Freitag, 11. Juni 2004
Er war ein äußerst entschlossen aussehender junger Mann mit einem wilden Blick - ein ausgesprochener Skorpion. Er schien uns um Erlaubnis zu bitten, sich auf dem Teppich zu wälzen, Lolita in die Fußknöchel zu beißen und das Sherryglas durch die Fensterscheibe schmeißen zu dürfen. Etwas, das nur entfernt mit seinem Beruf zusammenhing, verzehrte ihn innerlich. [...]
Zuerst war es ziemlich schwierig, festzustellen, wo er sich inmitten der fliegenden Schrapnelle befunden hatte. [...] Er war aus Warschau vertrieben, in Rotterdam ausgebombt, in Dünkirchen aufs Meer hinaus abgedrängt worden, er war bei den Thermopylen abgestürzt, nach Kreta geflogen und von einem Fischerboot gerettet worden, und nun befand er sich schließlich irgendwo in der Wildnis Australiens, wo er sich mit wenig Nahrung, die er von den Kannibalen des Hochplateaus bekam, am Leben hielt. [...] Er benutzte alle Fürwörter - persönliche, reflexive und besitzanzeigende - unterschiedslos durcheinander. Manchmal steuerte er ein Flugzeug, dann wieder war er nur ein Nachzügler und Freibeuter im Gefolge eines geschlagenen Heeres. In einem Augenblick lebte er von Mäusen und Heringen, im nächsten goß er sich mit Champagner voll wie Erich von Strohheim. Aber in jeder Lage, ganz gleich zu welcher Zeit und an welchem Ort, war er tief unglücklich. Worte können nicht beschreiben, wie unglücklich er sich fühlte; so wollte er es uns wenigstens suggerieren.
(Henry Miller, "Astrologisches Frikassee", 1941.)
Donnerstag, 10. Juni 2004
Ich will so kalt sein, dass alle erfrieren
Will mich nie mehr verlieben, um nie mehr zu verlieren
Es dauert noch, bis ich begreife, was das heißt:
Es ist vorbei, ich weiß nicht, warum
(Die Ärzte, "Nichts in der Welt")
Man kann seine Pubertät nicht immer nur unter der Bettdecke suchen.
Dachte ich mir, und hielt es für an der Zeit, nach längerer Zeit mal wieder ein Konzert der nach feststehender Rede "besten Band der Welt" zu besuchen.
Eine schwer nette Punkette hatte zwei Karten aufgetrieben, ich weißnichtwoherundwillsauchnichtwissen, und gut war.
Wie immer waren die Herren Doktores schwer in Ordnung, das Publikum, nun ja. Im Vorfeld hat mich schon der hohe Anteil an, nun sagen wir mal, Prollrockern gewundert, die sich mit Popcorn, Nachos und falschem Bier (Holsten! Kein Astra!) eindeckten - zu Beträgen, für die ihre Eltern in, sagen wir mal, Pinneberg, etliche Sonderschichten haben einlegen müssen. Bands wie die Ärzte haben im reservierten hanseatischen Klima einen schweren Stand, "Westerland" hin oder her. Das fiel sogar den Hauptaktiven auf der Bühne auf. "Die Ärzte rocken - Hamburg schweigt", wurde bald zum geflügelten Wort.
"Hallo Hamburg, seid ihr noch da?"
Ansonsten wurden übliche Rituale abgefeiert, Dreitagebärte aus den Schubladen geholt, Schäferhunde durch falsche Stücke gehechelt, bekannte Politiker mit "Wassersport" in Verbindung gebracht... alles ganz gut dosiert.
Nochmal zum Publikum. Die Ärzte gehören ja zu den Bands, die selbst Plätze wie die Wuppertaler Unihalle zum rocken bringen, aber toter Fisch kann nicht rocken, har har. Elegante Überleitung, denn: Meine Begleitung brachte noch einen anderen delikaten Punkt zur Sprache. Auf dem Damenklo lag wohl tatsächlich eine EINFÜHRHILFE rum. Es gibt diese Dinger also tatsächlich in freier Wildbahn! Wahnsinn. Mir fiel ein, daß ein entfernter Bekannter als Student mal bei Johnson&Johnson or whatever gejobbt hat. Zu seinen Aufgaben gehörte das ENTGRATEN DER EINFÜHRHILFEN. Nun kann ich ja nicht wirklich viel dazu sagen, zugegeben, aber Frauen, die ich so kenne, liegen regelmäßig am Boden bei Erwähnung dieses, sagen wir mal, Distanzierungsapparats.
Und nun liegt so ein Teil, sauber entgratet hoffentlich, im Klo bei einem Ärzte-Konzert. Sweet, sweet Gwendoline!
Nun gut. Das nur nebenbei. Es ging ja auch um Pubertät. "Ficken gegen das System", halbe Liebeslieder, ("Soll es das gewesen sein?"), alles zu spät. Grenzgänge am Rande der Geschmacklosigkeit. Wehmütige Erinnerungen auch. Wie lange ist "Richy Guitar" eigentlich schon her?
Sehr lange. Zu lange, vielleicht.
"Ich hoffe, meine Worte machen es nicht noch schlimmer."
Liebe ist nur ein Traum, eine Idee und nicht mehr.
Tief im Inneren bleibt jeder einsam und leer.
Es heißt, dass jedes Ende auch ein Anfang wär'.
Doch warum tut es so weh und warum ist es so schwer?
(Die Ärzte, "Nichts in der Welt")
Mittwoch, 9. Juni 2004
Dachte ich gestern abend noch. Aber so heftig hätte ich es nicht gleich machen müssen. Mit Elektroden in den Schläfen hätte ich mir allerdings einen tüchtigen Energieschub verpassen können.
Imposante Kulisse, heute morgen um acht. Vor meiner Fensterfront eine Wasserwand, daß man dachte, der Kanal habe sich senkrecht gestellt. Die graue Wasserwelt durchzuckt von stroboskopartigen Lichtern.
Dazu noiselastige Bassdrums. Tolles Konzert.
Jetzt ist auch erstmal Schluß mit dem Samenflugschneegestöber der letzten drei Tage.
... und nun zurück zu den Nachrichten.
Als Frau Sonne und ich neulich über den Zentralfriedhof flanierten, fiel mir ein Spruch ein, den ich früher oft zu hören bekam. "So wie du arbeitest, möchte ich Urlaub machen."
Nun dachte ich, so wie die begraben liegen, möchte ich einmal wohnen. Der kleinbürgerliche, im Sinne Batailles "unbefreite", Spießer wie ich entlarvt sich ja durch seine Vorliebe für architektonische Girlanden, Türmchen, Zinnen und bauwerklichen Zierrat, gleich dem er Zweckbauten mit kitschigem Tand behängt, als seien es Weihnachtbäume. Das mag sein, malerisch ist es allemal. Und wo, bitt'schön, darf man ein kleines Herz haben, wenn nicht auf dem Friedhof.
Dorthin gelangt man schnell in Wien. Nicht nur, daß man darauf achten muß, welches Brot einem scheinbar harmlose Rentner im Park anbieten. Könnte sein, daß sie damit gerade noch Tauben vergiften wollten, wie es in dem Lied heißt.
Auch der Straßenverkehr bietet Gefahr. Zebrastreifen, so lernte ich nämlich auf die harte Tour, haben auf Wiener Straßen eher dekorativen Charakter. Ampeln sind zudem gern hoch über jeglicher Augenhöhe in der Kreuzungsmitte angebracht. Eine echte Piefkefalle. Dürfte speziell für Ostdeutsche tendenziell letale Wirkung entfalten, halten diese doch meiner bescheidenen Erfahrung nach Zebrastreifen für Fußgängerüberführungen, auf denen Automobile schlichtweg nicht zu erwarten sind.
Alles ist vergänglich.
Als wir im Hawelka saßen, eine existentialistisch angehauchte Melange schlürften, und ich mir die kulturhistorisch bedeutsamen Bruchkanten und offenliegenden Tapetenschichten an den Wänden betrachtete, fiel mir kurz Frl. Sylvia ein. Sie konnte den besten Cappuccino in meiner Heimatstadt bereiten und formvollendet servieren (nicht wie diese lustlosen, man kann es nicht anders sagen, Studentenschlunzen, die noch nie davon gehört haben, daß die Oberfläche einer Flüssigkeit sich nicht parallel zur Untertasse, sondern zum Erdboden ausrichtet. Vom Glas Wasser, das zu einem vernünftigen Cappuccino gehört, mal gar nicht zu reden).
Frl. Sylvia war immer verliebt gewesen in Wien. Nicht in mich, leider. Dabei war ich, wie die Hälfte ihrer Gäste, ein wenig in sie verliebt. Frl. Sylvia war immer sehr distanziert und verbreitete eine Aura des distinguierten ne me touche pas, daß es eine Freude war.
Einmal jedoch berührte sie meinen Arm. Sie wollte in den Süden gehen. Sie faßte mich an, und ließ mich eine lange Zeit nicht mehr los. Wir gaben uns noch die Hand und wieder faßte sie meinen Unterarm. Wir haben das beide verstanden.
Nun aber, Jahre später, standen Frau Sonne und ich im Regen auf dem Zentralfriedhof zwischen verwitterten Grabsteinen, eine kurze Gegenwart inmitten lauter Vergangenheit.
So dreht sich das Rad.
Zurück in Hamburg, nach einem Flug über strahlende Wolken, bloß andere Begegnungen, Botschaften aus einer anderen Vergangenheit. Etwas Vergebliches, leichenähnliches. Eine Lüge. An sich selbst und anderen. Ein Tropfen Blut, der ins Wasser fällt, einen langen dünnen Faden zieht, und herabsinkt. Dazu eine eigentümliche Melodie, eine Totenklage. Mehr nicht.
"Rückwärts nimmer..." - wie letzter Hohn, an Stelle einer letzten, sehnsuchtsvollen Berührung, ehe man nach Süden geht.
Keine Botschaft. Die Toten grüßen nicht. Sie haben nur Grabsteine.
You must be known then with messages you must return... to be seen by demanding hands and touches of jealous men invisible and forgivable to all their secret hands... Behind those clouds I'm almost home.
(Blonde Redhead, "Messenger")
Dienstag, 8. Juni 2004
Warum müssen Musikgruppen mit beknackten Bandnamen so schöne Musik machen? "Elephant Woman" wirft mich um. Der Titel allein ist ein Roman.
Gewohnt großartig-gefälliges Design (DigiPack) und schönes Booklet von 4AD. Vielleicht lernen das die anderen Firmen auch irgendwann einmal.
Montag, 7. Juni 2004
"I sing myself..." (Walt Whitman)
Mein ganzer Körper ist Musik, das war mir immer bewußt. Möglicherweise sind diese STIMMEN IN MEINEM KOPF auch nur die Gesänge meiner Zellen.
Interessante Entdeckung und doch nicht wirklich überraschend. Dichter wußten das schon lange.
Was früher die Delphine und Buckelwale waren - Sänger nämlich im ganzheitlich-orientierten CD-Haushalt - wird bald der Sound der Zellen sein. Bin gespannt, wann 2001 die erste Scheibe in den Merkzettel packt. Hört sich sehr obskur an. Industrial kann man es ja nicht nennen.
Body-Ambient.
Montag, 7. Juni 2004
Merkwürdig. Mich träumte, Frau Sonne und ich säßen in meiner alten schwarzweißen Küche, hörten Musik, lesen ein paar alte französische Magazine und schraubten uns gegenseitig am Kopf rum.
Oder woanders.
The Only Bush I Trust Is My Own.
Die Hamburger Deichtorhallen zeigen als einzige Station in Deutschland die Retrospektive des englischen Fotografen Martin Parr. Der Magnum-Fotograf (und deren derzeitiger Präsident) Parr, Jahrgang 1952, beschäftigt sich seit den 70er Jahren mit sozialdokumentarischer Fotografie. Seine penible Sicht, sein skuriller Humor, der es weitgehend vermeidet, seine Subjects (im Deutschen: "Objekte") bloßzustellen, zeichnen seine Bilder aus.
International bekannt wurde er mit seinen Serien "The Last Resort" und "Cost of Living", in denen er den Verfall der Mittelklasse während der Ära Thatcher z.B. anhand des Niedergangs des Seebads Brighton dokumentierte. Amüsant auch seine Videodokumentation über "Being English", in denen Bewohner der Insel patriotische Statements zum besten geben ("A new Rolls Royce? By gosh why, there'd be a BMW engine in it, wouldn't it?"). Sein Bildband "Boring Postcards" ist ein echter Bestseller. Sehr gefällig auch die Installationen durch Kurator Val Williams: Martin Parrs Diplomarbeit, ein "typisch" nordenglisches Wohnzimmer mit schäbigem Interieur und kitschigen Bilderrahmen und ein Lesezimmer, in dem die Vitrinen des Sammlers Martin Parrs zu besichtigen sind.
( Martin Parr. Die Retrospektive: Photographische Werke 1971 - 2001. Hamburger Deichtorhallen. Internationales Haus der Photographie. 06.05.2004 - 01.08.2004)
Nach dem gestrigen, moralisch eher zweifelhaften Abend, war heute dringend Ausgleich für das ethische Equilibrium geboten. Was lag da näher als die Nacht der Kirchen, die heute in Hamburg stattfand.
Die Wichernkirche in meiner Nachbarschaft bot bis 24 Uhr den längsten Büchertisch der Stadt (jedes Buch 50 Cents, das nenne ich mal vorbildlich. Neben Erzählungen von Pitigrilli und Ian McEwan und einem Bildband über das Bergische Land fand ich dort wohl auch die verlustig gegangenen Chandlers und Hammetts von Maz).
Heute konnte man auch gratis Hamburgs einziges Bunkermuseum auf dem Pfarrgelände besichtigen. Dieser Luftschutzbunker für 200 Menschen zeigt bedrückende Fotos, Fundstücke und Dokumente aus den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges. Hier im Stadtteil Hamm wurde während der sogenannten "Operation Gomorrha" fast 96 Prozent der bebauten Fläche zerstört. 20.000 Menschen fanden allein in einer Nacht den Tod. Noch im September 1943 wurden zahlreiche Leichen in den Trümmern gefunden.
In ergreifenden Tondokumenten erinnern sich Zeitzeugen an die brutalen, beengten und angsterfüllten Nächte in den Bunkern; grotesk verformte Fundstücke aus Beton, Glas, Keramik und Metall geben Zeugnis über die extremen Hitzegrade, die während des Feuersturms in den Straßen geherrscht haben.
(Öffnungzeiten: Donnerstag von 10 - 12 Uhr und 15 - 18 Uhr. Info Stadtteilarchiv Hamm, Tel. 040-2513927)
Samstag, 5. Juni 2004
Yo! Wie nur wenige wissen, sind AxelK und ich ja die Semi-hardest working men in Show business. Und so waren wir heute im Komet zum "Rock & Wrestling"!
Erstmal nur als Zuschauer, während Nik Neandertal und Klöten-Klaus, Baster und Heidi H**ler, Hackfleisch-Hase und Batter Betty voll motiviert und extrem enthemmt gegeneinander in den Ring stiegen. Die ganze Show fand auf dem schmierigen Hinterhof vom Komet mitten auf dem Kiez statt. Kulisse: Exaltierte Schaugierige galore, strömender Gerstensaft, billige Quarzstengel... die ganze Chose eben.
Großartige Animation, Slam Dunks, Double Body Checker, Head Crusher, Spine Breaker, Klöten Kraller, das volle Programm. Ausführlicher Bericht vielleicht, wenn ich wieder geradeausgucken kann. Die gute Nachricht: Die Memmen bekamen gehörig eins auf den Sack, die "Nazisau" Heidi H. ordentlich auf die Fresse (wie es sich gehört und unter dem Gejohle der Menge), der smarte Sailor kam nach viel Gedresche zurück und ging siegreich vor Anker, Hackfleisch-Hase war vorgeblich dermaßen gen-manipuliert, daß er nicht als falscher Hase im Topf landete.
Rübe ab, rief das Publikum.
Großartiges Programm, full Mexican Punk Rock Wrestle Mania!. Irgendwelche Nörgler riefen was von "Schiebung" und "alles abgekartet" - aber solche negativ eingestellten unsportlichen Kameraden beachtet man am besten gar nicht weiter. Ich überlege sogar, ob ich nicht als Manager mit auf Tour gehe. Wenn nicht als Aktiver!
Morgen geht es in die zweite Runde. Mit Captain Penis, Lobo del Rio und dem Bengalischen Tiger und vielen, vielen weiteren großartigen, alles-gebenden, sich selbst zerfetzenden Wrestlern mehr!!! (drei Ausrufezeichen!)
Jetzt ausschlafen und Stimmbänder wiederfinden.