Dienstag, 17. Januar 2006


Annual Report

Die Musik entwickelt sich sehr eindrucksvoll:
sie wächst zu einem beängstigenden, schlimmen Flutsturm
von harschen Klängen an. Sie bestärkt eine unheimlich finstere Ahnung,
die sich im Magen eingräbt, und dennoch ist sie großartig.

(Reinhold Brunner über das Konzert von Throbbing Gristle
am 10.11.1980 in Frankfurt. In: Rock Session 6, 1982.)

Die Berliner Volksbühne scheint sich auf 20jährige-Reunionskonzerte zum Jahreswechsel spezialisiert zu haben. Vor ein paar Jahren feierten die Fehlfarben ihr Jubiläum mit einem Weihnachtskonzert, dieses Jahr trat an zwei Abenden eine Industrial-Legende auf: Throbbing Gristle machten in Originalbesetzung für Frank Castorf ordentlich Krach.

So um 1981, als ich anfing, mich für Burroughs, Gysin und neubautige Musik zu interessieren, hörte ich von diesen abgedrehten Engländern, die so "industrielle Musik" machten, wie das bei uns Unbedarften hieß. Skandale im Londoner Insitute of Contemporary Arts (später durchbohrten die Neubauten bei einem Konzert den Betonboden des ICA mit der Begründung "Ihr habt eine destruktive Performance bestellte, hier habt ihr sie"), irgendwas mit merkwürdigen Sexpraktiken, subliminalen Botschaften und Infraschall, rauchenden Schloten von Todesfabriken, medizinischen Lehrfilmen und allerlei psychopathologische Narretei schien da im Spiel - alles natürlich hochinteressant. Schräg, neu, Zickzack - mehr wollte man damals ja nicht. War ja alles aus Beton, damals. Und wenn man schon blaue Mülltüten als T-Shirts trägt, will man auch sonst mehr deviant statt ordinary. Are We Not Devo?

Sordide Sentimentale: Die Musik exisiterte meist nur gerüchteweise, einmal schickte ich meine Mutter mit einem Weihnachtswunschzettel (SPK, Leichenschrei ) zu Karl vom Kothen, einem Wuppertaler Schallplattenhändler, der von sich behauptete, er habe "jede Platte". Natürlich mußte er passen. Machte kaum was, weil ich damals wie jeder zweite selbst mit alten Tonbandgeräten, zusammengeklebten Bändern und Endlosschleifen (heute hieße das Loops) experimentierte, mir wie Laurie Anderson eine Magnetbandgeige bastelte (einen bespielten Streifen Tonband auf eine Holzleiste geklebt, die man dann wie einen Geigenbogen an einem Tonkopf vorbeiführte), allerlei Gerät zu Schlagwerken umfunktionierte - was man halt so macht als junger Mensch, dem kein Experiment zu schwör erscheint.

(Dafür liebt man Berlin: Immer gleich die Gegenrede parat)

Throbbing Gristle war dann irgendwann Kunstkacke, fand ich da gerade doof, Gefiepe und Gesuhle in Atrocities, und der Humor, eines ihrer Alben "20 Jazz Funk Greats" zu nennen, kam bei mir nicht an. Wie so oft, war das Konzept, die Idee letztlich auch interessanter als die Musik. Aber da ahnte man ja noch nichts von den mediokren Epigonen, die in den 90ern mit ihrem modulierten Industrialkitsch die Lauschwege verstopfen sollten. Dr. Benway und ich zogen ihre Rezeptblöcke jedenfalls bald für andere Harmonien; Krach und Klanggeschredder rhythmisierten derweil Techno/Gabba (Chris Carter!) - und irgendwie ist Industrial auch für den heutigen Klingeltonwahn verantwortlich, da bin ich sicher. (Mehr gewagte Thesen wagen!)

Seit ich selbst keine Musik mehr mache, interessieren mich Klangexperimente nur noch stark am Rande. Krach ist ja auch am schönsten, wenn man ihn selber macht und Küssen kann man besser zu säuselnden Melodien.

Leider wummerte mir Neujahr selbst noch zu sehr der Kopf, so daß ich auf das Konzert verzichtete (trotz: Nostalgie, seltener Moment usw.), immerhin aber noch die (allerdings kleine) Ausstellung im Berliner KW besuchte. Education through Pain nämlich.

News from the Death Factory: Fotos, Plakate, Konzertfilme und Geräusche und einiges an seltenerem Fanmaterial werden da gezeigt. Unter anderem eine Auswahl von Kundenkarteikarten des bandeigenen Labels. Ein Detail, das wie schwarzer Marmor funkelt: Auf der Karte von Ian Curtis steht nüchtern der ultimative Verweis: "deceased".

(D.O.A.: Das neue Album "Part Two" von Throbbing Gristle erscheint am 20. März. Ausstellung noch bis zum 29. Januar im KW - Institute for Contemporary Art, Auguststraße 69, 10117 Berlin)

Radau | von kid37 um 10:38h | 13 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 15. Januar 2006


Kalt, aber nicht so sehr

Another head aches, another heart breaks
I am so much older than I can take
And my affection, well it comes and goes
I need direction to perfection, no no no no

(The Killers, "All The Things That I've Done")

Tief in der Nacht spuckt es mich aus, das rauchige Café, und durch frostige Straßen geht der Weg, der letzte des Abends. Immer zu lang, immer zu weit. In der U-Bahn der Plunder der Nacht: trunkene Jugend, verbrauchte Gesichter, schlafende Schönheiten. Die letzten Versprechen sind bereits vergessen. Das letzte Lied hängt noch in den Köpfen nach. Im fahlen Licht des Wagens indes kein Platz für Gnade. Schäbige Taschen, kaputte Schuhe, ein Rest verstreuter Glitter: Wenn die Nacht in Trümmern liegt, gilt es, das nackte Ich nach Haus' zu bringen. Hungrig kriechen wir noch ein wenig tiefer in die abgewetzten Mäntel.

Ich betrachte die Wimpern, das müde Blau in den Augen des Mädchens gegenüber. Ihren Freund, an dessen Arm sie sich schmiegt, wird sie bald verlassen. Noch weiß sie es nicht. Doch in einer Nacht, die ihm frostiger scheinen wird als diese, wird sie ihm sagen, daß sie nun gehen muß.

Was macht es schon. Die Züge fahren die ganze Nacht. Man muß nur wissen, wo man aussteigen muß. Und wo man bleiben kann.


 


Freitag, 13. Januar 2006


Ankomme Freitag, den 13., dein Vollmond

Und sie schlugen meine Blutangst tot,
Wie Himmelsbrand blühte das Morgenrot,
Und mein Blaß schneite von ihren Wangen.

(Else Lasker-Schüler,
"Es war eine Ebbe in meinem Blut". 1902.)

Der Vollmond macht mich schon jetzt rappelig. Heute den ganzen Tag mein Zimmer umgeräumt (das eine), weil ich dachte, ich müßte mal mein Zimmer umräumen. Klein- und Mittelmöbel von hier nach da und dort nach links verschoben, Teppiche gerückt, Staubnester entdeckt und mit Namen versehen ("Meer der einsamen Erdnuß", "Land des verlorenen Weinkorkens"), Kabel ("Strippen") gezogen, mit dem Kopf gewackelt (bedächtig), zurücksortiert, Krise bekommen (More Belastbarkeit, Baby!), gleich darauf Mut zum Neuen, Heftchen gefunden, erstmal langgelegt (Chaiselongue), geblättert & festgelesen.

Zwischendurch Wein geholt (Bordeaux, 75 Cent mehr ab diesem Jahr, neuer Luxus!), an dieses gedacht und an jenes auch, Geduld geübt. Zu einem Lied mitgesungen, (It was really nothing), ein Bild umgehängt, ein anderes endlich geradegerückt. Unruhe, alle Fenster aufgerissen, Heizungsluft gegen feuchte Kühle getauscht. Never, never, never stop. Festgestellt, die TÜV-Plakette vom Deckenhaken ist abgelaufen. Kurze Panik bekommen, dann Hoffnung. Brauche ich nicht mehr. Erstmal.

Ein Tag, um über Vorhersagen nachzudenken. Zum Beispiel beim Möbelrücken (Metapher, Metapher!) oder Haareschneiden. Selbsterfüllende Prophezeiungen niederschreiben, kleine Zettel unter die Fußmatte schieben. Schlüssel bei der Nachbarin abgeben (alle Fälle, alle Fälle!), ein Kleinmöbel zurückstellen, beschließen, schlaflos zu bleiben (Herr Kid, wieso sind Sie eigentlich nicht mehr somnambul?) und Untersuchungen in nächster Nähe anzustellen. Mit gerade einmal 37einhalb ein Bauchansatz, ich muß kämpfen. Immer kämpfen.


 



Die Eule und das Kätzchen

Das Jahr kann kaum schöner beginnen, das ist bekannt, als mit einer neuen sexy Ausgabe von Kitten Kitten. Kate Moss, Sex auf der Müllkippe, Mode, Tode, Tralala - und natürlich der fashionable Jahresrückblick. Stärkstes Zitat:
Dass die schwarze Gemeinde Anflüge von Selbstironie zeigt, versöhnt einen mit seiner Vergangenheit.

Die Yeah Yeah Yeahs heißen dieses Jahr Metric, weiß ich das also auch. Spannender, alberner, überraschender und konsequenter wie immer aber:
Der Ringelstrumpf der Woche bei Naughty James.
(Nicht nur deshalb. Ich mag dieses Projekt, bei dem Craig Cowling jeden Tag ein Bild postet und Fragmente seines Lebens streut. Ganz ungeschwätzig.)

Das Blog (wie die übrigen Serien) von Ernesto Timor sind zudem nicht genug zu preisen. Deswegen tue ich das auch. Immer wieder.

(Educati0n through Wiederholung)


 


Donnerstag, 12. Januar 2006


Eine Stadt hing dunkel...

Daily except for Sunday
You dawdle into the café
Where you meet her each day.

(The Sparks, "This Town Ain't Big Enough For The Both Of Us")

Die Kopierkatzen schleichen auch durch die fremde Stadt und legen sich an vorgewärmte Plätze. Stadt und Netz und Welt sind eben doch nicht groß genug. Von all den Dingen, all den Plätzen, die man wählt, all der Vielfalt, die man formt und pflückt - warum die greifen, die den Stempel schon tragen?

Hase, Igel und ein Fuchs. Diese Rechnung kann nicht aufgehen. Ein Vogel weht ein Lied mir zu, man nimmt es dann so wahr, wie den Gesang der Amsel. Und stutzt, in plötzlicher Erkenntnis: Das Vieh kann meinen Klingelton!

So mancher lädt dann gleich sein Salzgewehr, der nächste zuckt die Schultern. Ich hab' zum Glück für sowas keine Zeit. Aneignung. Abneigung.

And if you go into the woods today, you'll find that I am not there.

[Kryptozoologische Feldforschung zum Flaggenwechsel 2006]


 


Mittwoch, 11. Januar 2006


Ende.Neu

Pink frost... Bye Bye Bye
I'm really not lying
I'm so scared
I'll have to stop my crying
Now she's dead

(The Chills, "Pink Frost")

Seit einigen Jahren feiere ich Silvester bekanntlich immer besonders wild, mit Papphütchen, Durcheinandertrinken und -küssen, Damen anfallen und sonstigen Träumereien. Ein Gespräch über Moral und Ethik kurz nach Mitternacht blieb mir noch im Gedächtnis, zudem ein finnischer Silvesterritus, der stark nach in Vodka aufgelöstem Hustenbonbon schmeckte und Perlenketten, die sich in Champagner lösten... dann ging es schon los zum obligatorischen Eistauchen an Neujahr.

Die Ostseeinsel im frostigen Gewand, scharf knirscht das Eis unter den schweren Schuhen. Stämmige Ponys drängen ihr krauses Winterfell gegen warme Hände. Ich sehe mich am Leuchtturm, die Augen geschlossen im schneidigen Wind. So ein grauhaariger Kopf muß doch mal frei werden von den zotteligen Gedanken. An der nordöstlichen Spitze säumen Eis und Schnee die Wasserlinie. Bernstein glitzert in der Sonne, pink frost. Das, was ich tat, vergangenes Jahr. Das, was ich tun werde, dieses Jahr.

Die alten Hemden, das vergessene Gesicht. Das scharfe Wort, beißender Wind, Bäume im Frost. Die Fähre bricht sich durch die eisigen Schollen, der Rumpf knirscht und ächzt, und ich blicke hinüber und zweifele keinen Augenblick.
Together we may get away.


 


Freitag, 30. Dezember 2005


Dada Beast Blender 2006

Ein Dadaist ist ein Mensch, der das Leben in allen seinen unübersehbaren Gestalten liebt und der weiß und sagt: Nicht allein hier, sondern auch da, da, da ist das Leben! Also beherrscht auch der wahrhafte Dadaist das ganze Register der menschlichen Lebensäußerungen, angefangen von der grotesken Selbstpersiflage bis zum heiligsten Wort des Gottesdienstes auf der reif gewordenen, allen Menschen gehörenden Kugel Erde. (Johannes Baader, 1918)



Schümpf nicht auf die Fünf, denn nun kommt Sechs. Mögen andere gerne wild feiern, ich mache dieses Jahr Dada-Silvester, mit Nackttanz, Erbsenbowle und einer kleinen, nur zwanzigminütigen Rede, die mir aber bereits verboten wurde.

Aber innen, drin! Dat Häätz! Wie dat pocht! Um Mitternacht bitte den oder die Richtige küssen oder dem Tuten der Schiffe lauschen. Ich stehle mich davon, stapfe trunken durch den Schnee ("das Herz so weh, das Herz so weh") und rufe "Vive Dada!" (das bin dann ich, bitte nichts nachwerfen oder vor) So der Plan.

Macht Krach und vergeßt die rote Unterwäsche nicht! (Ausreden gilden nicht, es gibt schließlich "eine große Auswahl an Dada Artikeln bei uns im Online Shop" und "schick muß nicht teuer sein".)

(Die neuen Tage vertreibt man sich bitteschön beim Wolpertingern mit dem kleinen Tote-Tiere-Baukasten Beast Blender, einer hübschen Idee via Rouge Taxidermy. Die Ergebnisse möchte ich bitte sehen!)

Hier herrscht ein paar Tage Ruhe.


 


Freitag, 30. Dezember 2005


Der Schnitter

Who's on the seventh floor
Brewing alternatives
What's in the bottom drawer
Waiting for things to give
Spare us the cutter

(Echo and the Bunnymen, "The Cutter")


An den Weihnachtstagen besucht man die Familie, das gehört sich so. Der Zug spuckt mich pünktlich aus am Hauptbahnhof, und mit dem Bus geht es weiter durch die Stadt. Die Haltestellen heißen Neuenteich oder Klingelholl, die Busse enden in Sonnenblume, Stahlsberg oder Konradswüste. Die Kneipen am Weg tragen Namen wie "Bierstube Wildkirsche", manchmal auch leutselig "Kiek ens rin". Überall signalisieren Schilder den Niedergang: Stehimbisse, Internet-Cafés und 1-Euro-Läden haben die alten Geschäfte verdrängt. Fisch Hosse bittet um frühzeitige Bestellung vor den Feiertagen. Man möchte Ärger und Enttäuschungen vermeiden, von denen es an Weihnachten so viele gibt.

Am Markt gibt es noch das Zoofachgeschäft. In der oberen Etage hatte lange Jahre eine Frau gelebt, die auch im Tierladen arbeitete. An Heilig Abend vor ein paar Jahren gerieten sie und ihr möglicherweise mißratener Sohn in Streit, und er erschlug sie. Mehrere Tage lebte der Sohn in der Wohnung mit der Leiche, ehe er sie mit scharfen Werkzeug in der Badewanne zerstückelte. Die Teile steckte er in Einkaufstüten und fuhr dann mit dem Bus in verschiedene Randgebiete der Stadt, wo er die Überreste versteckte. Sonnenblume, Stahlsberg, Konradswüste. Spaziergänger und spielende Kinder fanden einzelne Tüten, weit vor Ostern noch, und man kam dem blutigen Weihnachtsdrama auf die Spur. Der Skandal erschütterte damals die halbe Stadt. Ist aber schon lange her.

Ich gehe ein paar graue Straßen, dunkel ist es geworden. Aber ich kenne meinen Weg. Bei meiner Mutter brennt Licht, man sieht es von weitem. Ein Adventskranz hängt, dem frohen Fest zum Gruße, an der Tür.
Ich, ich geh' dann jetzt mal hoch.