
Freitag, 22. Oktober 2010
Wie muß das sein, wenn einem Joe Strummer die ersten Griffe auf der Gitarre zeigt? Da war sie zwölf oder so. Ihre Mutter heiratete später John Lydon, als er schon lange nicht mehr "Rotten" hieß. Ende der 70er ging es von München nach London, und die 15-jährige Ari Up, wie sie sich nannte, gründete mit Freundinnen The Slits, die mit schrägen Geklimpere (das erste, inoffizielle Album klingt wie aus dem Proberaum von Cocorosie mitgeschnitten, ab und an hört man, wie draußen die Hochbahn vorbeirrauscht) und kessen Up-tempo-Reggae-Liedern und feministischen, provokant-witzigen Texten über Ladendiebstahl, erste Liebe und Geschlechterrollen ein vielbeachtetes Gegengewicht zum Testosteronpunk ihrer größeren Brüder wie The Clash und den Pistols waren.
Zum ersten Line-up gehörte noch Budgie, der später als Drummer bei den Banshees anheuerte. Die Slits nahmen nach ihrem auch wegen des freizügigen Coverfotos kontrovers gefeierten Debüts noch ein weiteres Album auf, nach dem Split arbeitete Ari Up unter anderem als Sängerin für Adrien Sherwoods Dub-Projekt New Age Steppers... und verschwand dann in der Weltgeschichte.
Vor ein paar Jahren in Berlin war ich überrascht, als ich an einem Laternenpfahl den kopierten Zettel einer Konzertankündigung las. The Slits sollten tatsächlich in irgendsoeinem Laden auftreten. Der Termin war leider unter der Woche, und nach Hamburg kamen sie nicht. Vor einiger Zeit aber legte Ari Up als DJane irgendwo in der Hansestadt auf, da konnte ich wiederum nicht - und so habe ich sie also zum dritten Mal verpaßt.
Ari Ups Gesang, ihr auffälliger Akzent, die Up-front-Attitüde stachen deutlich heraus - und eines waren die Slits sicher nicht: Gecastete Püppchen oder sonstwie Typical Girls (so der ironische Titel eines ihrer Hits, von denen ich damals viele mitgepfiffen habe). Ihr Auftritt in Derek Jarmans Punkfilm Jubilee zeigt das. "Autos sind begehbar", hieß es damals nicht umsonst.
Ich weiß nicht, ob "hurry up" wirklich ihr Motto war. Beeilt hat sie sich schon: Am Mittwoch ist Ari Up (eigentlich Ariane Daniele Forster) in Los Angeles gestorben. Da war sie 48 Jahre alt.
>>> Geräusch des Tages, The Slits: Typical Girls

Donnerstag, 21. Oktober 2010
Kalte Tage. Irgendwo im Land fiel Schnee. Es wird lange dunkel sein und nur noch Musik, die aus einem winzigen Lautsprecher dringt.

Dienstag, 19. Oktober 2010
Um mich von den regelmäßig drohenden Montagen abzulenken, schaue ich ja sonntags gerne ab und an mal dieses "perfekte" Promi-Dinner, sollte ich in der Nähe eines Fernsehers sein. Sätze wie "Ich als Mädchen, das auch pur Essig trinkt..." oder "Das war ein Blabla-Wein vom Weingut Blabla, da, weiß man, das ist ein guter Wein..." lassen mein Herz schneller klopfen, da möchte ich Steno können oder wenigstens blind tippen wie Frau Gaga. Weingut Blabla! Ich bin ja eingestandenermaßen ein ziemlicher Küchenignorant, kaufe meinen Wein bei Lidl um die Ecke und will mein Achtelwissen auch nicht so vor mir hertragen. Aber Leute! Bitte!
Ich weiß, bestimmte, in bloß mikroskopisch zu erfassenden Mengen verwendete Zutaten bekommt man in hinreichender Qualität auschließlich bei Luigi oder Césare oder diesem kleinen Laden links hintem im Hinterhof, der nur mittwochs zwischen neun und elf und dann noch samstags vormittags geöffnet hat (aber nur bei zunehmendem oder abnehmendem Mond) und für den man durch die halbe Stadt fahren muß - wirklich, ich habe Verständnis dafür, daß es anders nicht geht. Schließlich bestellen Hifi-Enthusiasten ihre spezialvergoldeten Kabel auch nur bei einer kleinen Manufaktur im Allgäu, weil man sonst nichts hören kann, erkennen Vinyl-Fans Pressungen blind am Gewicht und läßt sich so manches Frauenhaar einfach nicht bändigen, hatte nicht Renée oder Silvio seine Schere dran, der aber leider so oft in ParisVenedigBerlin weilt. Wirklich, ich verstehe das. Ganz genau.
Heute zwei lustige Snobs am Tisch ("Da wohnt die auf Mallorca und kommt uns mit Bertolli-Öl" - das war aber auch eine wirklich hübsche Replik auf die Aussage der Gastgeberin, es sei "ja wohl selbstverständlich, ein gutes Öl anbieten zu können". Haha, da habe selbst ich gelacht.) Hübsch auch mitzuverfolgen, wie sich das Quartett untereinander überhaupt nicht ausstehen kann, die eine jedenfalls eckt ein wenig an.
Die Sendung lebt ja davon, daß sich - anders als bei Restauranttester Rach, dem Vertreter der schwarzen Küchenpädagogik - angeblich prominente Menschen aus Film, Bühne und Fernsehen in ihren Küchen zum Deppen machen ("Höhö, dem Dings ist der Auflauf auf den Boden gefallen!"), es handelt sich also um simple Voxlksbelustigung, nicht um eine Kochsendung im eigentlichen Sinne. Die Zitrone schmeckt zitronig, so in etwa. Ich finde dabei interessant zu sehen, wie diese manchmal ja gar nicht so schlechtverdienenden Kulturarbeiter eingerichtet sind. Die Berliner immer so berlinig, 100-Quadratmeter-große Single-Wohnungen, Parkett und Shabby Chic, Hamburg gerne mit Goldrand, im Süden dann irgendwie anders. Ich erinnere mich an die Wohnung von Dunja Rajter. Aber auch die Ritterburg von Nicky ("I bin a bayrisches Cowgirl") war... interessant.
Jedenfalls. Da sitzen dann vier mehr oder weniger sympathische Menschen, also solche wie du und ich, aber öffentlich beschäftigt und reden ganz gewichtig über Dinge, von denen ich zwar keine Ahnung habe, die oft aber auch nicht, und von denen ich meine, man könnte da auch entspannter mit umgehen: "Du kriegst da in Berlin einfach keine frischen Wildkräuter!" - Ja, Himmel! So schlimm! Das habe ich gar nicht gewußt. Leider nutzt da auch kein Care-Paket, denn ehe ich das aus meinem Doppeldecker über der Sexy-Stadt abgeworfen habe, sind die ja schon welk. Kommt doch nach Hamburg, wir haben zwar keine Kultur, nur noch eine Polizei-Blaskapelle, aber sonst ist alles frisch.
Am Ende schütteln dann immer alle Balsamico-Essig-Zierränder über den Teller. Jackson Pollock! rufe ich. Kenn ich, das ist eine gute Marke, da lasse ich keine billigen Kopien gelten.

Sonntag, 17. Oktober 2010
Mit meinen neuen Schuhen (whenever feeling blue...) bin ich ja sehr zufrieden, man kann damit den gefährlichen Katzen entkommen und auch sonst sehr lange wandern. Sollte es von Nöten sein. Im Zeitschriftenhandel darüber nachgedacht, warum man Magazine so in Assoziationsketten auf die Paletten stapelt, aber bitte, vielleicht reicht auch nur mein Englisch so weit habe auch nur ich mir etwas dabei gedacht.
In der U-Bahn dann, Merlix gab in seinem aktuellen Wochenhoroskop das Thema vor, dann eine junge Dame, die mir gegenüber zwei Reihen weiter saß. Sie sah mich immer wieder an, was ich deshalb so genau weiß, weil ich sie immer wieder ansah. Zwischen meinen Versuchen so zu tun, als schaute ich sehr gebannt den sehr banalen Informationen des U-Bahn-TVs zu, dann und wann mal zwei Sekunden länger zurückgeschaut. Die attraktive junge Dame ließ sich nicht beirren, tat überhaupt nicht so als wäre sie von den banalen Informationen des U-Bahn-TV-Bildschirms gebannt und schaute wiederum zwei Sekunden länger zurück. Danach dann (in Echtzeit!) beschlossen, mal ein Auge zuzuzwinkern. (Hoho, Herr Kid, jetzt aber zu Pferd, was? Wenn es dem Esel zu wohl wird...). Kam ja nicht darauf an, ich mußte sowieso aussteigen.
Beim dezidiert als sehr elegent und lässig geplanten Aufstehen mich dann mit Taschen und Tüten fast auf die Fresse gelegt. Ich vermute, es lag an den neuen Schuhen.

Freitag, 15. Oktober 2010
Ein Urlaub soll ja so vieles können: Anregen, Entspannen, Hirnwindungen neu verknüpfen, den Magen mit ungewohnten Speisen verderben. Ahrenshoop, eine Art Worpswede der Ostseeküste, hat nicht den Fehler umliegender Gemeinden gemacht und auch die letzte Bauernwiese mit Ferienhäusern (Stichwort: Anlage) zugebaut. Erst am Ausgang des langgezogenen Dörfchens blinken die Fassaden von Rehaklinik und Bustouristenhotels. Da geht man aber nicht hin, fährt auch besser nicht nachts mit dem Rad dort vorbei, weil einem echauffierte Rentner belehrungsversessen in den Weg springen könnten, entschlossen, mir mit hochrotem Kopf die Nutzungsbedingungen des von Fahrradfahrern und Fußgängern gemeinsam genutzten Bürgersteiges zu erläutern. Ich hielt ihm einfach meine Taschenlampe ins Gesicht und erklärte ruhig: "Sie irren, Monsieur", und war schon wieder weiter, denn die Luft, das muß man mal sagen, ist dort einfach entspannend. Es ist diese milde Mischung aus Kiefernwald, Hagebutte, feuchtem Dünensand und Sonnenöl, die für die meisten eine beruhigende Wirkung entfaltet. Außer für diesen Rentner jetzt.
Dabei steht ja überall, was erlaubt ist und was verboten, was gerne gesehen und was lieber nicht. Irgendwo unterhalb der Steilküste aber findet sich immer ein abgelegenes Fleckchen, das man sich selbst über die Tage gut zurechtliegt und wo vieles ganz gleich ist. Hose, keine Hose, Brille oder Six-Pack, selbst einen Turban könnte man tragen, niemand fände etwas dabei. Abends kann man hübsch am Hafen sitzen, Lichter gucken, ein Bier jonglieren, eine Blondine betrachten. Ein Seemann hat da keine Vorbehalte.
Im Grunde könnte man auch den lang & lieben Tag mit einem Stapel Zeitschriften im Gartenstuhl verbringen, unter einem Strohhut dösen, Rentnerfantasien hegen, wenn einem ein Ball an den Kopf geschossen wird von diesen langhaarigen Strandtypen mit ihren bunten Bändern am Handgelenk. Ich kann da immer ganz ruhig sein, ich habe den Herbst auf meiner Seite. Im Grunde bin ich Nachsaison.

Mittwoch, 13. Oktober 2010
Ojeojeoje! (Dabei heißt die Siegerantwort "Naja Naja", wie in Najaden.) Da hat man so etwas wie ein Lebenswerk geschaffen, und dann kommen geschätzte Kommentatoren daher und zitieren Musikschaffende, daß man denkt, man hätte hier jahrelang schallzersplitternd vor Betonwände gepredigt. Da hilft nur eins: Premium-Content!
Louis, der König der Steilküste an meinem Urlaubsort, zeigte fast jeden Abend stolz im Sonnenuntergang, daß in seinen Stammbaum eine Bergziege hineingemendelt ist. Eifrig und furchtverachtend wie ein junges Böcklein sprung und juchzelte er haarscharf vor und manchmal auch hinter dem messerscharfen Grasrand entlang, hinter dem sich metertief der steile Abgrund zum Strand hin öffnete. Ich glaube, er foppte damit absichtlich die Urlauber, denn immer wieder hatte er sich doch noch in die sandige Wand gekrallt im Versuch, ein paar Schwalben zu erwischen, tauchte dann lässig wieder auf, kopfschüttelnd betrachtet und manchmal erleichtert beschimpft von herzzerklopften Touristen, während er mit einem lässigen Schwenk seiner beiden tischtennisballgroßen Eier breitbeinig zurück ins Gestrüpp stolzierte.
Wie König Lear sitzt man dann oben auf dem Heidekliff, läßt sich nachdenklich Haar und wirre Gedanken zersausen und teilt sein Erbe auf in viele kleine Gischtfontänen.
>>> Geräusch des Tages: DM, Enjoy The Silence

Dienstag, 12. Oktober 2010
In der schlichten Ökonomie des Lebens heißt es, nie mehr abheben als man einzahlt. Wenn man seine Tage unter Menschen verbringt, die an einer Art geistiger Phimose leiden, freut man sich um so mehr auf einen ebenso vertrauensvollen wie beleglosen Abend unter Freunden, wo man Geld, Ansichten und Unterwäsche auch mal auf dem Tisch liegen lassen darf, ohne gleich befürchten zu müssen, am nächsten Tag die Rechnungsprüfer im Haus zu haben.
Wenn die Tage schon morgens vorwarnungslos so aussehen, das Knirschen unter den Schuhsohlen nicht mehr von Kastanien rührt, muß man nach dem ersten oder zweiten Kummergetränk die Papiere neu ordnen, Ablagegespräche führen, die Unterseite des Nur zur Dokumentation-Stempels anhauchen, ihm noch wenigstens einen weiteren Abdruck abpressen, sich mit dem ganzen Gewicht des kraftlosen Körpers durch das Papier, durch die Schreibtischplatte, durch den Betonboden, die Kruste und den ganzen Erdball drücken, damit das auch ja mal gesichert ist in Grund, Boden und Kataster.
Diese Erkenntnis ist elektronisch erstellt, keine Unterschrift nötig. Es gilt alles als quittiert.
