Mittwoch, 12. Juli 2006


Mein kleines Finale

Es gibt ja Dinge im Leben, die überfallen einen regelrecht wie sonst nur unverhoffte Liebesbriefe oder unbegründet verdrängte Steuerbescheide. So kam es, warum sollte nicht auch ich mal Glück haben, zu der Einladung zum Spiel um Platz drei - übrigens zu einem Zeitpunkt, als längst nicht klar war, welche Mannschaften dort aufeinandertreffen würden. "Deutschland - Brasilien" spekulierte ich, und behielt, zumindestens was die Landessprache des Gegners betrifft, etwas, was ich am liebsten behalte: nämlich recht.



So finde ich mich also am Samstag in Stuttgart wieder und schnuppere einen Nachmittag lang sonnig-begeisterte Stimmung der Schwaben. Nach dem Stimmungseinbruch nach dem Spiel gegen die Schauspieler, heißt es nun wieder: Party unter Freunden. Die Bäckereifachverkäuferin, bei er ich einen Mohnstrudel kaufe, haut mich fast um: Beim üblichen "Bitte" - "Danke" verbeugt sie sich sogar leicht! Ganz alte Schule, sehr vorbildlich! Und war die Stimmung im Schloßgarten schon ausgelassen, so gibt es spätestens in der S-Bahn kein Entkommen vor den letzten Proben für die Schlachtgesänge. Das Motto des Abends lautet unwidersprochen: "Schtuddgard ist viel schöner als Berlin".



So ein WM-Spiel ist wie das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig, nur weiß statt schwarz. Während jedes Jahr zu Pfingsten schwarzbekittelte Menschen das Bild rund ums Agra-Messegelände und in den Nahverkehrsmitteln bestimmen, sind es nun Massen in weißen Trikots, die das Stuttgarter Stadtbild prägen. Ich widerstehe vielfältigen Angeboten, mein Ticket zu versilbern und finde mich schließlich mit toller Sicht und guter Laune im Gottlieb-Daimler-Stadion wieder. Putzig: Ist das das Trainingsgelände für Jugendmannschaften? Alles sieht so klein, so überschaubar aus, gar nicht wie im Westfalenstadion, wo man von oben in einen tiefen, tiefen Trichter schaut. Unser zweiter erster Torwart betritt als erster den Platz zum Aufwärmen. Donnernder Applaus und "Oliver Kahn!"-Rufe. Nach und nach die anderen Jungs, endlich auch wieder Frings. Dann die Hymnen, und endlich geht es los!



Man denkt ja, man verbringt einen geruhsamen Abend im Stadion, während sich unten 22 Männer abrackern. Aber weit gefehlt. Kaum hat man Platz genommen, läuft die Welle durch die Ränge, und so heißt es "Oooooooooooooohhhh!" und alle Arme fliegen hoch! Das hält ganz schön in Bewegung. Zudem gibt es dieses doch etwas zweifelhafte Fanlied. Ich meine nicht,"Three Lions", das nun "Schwarz und weiß" heißt. Auch nicht "Auf geht's, Deutschland schieß ein Tor!" oder "'54, '74, '90 - 2010", dem Song zur Schröder-Agenda. Das sind alles Lieder mit Schmackes, Witz und Emotion.

Zweifelhaft aber ist dieses "Steht auf, wenn ihr Deutsche seid!", dessen Sinn sich meiner Begleitung und mir nicht erschließt. Widerborstig bleiben wir demonstrativ sitzen, während sich der Fanblock alle fünf Minuten wie ein Mann erhebt. Mist! Jetzt sehen wir nichts mehr vom Spiel.



Nach einer kurzen Beratung im ZK stelle ich die Frage ins Plenum. Aufmerksam lauscht der Block meinen wortreich vorgetragenen Ausführungen, dann kommt es zur Abstimmung. Ergebnis: 998 für Aufstehen, zwei Gegenstimmen. Wir beschließen, als echte Demokraten das Votum zu akzeptieren, dabei aber in den inneren Widerstand zu gehen. Sehr gute Entscheidung, wie sich sogleich zeigt. Wir sehen jetzt viel mehr vom Spiel.

Die Portugiesen sind nette Menschen. Sie wollen uns die Party nicht verderben und lassen unsere quicken Jungs gewähren. Erst als endlich Figo eingewechselt wird, kommt Gefahr ins portugiesische Spiel. Erstaunlich, wie man im Stadion spürt, welche Ausstrahlung dieser Mann hat, wie man weitaus besser als im Fernsehen sehen kann, wie superb seine Ballannahme und wie dynamisch sein Antritt ist. Unglaubliche Bewegungsabläufe. Ich beschließe spontan, mir eine Scheibe abzuschneiden und mir nicht nur einen Bartschatten, sondern auch meine Gegner fortan so elegant stehen zu lassen.



Nach dem Spiel geht in Stuttgart gar nichts mehr. Das Fahnenmeer erweckt den Eindruck, die Wiedervereinigung sei da. Aber es fiel wohl nur endgültig die Mauer in den Herzen. S-Bahnen bleiben liegen, Personen auf dem Gleis, überhaupt - überall Personen. Vor dem Spielerhotel am Hauptbahnhof warten Tausende, "Jüüüüüüürgen Klinsmann!" rufend. Mein Übernachtungsbett finde ich spät, aber glücklich. Ein toller Abend geht zu Ende - ausnahmsweise mit guter Laune.