Dienstag, 26. April 2005
There was too many ways that you could kill someone
Like in a love affair, when the love is gone
(New Order, "1963".)
Noch etwas am Fenster sitzen, nachts noch. Im Radio läuft Nancy Sinatras "Bang Bang". My baby shot me down, singt sie, ein wenig leise. Remember when we used to play? weht es heran. Unten am Wasser quakt eine unruhige Ente. Vielleicht sollte ich mir das Rauchen angewöhnen. Ich könnte einen tiefen Zug machen, das rote Glimmen der Zigarette betrachten und die Asche in den Kanal schnippen.
Montag, 25. April 2005
Als junger Student, also irgendwann in den frühen 80ern, stieß ich auf die Arbeiten des österreichischen Psychiaters Leo Navratil. In Landeskrankenhaus in Klosterneuburg/Gugging entdeckte und förderte er das kreative, künstlerische Potential von psychisch Kranken. Seine wissenschaftlichen Arbeiten über Literatur und Schizophrenie und die editorische und kuratorische Tätigkeit im Bereich der bildenden Künste machten ihn und Patienten-Künstler wie "Alexander" oder Oswald Tschirtner (der als "O.T." durch ein Album der Einstürzenden Neubauten bekannt wurde) berühmt.
Navratil stellte fest, daß durch eine Psychose ein poetischer Sprachgebrauch zu Tage treten kann, seiner Theorie nach sind "Kreativität und Psychose [...] kortikale Interpretationen höherer Erregungsstufen des zentralen vegetativen Nervensystems, die sich überschneiden können."
(Literatur und Schizophrenie, 120.)
(Als junger Mensch, wenn man sich sowieso "anders als die anderen" (Family Five), ausgestoßen und "irre" fühlt, zum Dichter berufen sogar, identifiziert man sich mit solchen grenzgängerischen Theorien, die einen durch Selbsterniedrigung zum Erhabenen führen sollen, besonders leicht. "Genie und Wahnsinn" heißen die Schlagworte solcher (post-)pubertären Seelenzustände, wobei die Betonung häufig allzu voreilig auf dem und liegt.)
Der von Navratil zusammengestellte Band Art brut und Psychiatrie (Wien: Brandstätter, 1999.) versammelt einige der eindrucksvollen Zeichnungen, die seine Patienten wie "O.T.", Johann Hauser und August Walla über die Jahre angefertigt haben. Skurille, oft linkische Zeichnungen, die nur vordergründig wie die von Kindern wirken, aber häufig viel besser im Format sitzen oder andere, "reifere" Züge des Gestaltens zeigen. Andere Werke zeigen elaborierte, versponnene, von ideologischen oder religiösen Wahnwelten und Symbolen durchzogene, nachgerade pedantisch ausgeführte Wandgemälde und rohe, den Bildern Dubuffets nahestenden, von sexueller Thematik durchzogene Kritzeleien.
In den umfangreichen Erläuterungen Navratils erfahren wir, wie die kreativen Prozesse durch den Verlauf der Krankheit beeinflußt wurden und wie sich die unterschiedlichen Stile ableiten lassen. Jean Dubuffet gehörte zu den ersten, die das Besondere der Art brut erkannten und förderten. Für ihn war die künstlerische Isoliertheit der psychisch Kranken, das "Primitive" und ihre "Unbelecktheit" von zeitgenössischen künstlerischen Strömungen das herausragende Merkmal einer wirklich eigenständigen Kunst.
Nach Donald W. Winnicot ist alle Kunst nur Mittel, Schmerzen und Enttäuschungen der Realität zu ertragen. Der Schizophrene ist demnach den weitesten Weg gegangen - hat er sich doch eine komplett eigene Welt erschaffen.
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Leo Navratil. Art brut und Psychiatrie. Wien: Brandstätter, 1999.
ders. Gespräche mit Schizophrenen. München: dtv, 1978.
Gotthard Wunberg (Hrsg.). Literatur und Schizophrenie. München: dtv, 1977.
Andreas Franzke. Dubuffet. Köln: dumont, 1990.
Sonntag, 24. April 2005
His name was fake but he was not.
He was no alchemist. No scientist.
No trickster plucking radishes from
top hats. No cup and ball man. No
heaven-born conjurer. But a man who
sought heaven thru natural magic.
He studied our savior's tactics religiously.
He was internally airborne.
(Patti Smith. Ha! Ha! Houdini! 1977.)
Als Kind wollte ich nie Zauberer werden. Ich mochte keine Illusionen und schon gar keine Delusions. Wirkliche Macht, ja. Ein Hexer sein, omnipotent das Böse zurück in die tiefen Lovecraft'schen Brunnen oder Lehrerzimmer stoßen, aus denen es hervorgekrochen war. Aber der simple Kartentrick, das weiße Kaninchen, das ich aus dem Hut ziehen würde, das war nichts für mich. Jetzt auf dem Flohmarkt war ich fasziniert. Welche Mühe sich da jemand gegeben hatte. Vielleicht ein Vater, der so eine Zauberbude für sein Kind gezimmert hatte.
Wie rührend, und wie schön.
Ich begreife langsam, daß ich keinem kleinen Houdini eine solche Bühne basteln werde. Da wird mir niemand mehr was aus dem Hut zaubern. "Überleg dir mal, warum keine Frau ein Kind von dir haben will", giftete mich mal eine an, von der ich dachte, sie wolle es vielleicht. Ich verstand die Frage nicht und wußte auch keine Antwort. Vielleicht, weil ich zuviele Geschichten erzähle. Oder welche erfinde von Zauberern und verwunschenen Bäumen, in denen Schätze verborgen liegen, wenn ich die simplen, die rationalen Antworten nicht wußte.
Gut, das ist für Kinder sicher nicht gut. Die müssen heute so viel wissen. Da kann man sehr viel falsch machen, wenn man nicht aufpaßt. Mir mußte erst ein Vierjähriger sehr ernsthaft erklären, wie das funktioniert mit der Familie. Mit Vater, Mutter, Kind. Auch ihm konnte ich die Frage nicht beantworten, wo denn eigentlich meine Kinder seien. Zu meinem Namen addierte sich keine Funktion.
Gerne hätte ich gesagt, ich bringe die Kohlen rauf (wenn schon nicht nach Haus). Aber man heizt ja heute zentral oder nimmt sich eine Wärmflasche, das ist bequemer so. So war ich mehr Gast, jemand vom Hauspersonal. Na ja, "Freund", sagt man dazu heutzutage. Ein Substitut. Ein Josef. Ein Houdini. Denn der große amerikanische Magier konnte sich nicht nur aus den unmöglichsten Situationen befreien, er blieb auch kinderlos. Eine Folge womöglich der vielen Röntgenversuche, die sein Bruder, ein begnadeter Arzt, an ihm unternahm.
Houdini hatte einen Ziehsohn, den er beim Vaudeville-Theater kennenlernte. Es war der spätere berühmte Filmkomiker Buster Keaton. Der Mann, der nie lachte.
On October 31, with his brother Hardeen at his side, Houdini passed away. His last words were, "I'm tired of fighting". Dann befreite er sich von den letzten Fesseln.
Samstag, 23. April 2005
Haha, Wette gewonnen. Das Bier zahlen also Sie.
Ich kenne/lese Blogs seit etwas über drei Jahren. Mittlerweile glaube ich, daß es im Bloggerland zyklische Ereignisse gibt. Alle Jahre wieder gibt es diese Erscheinung, den Identitätsskandal.
Auffälligerweise stets kurz vor größeren Bloggertreffen...
[Nachtrag: Frau Lisa9 hat einen bezaubernd illustrierten Beitrag zu diesem blogbewegenden Thema verfaßt. Ich bin völlig hingerissen.]
Samstag, 23. April 2005
The images say:
This is what human beings are capable of doing -
may volunteer to do, enthusiastically, self-righteously.
Don't forget.
(Susan Sontag. Regarding the Pain of Others. 2003.)
Letzte Woche wurde die dritte Triennale der Photographie in Hamburg eröffnet. Letzte Woche drängelte sich daher wieder geballte Feuilleton-Prominenz und die jeunesse dorée der Kunstszene auf der Vernissage. Stundenlange Reden und Dankbezeugungen in stickiger Luft sind allerdings nicht mehr so mein Ding, daher werde ich mir die Munckácsi-Ausstellung in den Deichtorhallen lieber in Ruhe anschauen. Die Stills von Hans Hansen und natürlich die Robert Capa-Ausstellung, die heute begann, stehen ebenfalls auf dem Programm.
Bei Robert Morat läuft noch Enver Hirsch, daneben gibt es in zahlreichen weiteren Galerien dies und das zu entdecken. Vlad z.B. bei Levy oder die Hommage an die Schwarzweißfotografie von Grauwert. Gegen Ende der Triennale findet auch der Jahreskongreß des BFF mit Symposien und Ausstellungen statt. Foto satt also, an diesem Tisch finden alle Platz.
(3. Triennale der Photographie in Hamburg, bis 19. Juni 2005. Katalog kostet 10 Euro, Booklet mit allen Ausstellungen und Terminen gratis.)
Donnerstag, 21. April 2005
Wenn man morgens im Radio statt "NDR Info" die Worte "Endlich ein Ufo" hört, dann ist es tatsächlich an der Zeit, über das Thema "Nachtschlaf" nachzudenken. Vielleicht muß ich mich aber auch einfach mal richtig enthemmen. Schließlich ist Frühling, und man könnte zum Beispiel barfuß bloggen. Besser aber ist Exorzismus. Mit Klangrasseln bewaffnet durch die Ecken ziehen, ein bißchen Weihrauch wabern lassen und alle dunklen Raben der Erinnerung durchs offene Fenster treiben.
Dann weicht das Gekrächze tosender Stille. Tödlich oder wie ein Meereswogen, wer weiß das schon. In die Stille hinein bohrt sich nur noch eins: Kein Schreien, kein Stöhnen, nur das Ticken einer alten Küchenuhr.
Mittwoch, 20. April 2005
# Leute, die sich für jede Dummheit, für jedes bequeme "ich kann nicht" gleich eine eigene Kirche bauen. Sozusagen die Sünde zum Ideal erheben; Prahler, die voller Stolz sich noch brüsten. Auch eine Form von Superbia.
# Bei der nächsten Person, die vaterlos aufgewachsen ist und mir erklärt, daß sie diesen "ja nie vermißt" habe, verlasse ich sogleich rückwärts wieder die Wohnung. Notfalls lasse ich Mütze und Schal zurück.
# Man stellt es immer wieder fest: Leute, die sich selbst als "tolerant" bezeichnen, sind häufig die schärfsten Dogmatiker.
# Gilt für fast alles. Leute, die von "Freiheit" faseln und die Wohnung verriegeln, wenn die anderen gehen wollen.
# Heilslehrenverkäufer, die anderen "schärferes Nachdenken" ("Erwachet!") nahelegen und bei Gegenwind weinen oder gleich den großen Knüppel rausholen. Faschokeule ist auch immer gut. Oder "Spießer". In solchen Augen oftmals noch der schlimmere Vorwurf.
# Ich habe natürlich den Vorteil, einen Platz in der Vorhölle sicher zu haben. Bausparvertrag brauche ich also nicht.
# Im Zoo immer von links nach rechts laufen, um die Tiere zu foppen.
# Grübelsex. Ich mach's die ganze Nacht.
# Bei Diskussionen immer noch ein Förmchen oder Schüppchen im Ärmel haben, um dem anderen eins übern Kopf hauen zu können. Notfalls halt mit Sand werfen.
# ...
# Mal schlafen gehen.