Donnerstag, 3. Mai 2007
aber folgt den neuen treu.
(Henry David Thoreau)
Mit einer Nelke im Knopfloch nehme ich Kurs auf den Kiez an einem nostalgischen Tag. So jedenfalls beschwört ihn seit Mitternacht das Radio. Zwanzig Jahre Krawall und wie alles sich wandelt. Vom "Keine Macht für Niemand" zum rundgelebten Eigentumsprojekt. Der Weg vom "mit 20" zum "mit 40".
Ich suche das Haus, in dem Käthe Kruse von der Tödlichen Doris wohnt. Kuchen soll es dort geben, und für den vergesse ich bekanntlich Moral, Kinder und Kirchenbuch. Als ich ankomme vor der verbretterten Scheibe, passiert, was mir immer passiert: das letzte Stück wurde soeben verkauft. Ich trage für solche Fälle immer ein Stück Käsebrot in der Tasche, aber auch so müßte heute niemand hungern, heute spielen wir launiges Straßenfest. Wir sind nicht Revolutionäre, wir sind Anwohner und tränken türkische Spezialitäten in US-amerikanischen Ketchup.
Überall Bühnen mit Krawall-Hip-Hop, Jazz-Rock-Gegniedel, "Suck me, Motherfucker"-Rufen und breiigem Retro-Punk. Ich atme verbranntes Fleisch, ungelüftete Menschen und Straßenstaub, und lausche dem Stimmen- und Sprachengewirr, den mobiltelefonierten Anweisungen "Bin am Görli, gleich noch am Kotti?" Man zupft mich am Ärmel, weist mich auf Ringelstrümpfe hin. Ja, sage ich. Aber die Gesichter? Um 19.00 Uhr spielen Ton, Steine, Scherben, bis dahin rumpeln Reggae-Versionen vom "König von Deutschland" aus halblegalen Soundsystemen. Ich muss mal pissen, sage ich und wate durch den Sand, der in einer Kneipe ausgestreut ist. Die Veteranen am Urinal haben alles schon gesehen. Auch die beiden Typen, die bald darauf aus der Klo-Kabine wanken.
Vor zwanzig Jahren muß ich rechnen, war ich unbequemer auf der Welt. Heute bin ich Reihe drei bis vierzig, wähne mich dabei, statt mittendrin und ahne noch nichts davon, wie mich in Hamburg einer anraunzt mit "Du Penner, alter", als ich aus dem Zug aussteige.