die Energie kommt dieser Tage nicht mehr aus der Steckdose. Auf dem Rad kurbel ich ein paar Kilometer hinunter bis über die Schleuse, am kleinem Landhaus vorbei, gegen das nun doch so vieles spricht. Zu Hause wartet Arbeit, lesen will ich, einen waghalsigen Brief formulieren, umschalten vielleicht, abschalten. Den Kopf zum Träumen unter das Kissen schieben, zum Weinen vielleicht oder Schlafen, das Ticken der zu spät verstellten Uhren dabei wie ein achtlos schlagendes Metronom. Beim Lesen deines Briefes hatte ich gar nicht gemerkt, wie das Papier mir in die Finger schnitt.
Im Mund berge ich etwas Dunkles, die Zähne verfärbt, Staub auf der Zunge, ich lasse den Wind hineinpfeifen, in den knirschenden Ritzen wühlen, Blut hinausspülen, mir Worte hineinlegen, die ich später, zurück am Schreibtisch vergessen haben werde.
>>> Geräusch des Tages: Agnes Obel, Close Watch

Freitag, 25. März 2011
Und wie sie da so sitzt mit ihrem Miniverstärker auf dem Schoß wie ein vergessenes Fräulein mit abgeschabter Kunstlederhandtasche. Man möchte ihr sofort eine Blume schenken, eine neue Tasche oder ein selbstgeschmiertes Butterbrot.
Als ich heute morgen am Stutzflügel saß und ein paar Mollakkorde klimperte, dachte ich an all die anderen Sentimentalreisenden in den Wohnwagen und Eisenbahnwaggons, an den Schreibtischen und Datensammelstationen. Wie einzelne langsamer gehen, still stehenbleiben, gesichtslos, mundlos, augenlos. Wie hingetuscht mit flüchtiger Hand, dunkle Silhouetten auf den schwarzen und weißen Streifen eines Fußgängerüberwegs. Schmutzige Finger, die über eine Tonleiter huschen.

Dienstag, 22. März 2011
Till you've had that mood indigo.
(Nina Simone, "Mood Indigo")
Aus der ehemaligen Kronkolonie fanden heute diese herzzerschmelzenden Untersetzer zu mir, eines dieser Mitbringsel, die man mir schenkt, nur um sich mit diebischer Freude das Zerfließen meiner in Containment-Stahl gegossenen Gesichtszüge vorzustellen. Da ist Metall drum. Ohne Rost. Und was Glänzendes drauf. Und ich kann die natürlich nicht benutzen. Nachher macht mir da einer was dran! Die kommen unter Glas.
Für gut.
>>> Geräusch des Tages, *
