
Samstag, 31. Oktober 2009
Foto © The Cherry Blossom Girl
Heute ist nicht Halloween, sondern Tag der Toten, und da hat sich auch der Herbst endlich zu seiner edelsten Pflicht bekannt. Feuchte Luft, dabei so klar, daß einem alle Schwermut wie in ein weiches Tuch verpackt erscheint. Nach diesen turbulenteren Tagen, den verraucht-trunkenen Nächten, den letzten Bieren, die vielleicht nicht hätten sein müssen, den musikverzierten Schuppen und den nächtlichen Fahrten an den Lichtern des Hafens vorbei, dem sanften Schaukeln der Wagen, ist es Zeit vielleicht für einen Spaziergang.
Das Denken nicht vergessen, das Hinhören und Hineinhören, die schöne Stimme, der eigene Herzschlag, sich hinüberretten in souveräne Gesten. Heute im Buchladen gewesen, weil ich etwas nachsehen wollte, anschließend mußte ich es mir selbst ein wenig nachsehen, weil ich das Selbstverständliche mit zuviel Bedeutung auflud. Vielleicht. Der Rückweg war wie das Geräusch einer singenden Säge, ein Lied von Under Byen vielleicht. Derzeit zu viele Vielleichts vielleicht, viel leichter wäre es, es wäre weniger. Einfach nur leicht.
Der Herbst aber ist die falsche Jahreszeit für schlechte Kalauer. Wer klug ist, zieht in leerstehende Häuser, hängt die Wäsche auf einen aufgewühlten Acker, atmet stiller, atmet sich runter, hört wieder andere Musik. Det er mig der holder træerne sammen, das wird vergessen, daß auch dieses einer tun muß, daß nichts von selber kommt, kein Wald, kein Zusammenhalt, nicht deine, nicht meine Welt. Daß wir die Bezeichnungen in diese gemeinsame setzen und auch müssen und das, was ist. Ich erinnere mich, wie ich Under Byen im Molotow sah, diese schwermütigen Dänen mitsamt ihrer singenden Säge, fast im Stockdunkeln, der Raum mit substanzgeschwängertem Rauch gefüllt und zugleich mit einer wie gehäkelten Traurigkeit, eine Decke, die man umgehängt bekommt nach einem Boxkampf, den man verloren hat. Ein Kampf wie ein Frage- und Antwortspiel, dessen Regeln undurchsichtig und wie letzte Küsse von fast schmerzhafter Einfachheit sind.
Bald wird Schnee liegen. Und der wird die Antwort sein.
>>> The Cherry Blossom Girl

Freitag, 30. Oktober 2009
Gestern war Internationaler Ich-trag-ein-Kleid-Tag, einige machten da trotz Wind und Wetter mit, aber da man mir ja viel erzählen kann, überprüfe ich solche Dinge und Internetbehauptungen lieber selbst. In einer verrauchten Bar auf der einen Seite der Alster hatte ich also tatsächlich das Vergnügen, mit Hamburgs schärfsten Kleidern* rumzulungern - es ist, und das ist ja auch eine frohe Botschaft, also alles wahr, was ihr im Internet lest! Ich selbst hatte mich zwar dem "Ich trage Kleid"-Gebot verweigert, dem uns zuvor unbekannten blonden S. war das aber einerlei. Ich glaube - wenn ich die Zeichen richtig gedeutet habe -, ich habe einen neuen Freund. Und so konnten wir nach allerlei Herzen & Scherzen bald mit viel Empathie und noch mehr klugen Ratschlägen (ich kann dieses Wort hier nicht hinschreiben) versehen durch die weitere Nacht steuern und meine derzeitigen Lieblingsvorlesungsthemen aufarbeiten: Hausschlachtung als Distinktionsmerkmal, der Zauber europäischer Großstädte im Länderquartett-Vergleich und was der Klimawandel neuerdings mit dem Herbst macht. Ab halb eins geht das in Hamburg ja alles ganz leicht, das verspricht schon das Lied.
---
* Einwände und Gegenanzeigen wie immer nur mit Bildbeweis an diese Blogadresse!

Donnerstag, 29. Oktober 2009
So, liebe Herbstromantiker, während die einen feiern und Gläser kreisen lassen, holen die anderen Pinsel und Farbe heraus und setzen signalbunte Zeichen. In Philadelphia Im Netz habe ich etwas entdeckt, da schmilzt jeder dahin, der sein Herz nicht im ***-Fach gelagert hat. Der Graffiti-Künstler Steve Powers malt entlang der Hochbahnlinie in Philadelphia 50 Liebesbriefe an die Wand, davon einer herziger als der andere. Die Idee ist so faszinierend, daß ich mich frage, wieso ich nicht selbst darauf gekommen bin.
Andere machen so etwas ja auch, dieser junge Poet allerdings ist offenbar nicht ganz fertig geworden mit dem Dichten. Fast schmerzhaft dieser Bruch, diese elliptische donnerhallaute Stille, bei der man gleich soufflieren möchte. Mhmhmh-ein möchte man summen, flüstern, rufen. Mhmhmh-ein, komm, den Satz, den bringst du noch raus.
Ich bin jetzt erstmal Farbe kaufen.
>>> Webseite A Love Letter For You mit allen Wandgemälden

Mittwoch, 28. Oktober 2009
Picture me and then you start watching,
Watching forever, forever,
Watching love grow, forever,
Letting me know, forever.
(New Order/Joy Division, "Ceremony".)
Heute übrigens hat Stephen Morris Geburtstag, der Schlagzeuger, über den sein Bandkollege sagte, er sei "daft as a brush". Das mag ihm egal sein - was wurde nicht alles schon über mich gesagt - und er schließlich spielte in zwei der einflußreichsten Bands der jüngeren Rockgeschichte. Gut, besagter Kollege auch, aber das lassen wir mal beiseite. Stephen Morris also, der immer eher wie ein stoischer Arbeiter an der Werkbank wirkt, immer ein wenig entrückt, so als bediente er eine gefährliche Maschine und spielte nicht in einer Band, kein Mann für Girlanden also, mehr so für präzise-unverdrossene Uhrwerksmechanik, feiert heute seinen 52. Auch so ein Ding. Ich seh' uns noch wie damals.
>>> Geräusch des Tages natürlich: Ceremony
Und dann die Party.

Dienstag, 27. Oktober 2009
An der U-Bahn-Station unter dem MQ begegne ich dem Wondratschek. Wir tauschen Blicke, mustern uns zögernd, nicht ganz sicher, ob wir einander erkennen, er geht weiter, schließlich, auch weil er sich nicht traut, mich anzusprechen.
[Aus: Wir zeigen dem Tag nicht mehr diese Schußwunde]

Montag, 26. Oktober 2009
Den ersten oder letzten schönen Herbsttag zum Auslaufen genutzt, Durchlüften, Einatmen, Kind Of Blue, dann hin zu Polke, dritter Teil des Ausstellungszyklus'. Diffuse Kindheitserinnerung, die politischen Jahre, der Pulsschlag aus Düsseldorf, Kapitalistischer Realismus, so hieß das also, Beuys, die Akademieunruhen, überhaupt, diese Unruhe zwischen ausge-x-ten Fahndungsplakaten und dem Busenterror der QuickRevue. Ratinger Hof dann, Charley's Girls, die Katharina Sieverding ("Deutschland wird deutscher"). Heute steht einer vor ihren Fotos und sagt "schöne Brüste". Ein Raum weiter dann wieder Polkes Pornocollagen, Seitenhiebe gegenfür SexismusMachismusMilitanterFeminismusWasweißichmus - die Bilder sind sehr bunt und die Schwänze sehr groß. Vielleicht wurde damals wirklich mit dem Kopf gedacht, heute nickt man mit demselben nur, stehe ich da, also wir Kleinbürger, und sage jaja, was wahr ist, muß wahr bleiben, und wirklich schöne Brüste.
(Sigmar Polke: "Wir Kleinbürger!". Hamburger Kunsthalle. Bis zum 17.1.2010)

Sonntag, 25. Oktober 2009
Wenn man so als Internaut ziellos durch die Wellen surft, begegnet man ja den unmöglichsten aller Dinge, den unbekannten auch oder denen der Vorstellung entzogenen. Bekanntlich hüten dabei gerade die japanischen Seiten oft Schätze von selten bizarrer Pikanterie. In meinen jahrelangen Reisen in diesen oft ausgefallen oder auch bloß wenig bekleideten Gestaden möchte ich sagen, ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. [...] All diese Momente werden verloren sein für die BKA-Server, so wie Tränen im Regen. [Q]
Die Zeit bleibt mir aber noch, das schönste, schmutzigste, berührendste und vollendetste Aktfoto der japanischen Fotografie zu präsentieren. Wenn Erotik das Verborgene ist, das, was man hinter dem Schleier vermutet, also eigentlich in der Absenz und in der Erwartung liegt, dann kann es kaum besser dargestellt werden als es hier gelang. Leider ist mir der Schöpfer dieses Fotos unbekannt. Ein Meister. Laßt uns staunen.
