
Samstag, 9. Oktober 2010
That something has been lost.
(Smashing Pumpkins, "Perfect")
Nicht wahr, ist doch so. Ticker, ticker, das neue System wird verkündet und einer fragt, wo bleiben die Schreibmaschinengeräusche. Wir sind doch so daran gewöhnt, wie die Affen, die das 37. Stück von Shakespeare schreiben. Ava.
You'll be a lover in my bed and a gun to my head. Ehrlich, das heißt so. Tick. Tick. Wenn die Verstärker nicht richtig geerdet sind, spürt man einen kleinen elektrischen Schlag, der von den Saiten springt. Das 50-Hz-Brummen, wenn man das Kabel einsteckt, das Kratzen der Regler, die viel zu lange nicht bewegt wurden. So müssen sich Gelenke anfühlen.
So müssen sich alte Gefühle anfühlen, die man in neue Richtungen lenkt. Die Woche über glaube ich, wieder in der Pathologie zu arbeiten, wie damals im Nebenjob im Studium. Wie die Ärzte über ihren Präparaten hockten, fasziniert von Epithelien, Kongo-Rot-Färbungen und Zellabstrichen, die längst nichts mehr mit Menschen zu tun hatten. Meine Kollegen sezieren, pathologisieren, suchen nach Schwachpunkten, prüfen, ob mit genügend Sicherheitsabstand im Gesunden geschnitten wurde, breiten die einzelnen Präparate vor sich auf den Untersuchungstischen aus, bis sie das Ganze nicht mehr sehen. Freitags stehle ich mich hinaus und gehe hinüber zur Geburtsstation, zähle die Zehen, die kleinen Fehler, höre das Geschrei und wünsche allen, wenigstens 33 zu werden und dann noch vier.
Was wir für eine Zeit hatten. Die einzelnen Momente, die wie Früchte vor uns hingen. Wie wir uns manchmal nicht trauten zu essen, wie wir manchmal aßen wie die Tiere, nackt, wie manchmal so viel Dunkelheit war. Wie wir unsere Tätowierungen leckten, verschwitzte T-Shirts und Unterarme, auf denen die Härchen senkrecht standen.
Wie keine Hilfe kam. Die Stille der blauen Lichter in der Nacht, der Geruch von Ozon und zerborstenem Metall und das Mädchen, das weinte.
Wie ich aus dem Auto stieg, unter Tränen, und du sagtest, ich dich auch. Wie meine Knie weich waren wie die ganz dicken Turnmatten und die Matten hart wie Beton. Wie man immer hinfiel. Voller Trotz.
Wie ich nie weiß, wie ich es zu Ende bringen soll. Wie ich nicht mehr weiß, ob die Puzzleteile, die ich streute, noch aus einem einzigen Spiel stammen.
>>> Geräusch des Tages: Smashing Pumpkins, Stand Inside Your Love

Donnerstag, 7. Oktober 2010
Wenige Tage erst, so scheint es mir, bin ich aus dem kurzen Urlaub zurück. Und muß mich schon wieder setzen. Bevor ich losfuhr, hielt ich alles für gut eingetütet, auf den Weg gebracht, in trockene Tücher und Salz gewickelt wie einen portugiesischen Stockfisch (an den ich neulich bei der Kaltmamsell erinnert wurde). Bei meiner Rückkehr stellte ich fest, daß ich Haken und Ösen vergessen hatte. Streitigkeiten, Hadern und unwirsche Worte und Gedanken, die ich selber hatte, und nun ist auch noch meine Kamera kaputt. Ich glaube, ich muß noch einmal durchatmen, ruhig sitzen, in die Herbstsonne ein zwinkerndes Auge werfen, ein paar ruhige Lieder hören oder nicht allein in die Pilze gehen.
Entspannung helfe gegen meine Schlafstörungen, meinte die Kollegin, ich dachte, höhö, und brachte meinen Blutdruck mit dem Lesen eines Artikel über die sogenannte Hamburger Kulturpolitik in der Zeit schon wieder nach oben. Museen schließen, Theater zerschlagen heißen die Titelstücke im Herbstprogramm in Hamburg, dafür - der Erste Bürgermeister, von den Hamburgern nicht einmal gewählt, wünscht es so - wird die Blaskapelle des Polizeiorchesters erhalten.
Man könnte dies für einen absurden Witz halten, der auf dem nächsten fröhlichen Stuttgarter Weinfest auf dem Rathausmarkt mit derben Knuffen und erhobenen Gläsern zum Hum-Ta-Taa der uniformierten Bläser herausposaunt wird. Allein, die meinen es ernst. In der Krise zeigt Hamburgs Regierung ihr wahres Gesicht. Es ist das Pfeffersackgesicht des selbstherrlichen, an Renommiersucht gescheiterten Geizhalses – der nicht mal ordentlich rechnen kann schreibt die Zeit-Autorin. In der Tat ist es der immer noch schwerreichen Hansestadt möglich, Milliarden in eine marode Landesbank zu stecken und Hunderte Millionen in sogenannte Leuchtturmprojekte, dafür aber Gelder für Bücherhallen, Bildungsinitiativen und Kulturprojekten einzusparen. Bis dann irgendwann wieder von "Integration" und "sozialen Projekten" die Rede sein wird, wenn die grünen Vorgärten erzittern.
Susanne Lothar vergleicht Hamburg im Abendblatt mit Wuppertal, wird dort bekanntlich das Schauspielhaus auch schon eingespart. Von der CDU hat man nun kulturinteressierte Fernsicht, konservative Bürgerwerte hin oder her, nicht sonderlich erwartet. Umso schmerzhafter fällt die Schmerzbefreitheit der Hamburger Grünen (GAL) auf. Deren Fraktionsvorsitzender, offenbar eifriger Theatergänger, bescheinigt dem Schauspielhaus in der Bürgerschaft mit beinahe rheinischem Frohsinn Luft nach oben und schlägt vor, "einfach mal die Einahmen zu steigern". Richtig - warum nicht mal Cats aufführen, da sind doch so schöne Lieder drin?
Die GAL-Chefin stellt gutgelaunt in der Mopo ihre themenbezogene Unbelecktheit zur Schau und versteigt sich, ganz Kultur-Top-Checkerin, zu der Behauptung: "Ich kann den Unmut verstehen. Aber in Altona wird das Haus geschlossen, die Sammlung jedoch erhalten." Aber natürlich! Ein Museum ist ja quasi nichts anderes als eine Art Schuhkarton, in dem so staubiger alter Krempel gesammelt wird und den man - wenn Besuch kommt oder der Platz knapp wird - einfach unters Bett schiebt. Daß eine Sammlung nicht davon lebt, daß sie bloß da ist, sozusagen als deiktisches Phänomen, da!da!da - es ist doch alles da, dort drüben!, sondern daß sie didaktisch und historisch aufbereitet wird, gepflegt, erlebbar und gezeigt wird, daß sie nur existiert, wenn sie atmet und nicht nur als Verweis vegetiert, diese simple Erkenntnis ist bei den Grünen in Hamburg nicht angekommen. Vielleicht, weil sie so Grau sind, seit sie Kohlekraftwerke genehmigen und seither eher aus dem Rückrat husten.
Der Versuch, sich als Sportskanone anzubiedern, ging jedenfalls gründlich schief. Man merkt, es gärt in dieser Stadt. Daniel Richter, der jüngst im Abendblatt zitiert wurde mit "Jeder intelligente Hamburger will jetzt weg, auch nach Stade", hat leider recht.
Es ist nicht gut, in den Urlaub zu fahren. Man merkt dann nämlich, wie es im Leben auch sein könnte. Anders. Reduzierter, gesünder, entspannter. Am besten, man bleibt in der Mühle, macht immer weiter und verschafft sich keine Ahnung. Keinen Hauch.

Sonntag, 3. Oktober 2010
Dieses Wochenende war ja der Soul Weekender hier im Northern, dazu noch Filmfest, man weiß bei sowas meist gar nicht, was man zuerst tun soll, vielleicht bleibt man besser zu Hause als zwischen zwei Freßnäpfen zu verhungern. Mir jedenfalls sang gestern Lesley Gore ihr vielleicht wichtigstes Lied ins Ohr, während ich neben einer Lambretta stand und eine Limonade nuckelte.
50 Jahre oder so später sah Lesley Gore übrigens aus wie Barbara Schöneberger, was ein wenig witizg ist, wenn man dieses und jenes bedenkt.
Da nun aber der Sonntag eine gute Laune zeigte, fiel es mir leicht, den präsidialen Ansprachen im Radio zu entfliehen und das Rad Richtung Süden zu lenken. Hier haben sich die Mauern bereits in allen Schattierungen herbstlich gefärbt, wie die Blätter des druidenzertanzten Waldes. Bauzäune und aufgeschüttete Sandhaufen weisen allerdings darauf hin, wie im nächsten Jahr den Resten der Klapprigkeit im Hafen zu Leibe gerückt werden wird. Garten- und Bauaustellungen verlangen nach Präsentation, man wird die letzte Gerümpelecke noch fegen und bunte Girlanden an die Hafenkräne hängen. In den unbekümmerten Grünstreifen indes locken die Pilze; ringelbestrumpfte Hexen könnten hier zu wildem Flug ansetzen, wüßten sie zu Stil und Schande sich bereit. Es ist alles ausgelegt für die Zeit, wenn der große Kürbis kommt.

Freitag, 1. Oktober 2010
Selten nur, also nicht oft, habe ich mir erlaubt, glaube ich jedenfalls, hier anderen Menschen, die nun wirklich frei sind zu leben, wie sie zu leben meinen, einen Ratschlag zu geben. Schon gar nicht, da bin ich mir nun wirklich aber sicher, wenn es um das Thema Kochen geht. Eine Ausnahme sei mir hier und heute erlaubt: Wenn ihr das kochende Nudelwasser über der Spüle abgießt, gießt es euch nicht über die Hand.
(Dieser Ratschlag ist für euch kostenfrei.)

Dienstag, 28. September 2010
Den heutigen Beitrag möchte ich mit der Kühle eines alten Liedes von Wire eröffnen. "Renewed, it fought as if it had a cause to live for. Denied, it learned as if it had sooner been destroyed", heißt es im nur mäßig kryptischen Text über das Hin und Her des Versuchens und Vergehens. Dazu quietschen die Scheibenwischer eines alten Automobils, graue Straßen unter grauem Himmel. Himmel.
Gestern schaute ich noch einmal Stay. Kein Mysterythriller, wie manche behaupten, eher ein Psychodrama über die letzten Sekunden, Minuten maximal, des Lebens, eine Meditation über das Sterben, die Liebe, die Brüche im Ich, kühl durchkalkuliert auf womöglich schweizerische Art. Daher treffen auch die Vergleiche mit Filmen von David Lynch eher schlecht. Stay dekliniert die Doppelgänger-Motivik der Romantik, zitiert Hamlet, Werther und Edgar Allan Poe, ein paar Pfeffer-und-Salz-Erkenntnisse der Psychoanalyse und mixt es mit Spiegelsymbolen, Spiralen, Doppelungen in Zeit und Raum. Eine eher kühle Sache also. Die fortlaufende Erwähnung der "21" (wie in zwei/eins) fällt einem vielleicht erst beim zweiten oder dritten oder 21. Sehen auf, zeigt aber das mathematische Kalkül (no pun intended) der kleinen Studie. Verwirrend ist nur der Trick mit der gefälschten Erzählperspektive, die sich - bis hin zu den gelben Hochwasserhosen von Ewan McGregor - erst im Nachhinein erschließt. Naomi Watts spielt ganz anrührend, immer knapp unter ihren Möglichkeiten, man hofft, daß sie die Kurve in ihrer Karriere noch kriegt.
"Forgive me" heißt der leise Refrain des Films. Das haben wir damals verworfen.
>>> Geräusch des Tages: Wire, Heartbeat

Sonntag, 26. September 2010
...der Türsteher schickt uns heim. (Die Toten Hosen, "Jürgen Englers Party"). Ganz so ist es natürlich nicht gewesen. Für den Erwerb eines Festivaltagestickets hätte ich das einzige Konzert, das mich interessiert hätte, auch besuchen können. Aber auf St. Pauli stehen die Türen bekanntlich immer offen, und so blieb ich einfach in einer Bierpfütze auf der Straße stehen, kaute an der Kordel meines Anoraks und schaute von dort aus zu. Immerhin: Es hätte auch regnen können.
Die Band gab sich ziemlich druckvoll, Peter Hein schien auch nicht gar zu schlecht gelaunt. Leider spielten sie fast nur das neue Album, ausgerechnet "Es geht voran" noch, was von 33 Tagen in Ketten, "Paul ist tot" als Zugabe. Vielleicht ganz gut, sonst wäre ich möglicherweise noch melancholisch geworden vor lauter Nostalgie und hätte den Türstehern die Texte vorgesungen. "...Einkaufsbummel im Erdnußland/Was übrig bleibt wird..." Versteht doch heute eh keiner mehr, insofern ist es gut, wenn alles mit der Zeit geht.
Ich bin samstags eher selten "auf dem Kiez", schon gar nicht auf der Großen Freiheit, die man mittlerweile auch Schinkenstraße nennen könnte oder Ballermann. Eine Trubelmeile für Junggesellen- und Junggesellinnenabschiede, die größte Pest moderner Ausgehtage. Angeheiterte Damen in uniformen T-Shirts ("Braut-Eskorte" oder "Sex-Beraterinnen"), die einem Schnaps mit witzisch-anzüglichen Namen (Stichwort: "Dosenöffner") verkaufen wollen, Dauerlutscher oder Buntstifte. Gibt es auch. Die Hölle muß... anders sein. Wenigstens wird dort nicht dreckig gelacht.
Tagsüber bereits auf der Finissage bei Herrn Krüger gewesen und dann ein wenig Geld auf dem mittlerweile fünften Flatstock-Festival für engagierte Druckgrafik gelassen. Abends dann Komet, den wöchentlichen Passivnikotinspiegel auffrischen zu den dreckigen Sixties-Beats der famosen Miss Organella. Die U-Bahn gefüllt mit Hamburger Kleinkriminellengerede, Digger hier und Digger da, Kiffen und Geld, Kiffen und kein Geld, Schulden, Handy, Abziehen, bei irgendeinem, aber Digger, voll krass ey, vor der Türe stehen. Ich schlummere ein wenig, Kopf an der Scheibe, Das war vor Jahren im Ohr. Aber das hatten sie ja gar nicht gespielt.

Freitag, 24. September 2010
Abends bei der Ausstellungseröffnung hielt der frischgebackene Kultursenator der Hansestadt eine Rede und nutzte die Gelegenheit, ein paar butterweiche Worte über die harten Sparbeschlüsse zu verlieren, die tags zuvor im Senat abgenickt wurden. Rheinisches Motto: Et hätt schlimmer kumme künne! Man müsse an die Kinder und Enkel denken, die später die Zinsen für unsere Schulden ("Und die Elbphilharmonie", murmelte einer, es könnte ich gewesen sein) bezahlen müßten, so wie wir es jetzt schon täten für die Ausgaben und Schulden der 80er Jahre ("Und die Elbphilharmonie", zischte erneut eine Stimme). Jedenfalls: Ein Museum, gerade eben frisch für zwei Millionen renoviert, wird geschlossen, beim Schauspielhaus über eine Million gespart und - Hamburg wird endgültig zum Bäderort - für auswärtige Gäste eine Kurtaxe auf Übernachtungen erhoben. ("Keine Sorge, Hamburger wohnen ja in der Regel hier", so der Senator beifallheischend ins Publikum.)
Der Chef der Deichtorhallen, ebenfalls in so einen dünnstoffigen und leicht stoffelig wirkenden Jungsanzug gekleidet wie der Senator (sie sehen irgendwie aus wie Kämmerer, nicht wie Kunstkümmerer) wollte - ganz diplomatisch - diesen Komplex nicht weiter diskutieren, schießlich galt es, wie er zurecht bemerkte,
Paul Graham zu würdigen. Der britische Fotograf, der wohl letztze Woche Geburtstag hatte, zeigt in Hamburg vielleicht nicht seine allerbesten Bilder (die haben wahrscheinlich seine Galeristen). Als Überblick über seine Art der schmerzhaft schönen Sozialreportage taugen sie doch. Übersichtlich nach Werkgruppen gehängt zeigen sie viel von der müden Tristesse der englischen Provinz, wo unbekümmertes Grün und sich selbst überlassene Menschen aufeinandertreffen, um immergleiche Tage zu erleben. "End of an Age" heißt eine seiner Serien, und diese Stimmung ist es, die über seinen Bildern hängt. Farbe ersetzt bei ihm das klassische Schwarzweiß solcher Fotos und verstärkt nur das Gefühl von monotonem Grau, egal ob sie nordirische Weiden oder Londoner Arbeitsämter zur Thatcher-Zeit zeigen.
Erbaulich also, und - "A Shimmer of Possibility" (Graham) - ein möglicher Ausblick in die Zeit, die folgen wird: "Auf persönlichen Wunsch" des Bürgermeisters, so wußte das Abendblatt gestern zu berichten, wird die Kapelle des Polizeiorchesters erhalten bleiben. Kosten: 1,5 Millionen Euro jährlich. Darauf also ein fröhliches Hum-Ta-Ta, Kulturmetropole Hamburg!
>>> Das Paul-Graham-Archive
>>> Paul Graham bei Artabase
("Paul Graham: Fotografien 1981-2006". Deichtorhallen, Hamburg. Bis 9. Januar 2011)
