Frei & Hafen








Am Sonntag dann hinüber ins Wahlbüro, die Qumran-Rolle des Wahlzettels studiert, Farbenlehre über Schwarz, Rot, Grün, dann Violette, gefühlte fünf Rentnerparteien, Tierschützer, Bibelschützer, Raffgierschützer und Merkbefreiungsschützer. Mein Kreuz gemacht, Wahlzettelorigami - und dann aber los. Das Wetter genau auf meiner Betriebstemperatur, die Luft kühl und regnerisch, der Himmel bedeckt, schöne Kontraste und ein frisches Locken und Wispern, raus also aus den umbauten Zonen, es lockt der Ruf einsamer Gewerbegebiete. Rauf aufs klapprige Rad, husch wie ein quietschender Wind, immer nach Süden, dem Wasser nach und dann hinüber über die alte Elbbrücke. Ein Hauch von Industrieanlage, romantischer Schmerz, mein kleines Ruhrgebiet, singe ich - überhaupt das Singen auf dem Fahrrad! Noch ist es Zeit, im Sommer dann wird es schwierig, schmierig, wenn die kleinen Fliegen einem dabei in den Mund wehen, während man lustige Dean-Martin-Lieder schmettert, befreit, dem Fahrtwind entgegen.

Ein strenger Geruch von Hefe, die Menschen, die da wohnen müssen, als lebten sie einem Philosophen gleich in einem zerschmetterten Bierfaß, dann weiter über den Fluß endlich, die Eisenbahn entlang, Schuppen und Kais und Kräne, verlassene Backsteinbauten, Bloggerheime allesamt, rostige Kähne und Lastkraftwagen aus Osteuropa. Um einen Grill zusammengedrängt eine Truckergemeinde, Hardrock-Café, Metal dröhnt aus einem tragbaren Lautsprechergerät, weht herüber, zerhackte Akkorde. Irgendwo fotografieren Menschen, stolpern Touristen auf ein ausgemustertes Motorschiff. Ein Hafenmuseum, Ketten und Winden, zerplatzte Farben, endlich ein bißchen Regen auch.

Zu Hause dann die ersten Berichte. Der Vorsitzende jener Partei, deren uninhibitiertes Wirtschaftsdenken wohl mit in die Krise führte, freut sich auf unangenehm selbstgefällige Weise. Die ehemals sozialdemokratische Partei indes scheint wie ein berühmter Ex-Fußball-Manager-Macho soeben einen Tritt in den Unterleib bekommen zu haben. Man ahnt, es wird alles noch schlimmer kommen.

Ausfallschritt | 12:12h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nnier - Dienstag, 9. Juni 2009, 13:03
Anders als selbstgefällig kann der aber, glaube ich, auch einfach nicht. Auch in zwanzig Jahren, so steht zu befürchten, wird er noch im quietschgelben Spielmobil durch die Landschaft petern und dabei wirken wie der Junge mit der Propellerkappe.
(Sie wissen, dass das untere Bild wie ein Wahlplakat aussieht - nein, wie ein altes Wahlplakat, heute steht da ja "RÜLPS" oder so etwas drauf.)

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kid37 - Dienstag, 9. Juni 2009, 14:42
Stimmt, schwarzgrün ist es obendrein auch. Eine Sonnenblume fehlt vielleicht. Für Rawumms ist das Rad zu klapprig, beim Rücktritt zu viel Spiel, und die Luft ist auch irgendwie raus.

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dosron - Dienstag, 9. Juni 2009, 18:03
mein kleines Ruhrgebiet
Sehr schön. Auch schön fotografiert.

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kid37 - Dienstag, 9. Juni 2009, 19:37
Ich stecke noch ein paar Bilder in dieses ipernity-Dings. Hier in der Stadt des Handelns freue ich mich ja über jeden rauchenden Fabrikschlot und silbrig glänzende Röhrensysteme. Fühlt sich wie Heimat an ;-)

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peddi - Dienstag, 9. Juni 2009, 19:50
Ja, sehr fein, weckt auch bei mir heimatliche Erinnerungen, liegt meine Geburtsstadt doch ziemlich exakt zwischen Ihren beiden...

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fishy_ - Mittwoch, 10. Juni 2009, 01:57
Soso, noch 'n netter NRWler :)

Herr kid, danke für's Mitnehmen auf dem Gepäckträger.

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