
Montag, 28. Februar 2005
"Das betäuben wir lokal?" fragt sie. "Besser wäre es wohl oder schlagen Sie eine Alternative vor?" - "Wir haben noch einen Hammer für schwierige Fälle." - "Den kenne ich schon von daheim", behaupte ich und tue so, als würde sich dort jemand um mich kümmern.
"Der wirkt bestimmt bei mir nicht mehr, daran bin ich gewöhnt." Sie lacht und strahlt mich mit ihren blauen Augen an. Sie weiß, gleich werde ich kein dummes Zeug mehr reden können. Der Doktor schweigt. Ich weiß, er sehnt sich nach einer Zigarette. Dann legt sie mir das Tuch über das Gesicht, und ich höre für eine geraume Weile nur noch das Geräusch des Bohrers in meinem Kopf.
Wozu habe ich einen Dremel, denke ich und merke, das irgendetwas mit meinem Kreislauf ist. Das Adrenalin aus der Betäubungsspritze wirkt. Mit vielem Zubehör und - am Allerwichtigsten - einer biegsamen Welle. Die kann man für alles gebrauchen. Aber heute morgen lag überall Schnee, eine frische, blütenweiße Decke, und meine Finger waren klamm.
Als sie mir Tuch wieder wegzieht, streicht sie mir mit einer beinahe zärtlichen Geste eine Strähne verschwitzten Haars aus der Stirn. Dann setzt sie mir fürsorglich die Brille auf. Ich kann wieder ihre Augen sehen. "Wie kommen Sie denn jetzt heim?" fragt sie. "Ich nehme mir ein Taxi", lüge ich.
Auf der Treppe denke ich, vielleicht sollte ich wirklich mal eins nehmen. Aber dann nimmt man mir in der Apotheke 35,- Euro für Antibiotika und Schmerzmittel ab, von denen ich zuhause selbst genug habe. Bleibt es also doch bei der U-Bahn. Als ich die Ohrhörer einsetzen will, merke ich, daß ich kein linkes Ohr mehr habe. Irgendwie bekomme ich aber doch den kleinen Knopf in dieses Loch an der Seite meines Kopf gestopft. Autolux, "Here Comes Everybody" oder Xiu Xiu, "Crank Heart". Irgendetwas.
Draußen liegt Schnee. Er sieht gar nicht mehr so weiß und unberührt aus. Auf meinem Gesicht liegt eine Kühlkompresse. Ich wünschte, es wären die kühlen zarten Hände der OP-Schwester. Vorsichtig taste ich mit dem, was mal meine Zunge war, nach der Schraube in meinem Mund.

Sonntag, 27. Februar 2005
Angesichts des Winterwetters draußen all überall, gibt es Gelegenheit, die alten unschuldigen Kinderfreuden noch einmal auszuprobieren.

Mit Strindberg im Park. (via Wurzeltod, woher sonst.)
Haha, noch besser: Mein Name ist Kid. Kid37. Von gestern abend, sozusagen.
Und am Ende gibt es, wenn man Glück hat, einen Muffin.
Sehr!

Ich habe irgendwann einmal beschlossen, nachts (und mit einem gewissen Promillewert) nicht mehr öffentlich zu schreiben. (via Evasive)

I've never done good things
I've never done bad things
I never did anything out of the blue
(David Bowie, "Ashes to Ashes")
"Und dann hast du mich mit meinem neuen Freund auf der Straße getroffen, Gott, war das peinlich." - "Ja, das lief wohl zwei, drei Wochen parallel..." "Höchstens eine Woche! Und außerdem hatte ich mich da sowieso nicht gemeldet." Sie strahlt mich an mit ihrem entwaffnendem Lächeln und ich strahle zurück, und ich weiß, in diesem Moment sind wir uns sehr nah, und ich weiß, ich mag sie wirklich sehr, sehr gern. "Gab es da nicht noch so ein Gerangel zwischen euch Typen?" Haha. Wir lachen, schwelgen in Erinnerungen.
Wie lange ist das her? 15 Jahre? Wir zucken mit den Achseln.
Und dann so viele Gedanken. Ashes to Ashes. Damals, kaltes Licht der Frühe. Man kehrte heim aus der Nacht, entlang endloser S-Bahn-Gleise, durch die dunklen Wuppertaler Treppenstiegen und Unterführungen. Blaues Licht in den Discos und die kalte Musik. Und einmal, Silvester, auf so einer Hippieparty, zogen sich plötzlich die Mädchen aus und tanzten, und ich weiß, ich fand das damals sehr bizarr, ich war so 17, 18, und eine fremde, extraterrestrische Welt, the shrieking of nothing is killing/just pictures of jap girls in synthesis.
Und dann, zwanzig Jahre später, ein Silvester, verließ meine Freundin um Viertel vor Zwölf das Haus, keine Minute früher. Und zog sich später wohl aus, auf irgendeiner Hippieparty, keine Ahnung, ich war ja nicht dabei, aber ich weiß, ich fand das sehr bizarr und extraterrestrisch. Und es war auch nicht so ganz schön, daß Tage später ihr Name rund um unser Haus und an die S-Bahnstation gesprüht war, mit Herzen drumherum und Initialen, die ich nicht kannte. They got a message from the action man/I'm happy, hope you're happy too. Und ich habe, glaube ich, ein wenig geschrien. Ist ja schon was her.
Dann am Hafen entlangfahren, durch das kalte, gefrorene Licht. Manchmal ist es einsam, und im Player singt David Bowie want an axe to break the ice/want to come down right now, und ich ahne, dieses Eis bricht keiner mehr.
Was danach besprochen wurde, war bloßes Entgegenkommen, eigentlich nicht die Spucke wert. Heute weiß ich, dieses Silvester war nur der Auftakt, das nächste Mal wurde höchstens wilder. Heimlich war sie stolz, exaltiert, berauscht. Heute weiß ich, daß sie wie ein Junkie nur noch die Droge sah. Daran schmerzt heute nur eins: die endgültige Desillusionierung. Strung out on heaven's high/hitting an all time low.
Das sind Geschichten anderer Menschen. Denn meine eigene werde ich nicht mehr erzählen. Genau drei Menschen wissen davon. Dieser Freundin erzählte ich sie auch, damals nach diesem Silvester. Sie hat sie kurz darauf vergessen. "Erzähl es halt noch mal", meinte sie, eher genervt. Und strahlte mich nicht an mit einem entwaffendem Lächeln, auf eine Art, die Entschuldigungen überflüssig macht, weil die implizit sind und weil darin eine Wärme liegt, in der man sich geborgen fühlt. In ihrem Blick lag nur das Achselzucken des Junkies, der sich nach dem nächsten Schuß sehnt. One flash of light, but no smoking pistol.
Zu Hause wartet eine eMail. "Herr Kid, Sie haben schon soviel Zeit verschwendet. Verschwenden Sie nicht noch sich." Ich zucke mit den Achseln.

Samstag, 26. Februar 2005
Viele Behandlungen nehme ich seit Jahr und Tag selber vor. Entgiftung, Vasektomie, Lobotomie - alles ist in guten Händen bei Dr. Kid. Nur im kardiologischen Bereich tue ich mich schwer. Operationen am gebrochenen Herzen gehen bei mir regelmäßig schief. Die Patienten leben weiter, sicherlich. Aber sie scheinen wie Gestalten aus Dawn of the Dead. Dumpf und ausdrucklos, so verlassen sie die Praxis.
Wenn Igor mich fragend anschaut, zucke ich für gewöhnlich die Achseln und lege das rostige OP-Besteck zurück in die Schale. "Was weg ist, kann nicht mehr verletzt werden", sage ich. "Und, immerhin, sie laufen noch."
Eines Tages werden sie mir dankbar sein.

Samstag, 26. Februar 2005
Der Ringelstrumpf der Woche. Die polnische Fotografin Ewa Brzozowska macht auch sonst recht ordentliche Sachen.

Andere bekommen Sachen aus ihrer Amazon-Wunschliste, getragene Unterwäsche oder unzüchtige Fotos - ich bekomme Schokolade geschickt.
Ich bin gerührt. Ich bin sehr gerührt. Eine gute Tat.
Vielen Dank. Ungelogen.

Ich habe das Buch "Mein wunderbarer Massenselbstmord". Da habe ich gleich an dich gedacht. Ich bringe dir das mal mit.
Sie sind so nett zu mir.

Donnerstag, 24. Februar 2005
Hm. Im Leben bekommt man ja für alles mögliche die Quittung. Was aber, um Himmels willen, fange ich hiermit an. Ist das eine Betriebsausgabe? Werbungskosten? Arbeitsanzug? Was hat der Hase da zu schaffen? Bin ich Donnie Darko?
Ein wenig müde jedenfalls, denn die gestrige Nacht war kurz, weil die dicke gelbe Larve am Himmel als Schwingungsverstärker wirkte. Dabei hatte ich den Abend schon damit verbracht, ein wenig zu brechen und ein wenig zu weinen. Dann wieder ein wenig zu brechen. Vielleicht hätte ich mich besser an einen Busen aus Weichplastik kuscheln sollen.
Heute entschlüpfte mir der Satz, daß auch schon Menschen beim Grübeln gestorben seien. Sehr zum Beifall meines Gegenübers. Manchmal muß man einfach mal was tun und nicht immer nur zögern und zaudern und, ach, ein Wägen und ein Wiegen und ein Messen betreiben. Nachmittags brauchte ich dann meinen lose mitgeführten Deckenhaken. Ich schraubte ihn außen unter meinem Fenster in der Fabrik in die Wand. Für den Fall, daß ich mich schnell dort abseilen muß.

Heeerr Kiiid, wie ist das mit ihren Superkräften?
Ich habe einen Psycholetten-Magneten. Den schalte ich ein, dann kommen die und machen alle fertig.

I hope I lie.
And tell everyone
you were a good wife.
(The Mountain Goats, "No Children")
Am Ende blieb die Erkenntnis, daß die zweifelhaften Anzeichen eines Bedauerns, nie Reue, sondern immer nur dem Augenblick geschuldet waren. Am Ende blieb unverhohlener Stolz auf das Tun, das Treiben, die Abenteuer, die nie "wild" und verdrängend genug sein konnten. Vanitas, oszillierend zwischen unaufgefordert erzählten Details und einem hingehauchten "Verzeihung".
Fragen nach Moral und Loyalität dadurch pariert, daß einem eigene Verfehlungen nachgewiesen wurden. Der billige Triumph, "Heuchler" zu rufen, um sich weiteres Nachdenken sparen zu können. So als sei es ein Fußballspiel, bei dem am Ende die Tore gezählt werden, um einen Sieger zu ermitteln.
Das Mißachten sozialer Beißhemmungen als Freiheit verstehen. Sich über Regeln stellen und doch nur Sklavengedanken denken. Die Idee, Mitmenschen als fühlende Wesen zu begreifen - ein fremder Gedanke. Rustikal in jeder Beziehung blieb nur stete Verachtung für den, der sich zu schwach zeigte für den rigorosen Vitalismus, der als Götze diente. Alleine sein, allerdings, und konsequent absolut und absolut konsequent kam dennoch nicht in Frage. Es blieb ein gelebter Lore-Roman.
Das bacchantische Treiben, bei dem Gewalt nicht mit Leidenschaft und Blut nicht mit Liebe verwechselt wird, erfordert jedoch eine Freiheit, die allent- lassend ist. Etwas Absolutes, ganz wie ein Ideal. Diese Freiheit, immerhin, habe ich als letztes Geschenk geben können. Es fiel leicht, weil die Manipulationen erstmals nicht mich ins Ziel nahmen. So waren sie als das zu erkennen, was sie waren: Plumpe Zerstörungswut, getarnt unter dem armseligen Mantel aus angeblich wohlwollender Aufklärung.
Für gewöhnlich wünscht man sich dann Glück. Und alles Gute.
Das also kann ich tun. Aus freiem Herzen.

Mittwoch, 23. Februar 2005
Auf dem Bahnhof ist es einfach. Eine Lautsprecheransage klärt darüber auf, wann man zurücktreten muß. Die Türen schließen sich selbsttätig, es ertönt ein Pfiff, eine Kelle wird gewunken. Dann setzt sich die Lok in Bewegung, ein letztes Winken, bis man Türen und Fenster und einzelne Waggons nicht mehr voneinander unterscheiden kann.
Dort, wo es nur Worte, Andeutungen und leise Zwischentöne sind, eine Randbemerkung, die über das Ende des Bahnsteigs huscht, dort wird ein Pfiff nicht ertönen. Manchmal ist es die Stille, die gerade nur einen Augenblick zu lange dauert, oder ein Blick, der sein Ziel vermeidet.
Am Ende bleibt es sich gleich. Der Zug ist abgefahren.

Dienstag, 22. Februar 2005
Noch schnell die Frage zum ausklingenden Montag: Gibt es eigentlich etwas innerlich berührenderes als bei nahendem Vollmond das Elster-Programm zu installieren?
Nach heutigen Erfahrungen muß ich sagen: nein.
