
Freitag, 13. Januar 2006
Wie Himmelsbrand blühte das Morgenrot,
Und mein Blaß schneite von ihren Wangen.
(Else Lasker-Schüler,
"Es war eine Ebbe in meinem Blut". 1902.)
Der Vollmond macht mich schon jetzt rappelig. Heute den ganzen Tag mein Zimmer umgeräumt (das eine), weil ich dachte, ich müßte mal mein Zimmer umräumen. Klein- und Mittelmöbel von hier nach da und dort nach links verschoben, Teppiche gerückt, Staubnester entdeckt und mit Namen versehen ("Meer der einsamen Erdnuß", "Land des verlorenen Weinkorkens"), Kabel ("Strippen") gezogen, mit dem Kopf gewackelt (bedächtig), zurücksortiert, Krise bekommen (More Belastbarkeit, Baby!), gleich darauf Mut zum Neuen, Heftchen gefunden, erstmal langgelegt (Chaiselongue), geblättert & festgelesen.
Zwischendurch Wein geholt (Bordeaux, 75 Cent mehr ab diesem Jahr, neuer Luxus!), an dieses gedacht und an jenes auch, Geduld geübt. Zu einem Lied mitgesungen, (It was really nothing), ein Bild umgehängt, ein anderes endlich geradegerückt. Unruhe, alle Fenster aufgerissen, Heizungsluft gegen feuchte Kühle getauscht. Never, never, never stop. Festgestellt, die TÜV-Plakette vom Deckenhaken ist abgelaufen. Kurze Panik bekommen, dann Hoffnung. Brauche ich nicht mehr. Erstmal.
Ein Tag, um über Vorhersagen nachzudenken. Zum Beispiel beim Möbelrücken (Metapher, Metapher!) oder Haareschneiden. Selbsterfüllende Prophezeiungen niederschreiben, kleine Zettel unter die Fußmatte schieben. Schlüssel bei der Nachbarin abgeben (alle Fälle, alle Fälle!), ein Kleinmöbel zurückstellen, beschließen, schlaflos zu bleiben (Herr Kid, wieso sind Sie eigentlich nicht mehr somnambul?) und Untersuchungen in nächster Nähe anzustellen. Mit gerade einmal 37einhalb ein Bauchansatz, ich muß kämpfen. Immer kämpfen.

Das Jahr kann kaum schöner beginnen, das ist bekannt, als mit einer neuen sexy Ausgabe von Kitten Kitten. Kate Moss, Sex auf der Müllkippe, Mode, Tode, Tralala - und natürlich der fashionable Jahresrückblick. Stärkstes Zitat:
Dass die schwarze Gemeinde Anflüge von Selbstironie zeigt, versöhnt einen mit seiner Vergangenheit.
Die Yeah Yeah Yeahs heißen dieses Jahr Metric, weiß ich das also auch. Spannender, alberner, überraschender und konsequenter wie immer aber:
Der Ringelstrumpf der Woche bei Naughty James.
(Nicht nur deshalb. Ich mag dieses Projekt, bei dem Craig Cowling jeden Tag ein Bild postet und Fragmente seines Lebens streut. Ganz ungeschwätzig.)
Das Blog (wie die übrigen Serien) von Ernesto Timor sind zudem nicht genug zu preisen. Deswegen tue ich das auch. Immer wieder.
(Educati0n through Wiederholung)

Donnerstag, 12. Januar 2006
You dawdle into the café
Where you meet her each day.
(The Sparks, "This Town Ain't Big Enough For The Both Of Us")
Die Kopierkatzen schleichen auch durch die fremde Stadt und legen sich an vorgewärmte Plätze. Stadt und Netz und Welt sind eben doch nicht groß genug. Von all den Dingen, all den Plätzen, die man wählt, all der Vielfalt, die man formt und pflückt - warum die greifen, die den Stempel schon tragen?
Hase, Igel und ein Fuchs. Diese Rechnung kann nicht aufgehen. Ein Vogel weht ein Lied mir zu, man nimmt es dann so wahr, wie den Gesang der Amsel. Und stutzt, in plötzlicher Erkenntnis: Das Vieh kann meinen Klingelton!
So mancher lädt dann gleich sein Salzgewehr, der nächste zuckt die Schultern. Ich hab' zum Glück für sowas keine Zeit. Aneignung. Abneigung.
And if you go into the woods today, you'll find that I am not there.
[Kryptozoologische Feldforschung zum Flaggenwechsel 2006]

Mittwoch, 11. Januar 2006
I'm really not lying
I'm so scared
I'll have to stop my crying
Now she's dead
(The Chills, "Pink Frost")
Seit einigen Jahren feiere ich Silvester bekanntlich immer besonders wild, mit Papphütchen, Durcheinandertrinken und -küssen, Damen anfallen und sonstigen Träumereien. Ein Gespräch über Moral und Ethik kurz nach Mitternacht blieb mir noch im Gedächtnis, zudem ein finnischer Silvesterritus, der stark nach in Vodka aufgelöstem Hustenbonbon schmeckte und Perlenketten, die sich in Champagner lösten... dann ging es schon los zum obligatorischen Eistauchen an Neujahr.
Die Ostseeinsel im frostigen Gewand, scharf knirscht das Eis unter den schweren Schuhen. Stämmige Ponys drängen ihr krauses Winterfell gegen warme Hände. Ich sehe mich am Leuchtturm, die Augen geschlossen im schneidigen Wind. So ein grauhaariger Kopf muß doch mal frei werden von den zotteligen Gedanken. An der nordöstlichen Spitze säumen Eis und Schnee die Wasserlinie. Bernstein glitzert in der Sonne, pink frost. Das, was ich tat, vergangenes Jahr. Das, was ich tun werde, dieses Jahr.
Die alten Hemden, das vergessene Gesicht. Das scharfe Wort, beißender Wind, Bäume im Frost. Die Fähre bricht sich durch die eisigen Schollen, der Rumpf knirscht und ächzt, und ich blicke hinüber und zweifele keinen Augenblick.
Together we may get away.

Freitag, 30. Dezember 2005
Ein Dadaist ist ein Mensch, der das Leben in allen seinen unübersehbaren Gestalten liebt und der weiß und sagt: Nicht allein hier, sondern auch da, da, da ist das Leben! Also beherrscht auch der wahrhafte Dadaist das ganze Register der menschlichen Lebensäußerungen, angefangen von der grotesken Selbstpersiflage bis zum heiligsten Wort des Gottesdienstes auf der reif gewordenen, allen Menschen gehörenden Kugel Erde. (Johannes Baader, 1918)

Schümpf nicht auf die Fünf, denn nun kommt Sechs. Mögen andere gerne wild feiern, ich mache dieses Jahr -Silvester, mit tanz, Erbsenbowle und einer kleinen, nur zwanzigminütigen , die mir aber bereits verboten wurde.
Aber innen, drin! Dat Häätz! Wie dat ! Um Mitternacht bitte den oder die Richtige küssen oder dem der Schiffe lauschen. Ich stehle mich davon, stapfe trunken durch den Schnee ("das Herz so weh, das Herz so weh") und rufe "Vive Dada!" (das bin dann ich, bitte nichts nachwerfen oder vor) So der Plan.
Macht Krach und vergeßt die rote nicht! (Ausreden gilden nicht, es gibt schließlich "eine große Auswahl an Dada Artikeln bei uns im Online Shop" und "schick muß nicht teuer sein".)
(Die neuen Tage vertreibt man sich bitteschön beim Wolpertingern mit dem kleinen Tote-Tiere-Baukasten Beast Blender, einer hübschen Idee via Rouge Taxidermy. Die Ergebnisse möchte ich bitte sehen!)
Hier herrscht ein paar Tage Ruhe.

Freitag, 30. Dezember 2005
Brewing alternatives
What's in the bottom drawer
Waiting for things to give
Spare us the cutter
(Echo and the Bunnymen, "The Cutter")
An den Weihnachtstagen besucht man die Familie, das gehört sich so. Der Zug spuckt mich pünktlich aus am Hauptbahnhof, und mit dem Bus geht es weiter durch die Stadt. Die Haltestellen heißen Neuenteich oder Klingelholl, die Busse enden in Sonnenblume, Stahlsberg oder Konradswüste. Die Kneipen am Weg tragen Namen wie "Bierstube Wildkirsche", manchmal auch leutselig "Kiek ens rin". Überall signalisieren Schilder den Niedergang: Stehimbisse, Internet-Cafés und 1-Euro-Läden haben die alten Geschäfte verdrängt. Fisch Hosse bittet um frühzeitige Bestellung vor den Feiertagen. Man möchte Ärger und Enttäuschungen vermeiden, von denen es an Weihnachten so viele gibt.
Am Markt gibt es noch das Zoofachgeschäft. In der oberen Etage hatte lange Jahre eine Frau gelebt, die auch im Tierladen arbeitete. An Heilig Abend vor ein paar Jahren gerieten sie und ihr möglicherweise mißratener Sohn in Streit, und er erschlug sie. Mehrere Tage lebte der Sohn in der Wohnung mit der Leiche, ehe er sie mit scharfen Werkzeug in der Badewanne zerstückelte. Die Teile steckte er in Einkaufstüten und fuhr dann mit dem Bus in verschiedene Randgebiete der Stadt, wo er die Überreste versteckte. Sonnenblume, Stahlsberg, Konradswüste. Spaziergänger und spielende Kinder fanden einzelne Tüten, weit vor Ostern noch, und man kam dem blutigen Weihnachtsdrama auf die Spur. Der Skandal erschütterte damals die halbe Stadt. Ist aber schon lange her.
Ich gehe ein paar graue Straßen, dunkel ist es geworden. Aber ich kenne meinen Weg. Bei meiner Mutter brennt Licht, man sieht es von weitem. Ein Adventskranz hängt, dem frohen Fest zum Gruße, an der Tür.
Ich, ich geh' dann jetzt mal hoch.

Mittwoch, 28. Dezember 2005

An manchen Tagen setzt auch Herr Kid die rosarote Brille auf (auch wenn ich mit der alten ziemlich gut klar kam). Dann steige ich hinab in den Keller, hole das Lachen ab und die Benachrichtungskarten und fühle mich auf dem Postamt richtig überrascht.
Vielen Dank, ich bin sehr gerührt. Meine erste Neubauten-CD seit Jahren zudem, nein, die erste sogar. Die anderen sind noch aus seligen Vinyl-Zeiten.
"Silvester bin ich wieder in der großen Stadt", meinte ich gestern - und mein Bruder lachte feist und meinte, "Wenn Du bis dahin wieder hier wegkommst." Tatsächlich waren die Wuppertaler Höhen binnen einer halben Stunde bedenklich eingeschneit. Weiße Weihnachten, mitten aus der lameng, wie man dort so sagt. Die dritte CD unterm Baum stammte von den Wupperhofern, "einer der ältesten Männerchöre der Welt", wie das Booklet verrät. Die Jungs von 1812 e.V. sind zwar Solinger, aber da will ich mal nicht so sein. Sie schmettern jedenfalls eine ergreifende Version des Bergischen Heimatliedes. ("Hebt kühn sich zum Streite/die bergische Faust/dem Freunde zum Schutz/dem Feinde zum Schand" und natürlich, unsterblich: "Wo die Mägdlein so wahr/und so treu und so gut/Ihr Auge so sonnig, so feurig ihr Blut/Wo noch Liebe und Treue/die Herzen Verband - da ist meine Heimat, mein Bergisches Land.")
Heimat, Herz und Heizdecke. "Würdest du noch mal hierherziehen?" fragt mein Vater. Ich kann es mir derzeit nicht vorstellen. Wenn ich ab und an zurückkehre, bemerke ich als erstes den Verfall. Den Niedergang der alten Geschäfte, vergessene Leuchtreklamen an den Hauswänden, die zerrissenen "Neueröffnung"-Banderolen, halb überklebt von den "Zu vermieten"-Schildern. "Der Ku'damm", sage ich, "ist kilometerweit mit Lichterketten geschmückt, als gäbe es kein Morgen. Kein Wunder, daß Berlin nicht mehr mitbekommt, wie es um die wirkliche Welt steht."
Erinnerungen, die bleiben. Ein paar schmutzige Fotos, die einst ein glücklicheres Leben versprachen.
Der Bundespräsident benutzt einen Tonfall als spräche er zu Dreijährigen. Jeden Anfang eines neuen Absatzes betont er als wolle er sagen, "Ja, liebe Kinder, gebt fein acht...". Er spricht von Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Aber nur ein "bißchen": "Ein bißchen mehr Ehrlichkeit."
Er hat recht. Wir wollen ja nicht gleich übertreiben.

Freitag, 23. Dezember 2005
Merry Christmas! Merry Christmas!"
"Merry fucking Christmas!" shouted Franny, from downstairs.
(John Irving. The Hotel New Hampshire. 1981.)
Aus der Reihe: Unglaublich begnadete Kunst - Ein Spitzenlinolschnitt (2003)!
Die flauschigen Engel und heiteren Rauschebärte rücken immer näher,
Zeit alle Knöpfe auszuschalten oder zu öffnen, damit die Gansente paßt. Geschenke? Geschenkt. Gebt euch die wichtigen Dinge, die einfachen und schweren, jene, für die man keine Unterschrift auf Lastschriftzettel braucht.
Das hermetische Café geht milde aus dem Jahr. Mit Verlusten, schmerzhaften auch, Erkenntnissen, noch schmerzhafter teils, aber auch Geschenken und Erfahrungen, die gut tun. Zwei Jahre Mäandrieren, Schwadronieren, Jammern und Lachen, schlaflosen Nächten, dem ein oder anderen Säbelgefecht und - seltener noch - dem ein oder anderen luziden Gedanken.
Geht jetzt alle, wo ihr wohnt und singt Lieder in Familie. Denkt aber daran: Jackets immer nur drei Knöpfe; Hemden, Mäntel, Jacken - nie verdeckte Knopfleisten; keine Comicfiguren auf Unterwäsche, außer es handelt sich um Pin-up-Girls, Würfelsets oder dem Bügelbild von Elvis.
Wascht keine Wäsche zwischen den Jahren und kramt für Silvester die rote Unterwäsche raus (ich kontrolliere dann). Für morgen gilt: Es ist der Vorabend von Jesus' Geburt. Gestorben ist er an Karfreitag, das ist der Freitag vor Ostern. Danke.
Daheimgebliebene vertreiben sich die Zeit z.B. auf Smart Cucumber oder schwelgen in der umfangreichen Sammlung von Andy Rosens Punkfotos.
Frohe und be&sinnliche Weihnachten!
(Still ruh'n Kummer & Harm, das ist doch klar.)
