
Freitag, 18. Juni 2004
"Es war schon richtig, daß ich vor keinem Dieb Angst hatte, außer vor mir. Dieser Dieb aber hat nur ein Ziel: mir nichts zu lassen."
(Katherine Anne Porter, "Diebstahl", 1930.)

Dienstag, 15. Juni 2004
Aus dem Notizbuch: Die unglückliche Liebe ist kein sanftes Ruhekissen.

Sonntag, 13. Juni 2004
Angenommen, da gibt es eine Sache, die man unbedingt haben will. Ja muß, denn ein unzähmbarer innerer Drang zieht einen immer wieder in die Nähe dieser Angelegenheit. Eine Obsession also, eine fesselnde Leidenschaft.
Nun aber heißt es, das Ding sei nicht zu haben. Sie müssen sich auf eine Warteliste begeben. Noch ist es nicht so weit, die Sache ist nicht reif, es braucht noch Zeit, so einfach geht das nicht.
Weil es eine wahre Obsession ist und man festgestellt hat, daß man keine Minute länger mehr leben kann, ohne diese Sache, weil nur so die schmerzliche, schwarze Lücke im nun als ärmlich und kläglich empfundenen Leben ausgefüllt werden kann, nun, deshalb wartet man. Wird immer mal wieder vorstellig, klopft an die verschlossene Türe, fragt, wie es denn nun um den Fortgang der Sache bestellt sei, wie lange man noch warten muß. Zeigt sein Interesse, bringt sich in Erinnerung, verteilt schon mal kleine, sorgsam ausgewählte, nicht zu übertrieben luxuriöse Bestechungsgeschenke, um die Angelegenheit vielleicht etwas zu beschleunigen.
Letztere zeigen auch etwas Wirkung. Ab und an darf man nämlich nach hinten, in die Werkräume, und die Sache schon einmal betrachten. In seltenen Stunden ist es sogar erlaubt, die Sache in die Hand zu nehmen, sie anzufassen und überall zu berühren. Das ist schön. Es fühlt sich gut an. Man spürt, man muß es haben, für immer.
Aber meistens ist es wie bei Kafka, der Hüter der Sache blickt gleichgültig und schickt einen fort, ein ums andere Mal. Frag später noch mal nach, heute nicht. Nein, es geht nicht. Die Zeit ist noch nicht...
Irgendwann, nachdem man schon erschöpft ist, bereit, die Sache endgültig aufzugeben, weil das Leben sich nur noch um diese eine Angelegenheit dreht, und weil man ahnt, daß man es doch nie bekommen wird, egal, was man tut und egal, wie oft man noch vorsprechen wird, irgendwann plötzlich, man hat also schon nicht mehr daran geglaubt, es innerlich fast aufgegeben, dann auf einmal erhält man die Nachricht: Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, daß die Sache nun erhältlich ist.
Freude. Aber auch Erschöpfung. So lange. So lange. Aber nun. Neue Aufgaben warten, die Sache will eingesetzt, ins nun bereicherte Leben eingefügt werden.
Dann, durch Zufall, eine unbedachte Bemerkung, jemand läßt die Worte beiläufig fallen. Die Sache, nun, sie war die ganze Zeit frei erhältlich. Beinahe jeder hat sie mal gehabt, manche länger, manche nur für einen Abend, einen Tag, vielleicht eine halbe Saison. Es war nämlich überhaupt unkompliziert, man ging hin, nahm es einfach mit und brachte es irgendwann zurück.
Die Türen standen immer offen.
Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: "Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn." (Franz Kafka, "Vor dem Gesetz")

Samstag, 12. Juni 2004
Viel Noise um die Rückkehr der Pixies, sicherlich eine der einflußreichsten Bands der späten 80er, frühen 90er Jahre.
Mir war der Lärm um die Pixies ja immer einen Tick zu groß, was aber hauptsächlich daran lag, daß die falschen Menschen in meinem damaligen Umfeld plötzlich zu Pixies-Bekloppten wurden. Dafür kann Frank Black wenig, Kim Deal noch weniger, und gar nichts dafür kann deren ebenfalls rauchende Schwester Kelley Deal.
(In diesem Zusammenhang könnte man mal einen liebevollen Seitenblick auf die an den Musikküsten des Vergessens gestrandetenVeruca Salt werfen, deren einziger wirklicher Hit, "Seether", ja im Refrain so gesungen wurde: "Sounds like the Breeders...")

Er: Diese immer wiederkehrenden Gewaltausbrüche halte ich nicht aus. Ich muß mir eine eigene Wohnung nehmen.
Sie: Wieso, nimm dir doch ein Hotelzimmer.

Freitag, 11. Juni 2004
Er war ein äußerst entschlossen aussehender junger Mann mit einem wilden Blick - ein ausgesprochener Skorpion. Er schien uns um Erlaubnis zu bitten, sich auf dem Teppich zu wälzen, Lolita in die Fußknöchel zu beißen und das Sherryglas durch die Fensterscheibe schmeißen zu dürfen. Etwas, das nur entfernt mit seinem Beruf zusammenhing, verzehrte ihn innerlich. [...]
Zuerst war es ziemlich schwierig, festzustellen, wo er sich inmitten der fliegenden Schrapnelle befunden hatte. [...] Er war aus Warschau vertrieben, in Rotterdam ausgebombt, in Dünkirchen aufs Meer hinaus abgedrängt worden, er war bei den Thermopylen abgestürzt, nach Kreta geflogen und von einem Fischerboot gerettet worden, und nun befand er sich schließlich irgendwo in der Wildnis Australiens, wo er sich mit wenig Nahrung, die er von den Kannibalen des Hochplateaus bekam, am Leben hielt. [...] Er benutzte alle Fürwörter - persönliche, reflexive und besitzanzeigende - unterschiedslos durcheinander. Manchmal steuerte er ein Flugzeug, dann wieder war er nur ein Nachzügler und Freibeuter im Gefolge eines geschlagenen Heeres. In einem Augenblick lebte er von Mäusen und Heringen, im nächsten goß er sich mit Champagner voll wie Erich von Strohheim. Aber in jeder Lage, ganz gleich zu welcher Zeit und an welchem Ort, war er tief unglücklich. Worte können nicht beschreiben, wie unglücklich er sich fühlte; so wollte er es uns wenigstens suggerieren.
(Henry Miller, "Astrologisches Frikassee", 1941.)

Donnerstag, 10. Juni 2004
Ich will so kalt sein, dass alle erfrieren
Will mich nie mehr verlieben, um nie mehr zu verlieren
Es dauert noch, bis ich begreife, was das heißt:
Es ist vorbei, ich weiß nicht, warum
(Die Ärzte, "Nichts in der Welt")

Man kann seine Pubertät nicht immer nur unter der Bettdecke suchen.
Dachte ich mir, und hielt es für an der Zeit, nach längerer Zeit mal wieder ein Konzert der nach feststehender Rede "besten Band der Welt" zu besuchen.
Eine schwer nette Punkette hatte zwei Karten aufgetrieben, ich weißnichtwoherundwillsauchnichtwissen, und gut war.

Wie immer waren die Herren Doktores schwer in Ordnung, das Publikum, nun ja. Im Vorfeld hat mich schon der hohe Anteil an, nun sagen wir mal, Prollrockern gewundert, die sich mit Popcorn, Nachos und falschem Bier (Holsten! Kein Astra!) eindeckten - zu Beträgen, für die ihre Eltern in, sagen wir mal, Pinneberg, etliche Sonderschichten haben einlegen müssen. Bands wie die Ärzte haben im reservierten hanseatischen Klima einen schweren Stand, "Westerland" hin oder her. Das fiel sogar den Hauptaktiven auf der Bühne auf. "Die Ärzte rocken - Hamburg schweigt", wurde bald zum geflügelten Wort.
"Hallo Hamburg, seid ihr noch da?"
Ansonsten wurden übliche Rituale abgefeiert, Dreitagebärte aus den Schubladen geholt, Schäferhunde durch falsche Stücke gehechelt, bekannte Politiker mit "Wassersport" in Verbindung gebracht... alles ganz gut dosiert.

Nochmal zum Publikum. Die Ärzte gehören ja zu den Bands, die selbst Plätze wie die Wuppertaler Unihalle zum rocken bringen, aber toter Fisch kann nicht rocken, har har. Elegante Überleitung, denn: Meine Begleitung brachte noch einen anderen delikaten Punkt zur Sprache. Auf dem Damenklo lag wohl tatsächlich eine EINFÜHRHILFE rum. Es gibt diese Dinger also tatsächlich in freier Wildbahn! Wahnsinn. Mir fiel ein, daß ein entfernter Bekannter als Student mal bei Johnson&Johnson or whatever gejobbt hat. Zu seinen Aufgaben gehörte das ENTGRATEN DER EINFÜHRHILFEN. Nun kann ich ja nicht wirklich viel dazu sagen, zugegeben, aber Frauen, die ich so kenne, liegen regelmäßig am Boden bei Erwähnung dieses, sagen wir mal, Distanzierungsapparats.
Und nun liegt so ein Teil, sauber entgratet hoffentlich, im Klo bei einem Ärzte-Konzert. Sweet, sweet Gwendoline!

Nun gut. Das nur nebenbei. Es ging ja auch um Pubertät. "Ficken gegen das System", halbe Liebeslieder, ("Soll es das gewesen sein?"), alles zu spät. Grenzgänge am Rande der Geschmacklosigkeit. Wehmütige Erinnerungen auch. Wie lange ist "Richy Guitar" eigentlich schon her?
Sehr lange. Zu lange, vielleicht.
"Ich hoffe, meine Worte machen es nicht noch schlimmer."
Liebe ist nur ein Traum, eine Idee und nicht mehr.
Tief im Inneren bleibt jeder einsam und leer.
Es heißt, dass jedes Ende auch ein Anfang wär'.
Doch warum tut es so weh und warum ist es so schwer?
(Die Ärzte, "Nichts in der Welt")

Mittwoch, 9. Juni 2004
Dachte ich gestern abend noch. Aber so heftig hätte ich es nicht gleich machen müssen. Mit Elektroden in den Schläfen hätte ich mir allerdings einen tüchtigen Energieschub verpassen können.
Imposante Kulisse, heute morgen um acht. Vor meiner Fensterfront eine Wasserwand, daß man dachte, der Kanal habe sich senkrecht gestellt. Die graue Wasserwelt durchzuckt von stroboskopartigen Lichtern.
Dazu noiselastige Bassdrums. Tolles Konzert.
Jetzt ist auch erstmal Schluß mit dem Samenflugschneegestöber der letzten drei Tage.
... und nun zurück zu den Nachrichten.

Als Frau Sonne und ich neulich über den Zentralfriedhof flanierten, fiel mir ein Spruch ein, den ich früher oft zu hören bekam. "So wie du arbeitest, möchte ich Urlaub machen."
Nun dachte ich, so wie die begraben liegen, möchte ich einmal wohnen. Der kleinbürgerliche, im Sinne Batailles "unbefreite", Spießer wie ich entlarvt sich ja durch seine Vorliebe für architektonische Girlanden, Türmchen, Zinnen und bauwerklichen Zierrat, gleich dem er Zweckbauten mit kitschigem Tand behängt, als seien es Weihnachtbäume. Das mag sein, malerisch ist es allemal. Und wo, bitt'schön, darf man ein kleines Herz haben, wenn nicht auf dem Friedhof.
Dorthin gelangt man schnell in Wien. Nicht nur, daß man darauf achten muß, welches Brot einem scheinbar harmlose Rentner im Park anbieten. Könnte sein, daß sie damit gerade noch Tauben vergiften wollten, wie es in dem Lied heißt.
Auch der Straßenverkehr bietet Gefahr. Zebrastreifen, so lernte ich nämlich auf die harte Tour, haben auf Wiener Straßen eher dekorativen Charakter. Ampeln sind zudem gern hoch über jeglicher Augenhöhe in der Kreuzungsmitte angebracht. Eine echte Piefkefalle. Dürfte speziell für Ostdeutsche tendenziell letale Wirkung entfalten, halten diese doch meiner bescheidenen Erfahrung nach Zebrastreifen für Fußgängerüberführungen, auf denen Automobile schlichtweg nicht zu erwarten sind.
Alles ist vergänglich.
Als wir im Hawelka saßen, eine existentialistisch angehauchte Melange schlürften, und ich mir die kulturhistorisch bedeutsamen Bruchkanten und offenliegenden Tapetenschichten an den Wänden betrachtete, fiel mir kurz Frl. Sylvia ein. Sie konnte den besten Cappuccino in meiner Heimatstadt bereiten und formvollendet servieren (nicht wie diese lustlosen, man kann es nicht anders sagen, Studentenschlunzen, die noch nie davon gehört haben, daß die Oberfläche einer Flüssigkeit sich nicht parallel zur Untertasse, sondern zum Erdboden ausrichtet. Vom Glas Wasser, das zu einem vernünftigen Cappuccino gehört, mal gar nicht zu reden).
Frl. Sylvia war immer verliebt gewesen in Wien. Nicht in mich, leider. Dabei war ich, wie die Hälfte ihrer Gäste, ein wenig in sie verliebt. Frl. Sylvia war immer sehr distanziert und verbreitete eine Aura des distinguierten ne me touche pas, daß es eine Freude war.
Einmal jedoch berührte sie meinen Arm. Sie wollte in den Süden gehen. Sie faßte mich an, und ließ mich eine lange Zeit nicht mehr los. Wir gaben uns noch die Hand und wieder faßte sie meinen Unterarm. Wir haben das beide verstanden.
Nun aber, Jahre später, standen Frau Sonne und ich im Regen auf dem Zentralfriedhof zwischen verwitterten Grabsteinen, eine kurze Gegenwart inmitten lauter Vergangenheit.
So dreht sich das Rad.
Zurück in Hamburg, nach einem Flug über strahlende Wolken, bloß andere Begegnungen, Botschaften aus einer anderen Vergangenheit. Etwas Vergebliches, leichenähnliches. Eine Lüge. An sich selbst und anderen. Ein Tropfen Blut, der ins Wasser fällt, einen langen dünnen Faden zieht, und herabsinkt. Dazu eine eigentümliche Melodie, eine Totenklage. Mehr nicht.
"Rückwärts nimmer..." - wie letzter Hohn, an Stelle einer letzten, sehnsuchtsvollen Berührung, ehe man nach Süden geht.
Keine Botschaft. Die Toten grüßen nicht. Sie haben nur Grabsteine.
You must be known then with messages you must return... to be seen by demanding hands and touches of jealous men invisible and forgivable to all their secret hands... Behind those clouds I'm almost home.
(Blonde Redhead, "Messenger")
