Donnerstag, 1. November 2007


Die Flut kommt, ist aber letztlich auch nur Wasser

Starkstromelektrische Bloßgelegtheit. Denk, was du willst, aber never ever put it in an email, heißt die angloamerikanische Sozialparkettregel. Als eitler Faun übergebe ich natürlich das S7ensiegelbuch der Verbaläußerungsgalanterie als allererstes dem großmäuligem Feuer. Heute morgen fiel mir kurz ein, wie es war, als wir uns alle nicht kannten. Als man sich nur Worte telegraphierte, ahnungs- und oft rücksichtslos und ohne weitere Gewinnerzielungsabsicht.

Auch ein Geschenk, ein schönes. Das Bild jetzt, nicht die beschriebene Tatsache.Während der Rest der Republik auf der faulen Haut sich räkelte, mußte heute in Hamburg aber gearbeitet werden. Ein zähes Vergnügen, zumal wenn man weiß, daß einem am Ende doch wieder alles weggenommen wird.

Fremdevaluierung. Liv Ullmann, in Tokio geboren, so las ich heute, hielt sich für einen "uneitlen Menschen", bis Lars von Trier vor ihr die Preise in Cannes abräumte. Ich dusche jetzt morgens immer kalt, der Demut wegen und weil ich Angst verspüre. Das Zupfen und Zerren, das Wollen und Haben, auch das Anteilnehmen. Die Menschen, das hat Liv Ullmann jetzt nicht gesagt, nennen immer das falsche kokett. "Witzig", sagen sie und schauen sich interessiert bei mir um. "Auf der Ausstiegsluke steht Ausstiegsluke und auf der Schrotflinte Schrotflinte." Ich bin wohl eher kein Diplomat.

Da ist ein Licht, das niemals ausgeht. Merkwürdig, wie mir gerade dieses Lied nun schon zum zweiten Mal zugespielt wird. Ich sollte mehr auf Zwischentöne achten. Nächstes Mal gehe ich besser doch zum Punkkaraoke. Ich will eine Axt, das Eis zu brechen, sagt David Bowie. Ich aber sage: Jedermann sein eigener Leuchtturm.


 


Mittwoch, 31. Oktober 2007


Día de los Muertos

In knöcherner Stille glänzt
das Herz des Einsamen

(Georg Trakl, "Am Abend")


















Ein silberner Trost, ein fermentiertes Getränk und zwei oder drei trübe Lichter eines ranzigen Cafés: Kaum habe ich mich fröhlich auf einem Tisch gewälzt, legt sich tags darauf bereits die Schwermut wie ein nasser Lappen ins Genick. Morbide Schöne winken ach so angekränkelt mit ihren Strumpfbändern, derweil es mir noch nicht einmal gelingt, den eigenen Namen in eine Bierlache zu schreiben. Die vom Grünspan überzogene Überwachungskamera indes hält unverschleiert drauf, hochaufgelöst bis zum letzten Schweißtropfen.

Während wir Ende Oktober den Weltspartag begehen, metallgefüllte Schweine zur Monetenschlachtbank führen und aus Angst vor dem dreckigen Alter ein Rentenpaket erwerben, brechen anderenorts die Gräber auf, um mit zuckrigen Grüßen die alten Knochen tanzen zu lassen. Der Tag der Toten, mit Ringelblumen und Schokolade begrüßt, ist jedoch ein freudiges Fest.

Auf kühlen Steinen sitzen wir jetzt, unsere Finger gleiten vorsichtig über die Gravierungen, finden die Jahreszahl. Wer nämlich lange genug auf verwitterte Grabsteine schaut, meint schließlich, den eigenen Namen zu erkennen. Wem es glückt, sogar auf dem lustigen Friedhof.

Es stimmt, ich hätte dich gerne geküßt, doch du sahst weit in die Ferne. Nach den dunklen Vögeln.


>>> Wikipedia: Tag der Toten
Celebrate the Dead - Celebrate Life - Webseite (Fotos, Infos, Blog)
La Catrina - Diego Rivera
José Guadalupe Posada (Wikipedia)


 


Montag, 29. Oktober 2007


Ich bin eine große Insel

"You look so good
When you're lonely."
(Grand Island, "Us Annexed")

Das hatte ich schon lange nicht mehr gemacht. Das letzte Mal sah ich an genau so einem Tag die amerikanische Gitarrengruppe Interpol in einem kleinen Hamburger Club. Boah, war das langweilig. Vielleicht lag es damals an meiner mitgebrachten Laune, aber diesen konfirmationsanzugtragenden New Yorker Gestalten, die da prätentiös auf der Bühne rumlungerten und ebenso wichtig wie lahmarschig auf "wir sind die neuen Joy Division" machten, hätte ich gerne mal tüchtig in den Hintern getreten. Un-er-träg-liches Düstergeleier, völlig verdrängend, daß Post Punk ja eine echte Abgeh-Schaffe war, als er noch angesagt und frisch war. Aber diese Äffchen, wie welk aus überlagertem Zellophanpapier gewickelt, wirkten so kraftlos pathetic, als könnten sie kein Loch in den Schnee pinkeln. Für mich aber, andere mögen das heimlich anders sehen, ist Musik schwitzige Eisenbiegerei und kein pomadiges Staubansetzen. Beim Tauchen, das wißt ihr alle, heißt die goldene Regel, niemals schneller als seine eigenen Luftblasen aufzusteigen. Aber bei Musik, schreibt das bitte auf, darf man sich durchaus lebhafter bewegen als der Rauch der Fluppe, die lässig im Mundwinkel oder am Gitarrenhals steckt.

An diesem Tag habe ich Interpol hassen geringschätzen gelernt - und die späteren Alben gaben mir recht. Danach unternahm ich an genau solchen Tagen gerne etwas anderes, Menschen einladen, die freundlich taten, oder mich von Menschen, die anders taten verlassen lassen. An genau so einem Tag braucht man halt Freude, Freunde, ein großes Drama - oder eine kleine Reise.

Dieses Jahr aber gab es an genau so einem Tag einen neuen musikalischen Versuch, denn die ersehnte Reise, ich mag es kaum zugeben, ist wohl ein seltsames Jahr, sah mich plötzlich von unter Wasser an. Wohl hineingefallen. Ich aber nicht! Ich zupfte mir den Kragen zurecht, marschierte kurzerhand, denn an genau so einem Tag kann man auch mal spontan sein, in mein extendiertes Wohnzimmer und schaute mir, ja, ja, ja, Grand Island an.

WAS FÜR EIN UNTERSCHIED!

Diese ehrlich arbeitenden Menschen aus Oslo (das liegt in Norwegen) legten letztes Jahr ihr Debüt "Say No To Sin" vor. Nun standen sie da, fünf junge Männer, auf der winzigen Bühne und sahen keinen Tag älter als 22 aus, was unter anderem daran liegt, daß sie keinen Tag älter als 22 sind. Der Sänger, das wird jetzt die Damen interessieren, erinnert ein wenig an Vincent Gallo und sieht so aus, als könne er gut noch ein wenig bekocht werden. Grand Island spielten eine Art abgehetztes Schweinerockbrett, das man vielleicht "Artrock-Polka" nennen könnte. Eine Elch-Stampede mit Abitur, sozusagen. Vermutlich unterhalten sie einen winzigen Proberaum auf dem Gelände des Sägewerks, in dem sie tagsüber schuften, und haben sich von dort auch den Strom illegal abgezweigt. Gleich nebenan stürzt, eines dieser norwegischen Naturwunder, ein Wasserfall aus Starkbier donnernd in die Tiefe, die Jungs hacken tagsüber Holz und rocken abends auf ähnliche Weise ihre Instrumente, kümmern sich insbesondere - anders als Interpol - nicht darum, wenn ein Hemd aus der Hose schaut und bringen so jüngere und ältere Jungs mit Ringel-T-Shirts zum Tanzen:
Us Annexed. Ja, richtig gesehen und nur hier wird's verraten: Der in dem Video bin ich.

An diesem Abend von genau so einem Tag also habe ich geschwitzt, gesungen, gelacht und auch ein wenig geweint. All diese verschwendeten Jahre!

>>> Offizielle Webseite von Grand Island

Radau | von kid37 um 00:59h | 18 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 26. Oktober 2007


Reiseziel unbekannt

I'm a walking magnet
with thousands of corroded memories.

(Marta Sklodowska)



Es ist kalt auf den Hügeln, schwarzer Stoff flattert im Wind. Das Klirren der Gläser, im Flur wird leise gelacht. Komm, sage ich, komm. Und sage kein Wort. Das nämlich sind die stummen Tage; ich schaue, atme, lausche und fühle die Blätter, die auf meine Schulter fallen. Am leeren Tisch sitzen mit mir: Melancholia, die gute. Prudentia, die freundliche und Judas Thaddäus, der Schutzherr mit Keule und Buch. Gemeinsam betrachten wir die zu Herbst geronnene Webseite von Marta Sklodowska, ein Schmuck aus Herz und Nebel. Die Fotografien, so muß ich einschränken, sind jetzt nicht alle der Überknaller, da zeigt sich doch - oder besser noch, die Autorin ist jung - eine gewisse technische Beschränktheit. Dennoch: eine selbsterforschende Reise, man stelle es sich als Tagebuch vor. Wunderbar.

Ganz ähnlich, aber völlig anders sind die Arbeiten von Asli Kolcu, die in Istanbul lebt. Ihre Seite (wahlweise auch hier auf Deviant Art) ist wie die Idee eines herbstlichen Picknicks, Äpfel mit angeschlagenen Stellen, Flecken und Dellen, die Farben des Sommers noch all überall. Vielleicht. Habe ich mich verständlich ausgedrückt? Ich hoffe nicht.

Ein letztes noch. Bill Frisell? Nein, es ist Tom Verlaine! Der Altmeister hat sich, denn alt ist immer wieder neu, Avantgarde-Filme der klassischen Moderne (Man Ray! Ich sage nur Man Ray! Aber auch Fernand Léger, Hans Richter, ihr wißt Bescheid) vorgenommen und neu vertont. Ein Beispiel gibt es auf der bei vielen bekannten amerikanischen Seite Youtube. Und eins noch, völlig ohne jeden Zusammenhang: Juliette Lewis, wenn du hier mitliest. Hör bitte auf, ewig nur diese White-Trash-Püppchen zu spielen. Du kannst soviel mehr. Ich jedenfalls glaube an dich!

Was heißt das alles? Macht Sachen, heißt das. Atmet.


 


Donnerstag, 25. Oktober 2007


Pour le Mérite

© Mary YaegerUnd nun, fragen sich sicher einige, welche Ehrenzeichen darf eine Frau denn tragen, ohne in die neuerdings verdächtige Nähe einer Apfelkuchenbäckerin gerückt zu werden?

Früher gab es Orden fürs Schießen ebenso wie fürs Werfen, aber die Leistung der
(post-)modernen Frau, so die umstrittene These, wird einfach nicht gepriesen. Schluß mit dem Lametta-Lamento:

Die amerikanische Künstlerin Mary Yaeger hat vor zehn Jahren bereits eine wunderbare Reihe begonnen, dieser Würdigungslosigkeit ein Ende zu bereiten. Ihre Kollektion von gestickten Aufnähern sind Tapferkeitsmedaillen, die für verschiedenste weibliche Leistungen und Verdienste zu verleihen sind: Das erste Achselhaar oder die erste Beinrasur werden dort ebenso gefeiert wie der erste Schwangerschaftstest, die ersten Krämpfe, gynäkologische- und andere Vorsorgeuntersuchungen. Bei manchen bleibt einem das Lachen allerdings im Halse stecken - aber genau so ist es wohl gemeint. Ob am Mantel oder auf der Umhängetasche, diese Abzeichen stehen auch ohne Staatswappen und Ministerunterschrift jeder tapferen Frau, äh, das ist redundant, also jeder Frau wunderbar zu Gesicht.

>>> Mary Yaegers Stickblog
>>>Ähnlich toll: Sublime Stitching


 


Mittwoch, 24. Oktober 2007


Ceci n'est pas un Bob

Und ja, schlagt mich, aber das finde ich nett. Das Hermetische Café steht auf der Auswahlliste für die Bobs - dem Blogaward der Deutschen Welle.

Es freut mich schon deshalb, weil ich dort mit Liisa vom famosen Charming Quark und dem launigen Bestatterweblog gelistet bin, um mal gleich meine Favoriten zu nennen. Eingebettet zwischen Kunst und Tod, fühle ich mich jedenfalls wohlgeborgen, und den nun zufällig hier hereinstolpernden Lesern sage ich freundlich Hallo.

Beim Rumklicken stieß ich bereits auf ein paar giftspritzende Kommentare von "Kungelei" bis "alle doof", was ja immer der größte Spaß bei solchen Geschichten ist. Bob ist eben für einige eine ernste Sache und nicht etwa eine prima Gelegenheit, über den Tellerrand zu schauen und neue Blogs kennenzulernen. Wer mit abstimmen möchte: Bis zum 15.11. ist dazu Gelegenheit.


 


Montag, 22. Oktober 2007


Eisige Erinnerung, aber lieblicher Wein

Mutter" rufe ich, "was ist das für ein Wein?" Stirnrunzelnd betrachte ich das Etikett. Die Mutter hat sich vergriffen, einen Merlot gekauft, den Aufdruck "lieblich" vielleicht aber auf sich bezogen oder einfach auch nur übersehen. Doch erinnern wir uns daran, was in unserer Familie immer galt: einfach immer weiter machen. Und frei nach Nestroy ("Einen Jux will er sich machen") beschließen wir tapfer: Dieser Wein wird getrunken.

Zwei Gläser später sind wir bereits leicht beschwipst und schauen gemeinsam mit einem unterschiedlichen Grad an Begeisterung "Astro-TV". Ich parodiere die hellsichtigen Gestalten, die für gute Provision arglosen Menschen Glückskekssprüche verkaufen. Auch meine Mutter findet bald Gefallen an dem TV-Trash. Als eine Frau anruft, um zu erfahren, ob's noch was wird, mit der Liebe und ob das Schicksal doch noch mal gnädig sein wird, rufen wir fast aus einem Mund: "Vergiß es!" Offenbar lebt der Sender auch vom voyeuristischen Katastrophentourismus.

Am nächsten Tag berichte ich der Mutter, daß nun viele Menschen über Dinge wie "Apfelkuchen" und "Mutterkreuz"* diskutieren, aber entweder das eine oder das andere gar nicht kennen. Meine Mutter, alles andere als eine gute Apfelkuchenbäckerin, kramt in der Schachtel mit den drei Familienandenken und präsentiert achtlos das silberne Symbol des Anstoßes. Verliehen an meine Großmutter sel., die sechs Kinder geboren hatte.

Angeblich, so lese ich, hatte man mit dem Ding einen Anspruch auf einen Sitzplatz in öffentlichen Verkehrsmitteln, doch ich bezweifle, ob meine Großmutter damals im tiefen Ostpreußen wirklich etwas davon hatte, blieb sie doch die meisten Tage daheim, um die Kinder zu versorgen und statt Apfelkuchen zu backen, lieber ein paar Hühner zu schlachten.

1945 blieben die Hühner und der schmale Kartoffelacker zurück, als "der Russe" kam. Der Großvater war schon längst "gefallen", irgendwo im Osten, so wie mein anderer Großvater auch, wie überhaupt die meisten Männer dieser Familie, bis auf einen später angeheirateten Onkel, der im Westen stationiert war und die lieblichen französischen Weinkeller bewachte, wie er später gern erzählte. Meine Großmutter aber packte wie eine Maria F. der Unterschicht Kind, Sack, Kegel und Mutterkreuz und flüchtete zur Küste, damals im Winter 1945.

In Gotenhafen versuchte die klamme Bagage über die Ostsee zu kommen, auf einem der großen und kleinen Schiffe, die von dort die schwierige Passage durch Eis, Minen und sowjetische U-Bootsperren wagten. Zu Tausenden hockte man dort, wartend und hoffend, Sand in einem Getriebe, das nun völlig aus den Fugen geraten war. Die Großmutter und die sechs Kinder schliefen in einem ehemaligen Kino, dessen Sitze verfeuert worden waren. Jeden Morgen packte man die Leichen auf Leiterwagen und füllte die freiwerdenden Plätze mit weiteren Flüchtlingen. Ein anderer Onkel, der bei der Marine war, besorgte über einen wendungsreichen Dienstweg Papiere, eines dieser trickreichen Manöver, deren Irrwitz 60 Jahre später auch keiner mehr versteht. Nachbarn, die es selbst nicht anders gehalten hätten, empörten sich, aber meine Großmutter, die resolute, packte ihre sechs Kinder und die paar Koffer, die sie noch hatten, denn auf der Fahrt mit der Eisenbahn, in - welch' böse Ironie - Güterwaggons, die man mit Stroh ausgelegt hatte, war eine Türe aufgesprungen, Koffer und Kinder oder Koffer oder Kinder fielen hinaus, die Großmutter hinterher, rennen, retten, flüchten, in den blauen Augen meiner damals fünfjährigen Mutter ein großes Abenteuer, von dem nichts blieb, außer dem halbnackten Leben, Papieren, Fotos und dem Mutterkreuz, packte also die Habseligkeiten zusammen und zwängte die Familie auf eines dieser umgebauten Minensuchboote. Die zwei älteren Brüder, die - sich einen Jux machen wollend - die Abfahrt verpassten, ruderten mit einem Boot dem auslaufenden Schiff hinterher, wurden aufgefischt und - ein weiteres Abenteuer - für eine deftige Standpauke vor den Kapitän zitiert.

Aber in diesen Tagen überlebte nicht unbedingt der, der erster war. In der schmalen Fahrrinne, die durchs Eis gebrochen war, tauchten, meine Mutter schwört es Stein und Bein, bald Holz- und Trümmerteile auf. Zwei Tage zuvor war hier die Wilhelm Gustloff auf dem Weg nach Kiel einem sowjetischen U-Boot ins Fadenkreuz gelaufen. Zehntausend Menschen waren wohl an Bord, in diesem Januar 1945, und nachdem der KdF-Kreuzer versunken war, wurden 1252 aus der eisigen See geborgen. "Das war es" sollen die Worte des Kapitäns gewesen sein, als erst der eine, dann der zweite und schließlich der dritte der vier abgefeuerten Torpedos unter der Wasserlinie einschlug. Es gab kein Weitermachen.
Das Minensuchboot mit meiner Mutter an Bord hingegen kam zwei Tage später durch, ohne Zwischenfall, mitsamt der Großmutter und dem Mutterkreuz. Für den sowjetischen U-Boot-Kommandanten Marinesko gab es nichts, nur die Erinnerung vielleicht an sein Fadenkreuz. Erst 1990 verlieh ihm Mütterchen Rußland postum einen Orden.

Am Ende trafen sie sich doch wieder, in ihrer Biografie jedenfalls, denn 1963 wurde ihr Schicksalsjahr. Meine ostpreußische Großmutter, die sechs Kinder geboren hatte, aber ihm entwischte, starb im Frühjahr jenes Jahres an Krebs. Marinesko, der elftausend auf den Grund der Ostsee geschickt hatte, folgte ihr ein halbes Jahr später.

Das Kreuz, sinnlos wie der Orden an Marinesko, ist nun in meinem Besitz. Eine Tante hatte sich unlängst beschwert, wie irgendeine Schwiegertochter aus der weitläufigen Familie, kaum, daß deren Mutter tot war, "alles weggeworfen hätte". Meine Mutter hingegen blieb stoisch. "So ist das halt." Vielleicht fielen ihr die Trümmer der Gustloff ein. Ich pflichtete ihr bei und bekräftigte, nach einem kurzen Blick auf ihr im Memphis-Stil gemustertes Geschirr, es nicht anders halten zu wollen, jedenfalls soweit ich ohne Astrologen-TV in die Zukunft blicken könne. "Ich würde mir auch nur ein paar Andenken raussuchen."

"Und", meinte sie. "Willst du sie jetzt schon haben?" Und wir lachten beide und nahmen einen letztes Glas von diesem widerlich lieblichen Merlot. Ich nahm dann das Mutterkreuz und ein paar andere Dinge. Muß ja immer weitergehen.

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* In der Wikipedia und einigen anderen Quellen wird behauptet, das Kreuz hätte die Aufschrift "Das Kind adelt die Mutter" getragen. Diese Inschrift habe ich nicht gefunden. Auch die Fotos in der Wikipedia selbst liefern dafür keinen Beweis. Vielleicht fand sich ein solcher Aufdruck auf der separaten Verleihungsurkunde - oder aber es hat hier eine Quelle von der anderen abgeschrieben. Die Seite des Deutschen Historischen Museums erwähnt diese Inschrift nicht.