Freitag, 15. Juni 2012


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Derzeit bin ich ja im Behandlungszentrum Rock'n'Rollplattenstudio zu den Aufnahmen für mein neues Album Wut, Verzweiflung, Ingwertee und habe folglich nur wenig Zeit für allgemeine Wetterbeobachtungen. Der Kalender aber enthält feinsinnige Hinweise auf einen beginnenden Sommer. Man wird also bald wieder abends auf warmen Steinmauern an der Elbe sitzen können, mit einer Flasche Bier und ein paar Mietfreunden vielleicht für das soziale Rundumpaket und sich einer gewissen eintretenden Friedfertigkeit hingeben. Sekundenschlaf möglicherweise.

In meinem Buch Die Mörder sind alle Verbrecher beschreibe ich ja, wenn auch mit einem gewissen zuneigungsvollen Witz, die widerhakenbestäubte Kuscheligkeit der durchchoreographierten Quadrillen auf den Parketts des sozialen Miteinanders. Im Kapitel "Krämer und Kameraden" führe ich aus, wie Taxierung und Evaluation die letzten weißen Flecken der Optimierungslandschaft erreichen, den bislang noch unsubventionierten Prozess von internetgestützter Humanzusammenführung. Führt man, wie ich derzeit, eine Existenz eher als Bruchschokolade, gilt es, einer weiteren Zersplitterung vorbeugend entgegenzuwirken. Konzentration, ihr kleinen Robbenbabies der unbefangenen Liebe, Konzentration ist das Zauberwort. Bündelung von Energie, Widerstand gegen Zerfaserung, Obacht walten lassen vor einem Ende als ausgefranstes Handtuch im Warenlager der Restgestalten.

Das Leben also lieber nur in Ruhe füllen, vom Acker des Realen pflücken, erst den einen Schnürsenkel, dann den anderen Schnürsenkel, Schritt für Schritt und ab und zu mal langsam machen, so jedenfalls erklärte ich es heute morgen gestenreich meiner Ärztin, während diese mit einem sehr großen Instrument vor mir herumfuchtelte. Die Assistentin schaut herein, nicht aber auf meine entwürdigenden Situation auf der Behandlungsliege, sie berührt im Vorbeigehen und ganz wie nebenbei meine Schulter, drückt sie kurz, sucht einen Rezeptbogen und geht wieder hinaus, und ich sage, wieder zur Ärztin gewandt: Sehen Sie, davon benötigen wir mehr. Lieder wie "Das Land der tausend Gesten" oder "You Really Got A Hold On Me". Die Ärztin bleibt ungerührt, fragt, ob ich in die Kuschelgruppe wolle oder ein Ergebnis haben, ich frage, so im Vorbeigehen und ganz wie nebenbei, ob sie tanzen geht, ich müßte mich nur darauf einstellen, dann könnte ich auch spontan.


 


Samstag, 9. Juni 2012


Kompositions/versuche

So etwas liegt ja immer an einer Vielzahl von Gründen, und man muß diese nicht immer bei sich selber suchen, zu benennende Fehler, die einem grundsätzlich oder im Besonderen unterlaufen sind oder sein mögen, denn manchmal sind die Dinge so wie sie sind, sagt man, die Spannungsverhältnisse, die Bezugsverhältnisse, die inneren Verhältnisse und nicht zuletzt, da müssen alle ehrlich sein, auch die äußeren Verhältnisse, die aus kleinsten Nuancen heraus, Ticks, Gesten, falschem Farbauftrag oder einem ungelenk plazierten Tremolo die Waagschale, das Pendel, einen ganzen Glockenturm zum Schwingen, Klingen und Singen bringen können. Zum Schringen, Kringen, Zerspringen respektive. #enttäuschung


 


Donnerstag, 17. Mai 2012


Beim Inder

Lorens. An diesem naturtrüben Vatertag, zugleich 3070 Tage Pathos, lautete der Plan, mal ein bißchen die Beine zu vertreten, umherzuwandern und ein paar gedankenverlorene Beschlüsse zu fassen. Dem Unverhofften die Türe aufzuhalten. In einer Seitenstraße unserer wunderschönen Stadt spricht mich denn auch unvermutet ein dunkelhäutiger Mann an, so Typ indischer Student der Informatik oder Raketentechnologie, vielleicht aber auch jemand, dem womöglich gerade noch 1,45 € für seine Fahrkarte nach Hause zur kranken Mutter fehlten. Von der journalistischen Kardinaltugend der ergebnisoffenen Neugier gesteuert, wartete ich also auf eine hoffentlich nicht allzu komplizierte Geschichte, der Mann indes gab sich als "Student of Yoga and Astrology" zu erkennen und sagte, er hätte eine Botschaft für mich, "from the heart".

Ihm wäre aufgefallen, daß ich offenbar "zu viel denken" würde. Das sei not good for your health!, mahnte er zu meinem nur mäßigen Erstaunen, hatte ich diese Gefahren doch bereits 2000 in meinem erfolgreichen Buch Nachgedacht: Warum Denken uns krank macht beschrieben. Ich war erstaunt, so rasch durchschaut zu werden, trug ich doch gerade ein T-Shirt mit der Aufschrift Ich nehme das Leben mit Leichtigkeit. Aber so was von. Du Arsch.



Ich solle mal Körper und Geist in Einklang bringen, so der gute Mann weiter, nicht den Körper irgendwo ablegen und Ruhen, den Geist aber weiterackern und an völlig andere Orte wandern lassen. Das klang vernünftig, dachte ich und lauschte weiter, was der Mann zu sagen hatte. Denn die frohe Botschaft sei nah: Im Juni, so seine Kunde, erreichen mich drei gute Nachrichten, ein Herzenswunsch zudem ginge in Erfüllung, ich solle ihm mal einen nennen ("from the heart"). Na, da hatte er mich aber kalt erwischt. Da hieß es, sich schnell entscheiden, man will solche weisen Menschen ja nicht zu lange warten lassen. Herzenswunsch, Herzenswunsch, das kommt jetzt aber plötzlich, komm' mir mal entgegen. Die Rickenbacker? Buckelvolvo? Was nicht Materielles, weil es irgendwie charmanter klingt? Und warum nicht gleich was vermessen Großes, wo man schon mal die Gelegenheit hat? Wie wäre es mit Gesundheit? Oder doch was anderes "from the heart", damit er oder wer immer das dann organisiert, mal eine richtig harte Nuß zu knacken bekommt? Sprach ich's also aus, worauf er in Hindi Gemurmel verfiel, mich dann fragte ob ich schon deep in love gewesen sei ("from the heart"). Na hömma, Meister Aber so was von, konnte ich befreit berichten, Dana Scully aber ich solle keine Namen nennen. Er blickte mir wieder aufmerksam ins Gesicht, berührte erst sein Kinn, schaute mir dann auf die Stirn und verkündete, es gäbe da eine Frau, die würde gerade sehr intensiv an mich denken. (Oha, dachte ich im Stillen. Hoffentlich nicht zu intensiv, schließlich ist Denken ja nicht nur gesund, wie wir wissen.)

Zeit "for prayer" und einen spirituellen Beweis: Er öffnete ein Mäppchen, zog ein Blatt Papier, faltete es, pustete einmal drauf und drückte es mir in die Hand. Das solle ich gut festhalten, während er ein Gebet vorbereiten wolle. Er zückte einen Stift und ein weiteres Blatt Papier und wollte nun ein paar Dinge wissen. Eine Lieblingszahl, eine Farbe, eine Blume... brav notierte er alles, was ich ihm diktierte. Er kam nun ins Plaudern, zeigte mir mittendrin ein Foto seines yogischen Meisters (ungefähr 108 Jahre alt, möglicherweise aber ein Jugendbild), wich meinen interessierten Nachfragen aber immer wieder mit neuem Singsang aus, griff meine Hand und malte über meine Lebenslinie. 85, gar 90 Jahre alt würde ich werden, das sei gewiß. Außerdem gäbe es zwei große Krisen in meinem Leben, die erste sei aber bereits überstanden (da träumt ihr aber). Nun aber Zeit für den Test, ob ich wahrhaft ein "lucky man" sein werde. Jetzt solle ich auf den kleinen Zettel pusten und ihn öffnen. Stünde dort wenigstens einer der Begriffe und Zahlen, die ich ihm zuvor genannt hatte, wäre dies ein spiritueller Beweis, das wisse er "from the heart". Ich machte mich also zum Affen und pustete mitten auf einer immerhin unbelebten Hamburger Seitenstraße auf ein kleines Stück Papier und das am Vatertag, aber nun gut. Ich öffnete also mit überlegenem Lächeln das Papier, schließlich gebe ich mich solchen Dingen ab und an gerne hin, und voilà, standen dort die Begriffe, die ich ihm genannt hatte. Einer leicht falsch geschrieben, aber das wollen wir mal gelten lassen.

Verblüfft war ich allerdings schon, dann aber gleich enttäuscht. Weil ich zwischendrin wirklich kurz bereit war, das Denken zu lassen und einfach mal zu Glauben. Schließlich sind, wie mir vor etlichen Jahren mal eine ganz ergriffen erklärte, "die Inder alle erleuchtet" (weshalb sie wohl die Witwenverbrennung und das Kastensystem erfunden haben, dachte ich damals, aber nur im Stillen, schließlich ist zu viel Denken nicht gesund), also denkt (Mist, schon wieder) man leicht, vielleicht ist ja doch was dran, Prahna, Karma, Simsala. Aber nun war ich Opfer eines billigen Taschenspielertricks geworden, die Hütchenvariante der yogischen Flieger, das hat mich brüskiert. Aber so was von from the heart.

Na, sagte ich ihm. Jetzt aber mal was über "Western tradition". Er müsse sich mich als einen skeptischen Mann vorstellen, aber interessant sei das schon. Oh, antwortete er und sah mir tief in die Augen. Ich sei jemand, der offen über seine Gefühle und Gedanken reden würde, aber meine Freunde seien oft anders, verschlossener. Und sie würden hinter meinem Rücken manchmal ganz anders über mich reden, ich solle vorsichtig sein. So, ihr miesen kleinen Ficker. Als hätte ich es nicht immer schon geahnt! Als hätte ich es nicht immer schon heimlich Wispern und Lachen gehört! Da muß mir erst so ein durchspiritualisierter Mann auf der Straße die Augen öffnen. Ihr könnt euch alle mal schön gehackt legen, damit wir da mal klarsehen. Denkt mal schön drüber nach! (Aber nicht zu intensiv, wegen der Gesundheit.)

Nach dieser schonungslosen Breitseite in die emotionalen Weichteile kam der letzte Teil der Veranstaltung, gewöhnlich der Zeitpunkt, da der Hut rumgeht. Er zeigte mir weitere Fotos von seinem Ashram oder Hüttendorf oder was es sein sollte in Indien, wo er den Armen helfe. So sei auch seine Mission zu verstehen, er reise durch Europa, um den Menschen hier aber auch in seiner Heimat zu helfen. Es gäbe drei Klassen, malte er auf seinen Zettel: Poor, Middle, High. Darunter schrieb er drei Zahlen 50, 100 und 200. Wo ich mich denn einschätzen würde? From the heart. Och, meinte ich. Ich wäre leider ziemlich arm, auch so ein Problem, aber da das Gespräch so interessant gewesen sei, wolle ich ihm was geben. Ungläubig starrte er auf das Almosen, das ich ihm reichte. Die 50, 100 oder 200 seien Euros, das würden andere so geben und ob ich nicht noch mal darüber nachdenken wolle? (Hömma, willst du mich umbringen, dachte ich im Stillen. Mit Denken bin ich heute durch.)

Also Haggling, so ich dann wieder, fände ich nicht so furchtbar spirituell, und schließlich sollte sich die frohe Botschaft ohne Hintersinn auf Gegenleistung verbreiten, freigiebig ("from the heart", erklärte ich) - so wie dem Künstler schließlich auch Applaus der höchste Lohn ist, wie wir neuerdings immer mal wieder von Anhängern der Piraten belehrt werden. Gott sei Zeuge unserer Begegnung, mahnte der Mann. Ich blieb entspannt, schließlich war Christi Himmelfahrt. Da hat der Allmächtige sicher zu Hause viel zu tun, wie das so ist, wenn man Besuch erwartet.

"Vorschlag!", donnerte ich ihm wie den gleichnamigen Hammer jovial aber unmißverständlich entgegen (ein verbaler Trick, den ich so Manager- und Machertypen abgeschaut habe). Ich würde jetzt den Juni mit seinen drei guten Nachrichten abwarten, und wenn er dann wirklich recht behielte, würde ich aber noch mal richtig nachdenken. Ganz intensiv. From the heart.


 


Donnerstag, 17. Mai 2012


Hafenbetrachtung



Am Wochende dann touristische Betrachungsmassen am Hafen, tagelang schon schwappte das Getute und Getue bis zu meiner Wohnung hoch, daß ich, ein Colonel Kurtz in den Schatten meiner derzeit sehr verworrenen Dschungelresidenz, mich aufscheuchen und zum Nachschauen bringen ließ, die Abkürzung unter dem Horizon Field in den Deichtorhallen und der Fotobuchhandlung nehmend, alles im Versuch, ein wenig Kulturroutine ins ZNS zu pressen, dann weiter, einer kühlen Sonne nach, Zirkel um Zirkel schlagend bis an die Kante zum Wasser und auf ein dümpelndes U-Boot und das bruttoregistertonnenschwere Prinzip der Verdrängung schaute. Ach.

[Zunächst denselben Weg zurück.] Daheim dann neue Blätter in den Frustrationsordner sortieren, ein defektes Schloß melden, reife Früchte nach rechts, unreife Früchte nach links stapeln, ein weiteres Fußballspiel betrachten, Geld ausgeben.

[Studienschwerpunkt] Ich schaue ja gerade erneut die US-amerikanische TV-Serie Akte-X (darüber zu gegebener Zeit mehr), wir erinnern uns solange an Mulder & Scully, und jedenfalls war ich erstaunt in Staffel 5 (so weit bin ich bereits) ein Vorbild für Lisbeth Salander entdeckt zu haben. Optisch offenbar stark von Pris aus dem Blade Runner beeinflußt, ist Esther Nairn (gespielt von Kristin Lehman), eine im Untergrund agierende, psychisch schwer ramponierte Hacker-Punkette namens "Invisigoth", die wie aus einem William-Gibson-Roman entstiegen scheint. Foto.

Die Folge "Killswitch" ist auch ansonsten bemerkenswert, hat Mulder doch ziemlich exakt denselben Traum wie ich ihn hatte, als ich im Krankenhaus lag.


 


Montag, 9. April 2012


Kar/g



Ostern im Schlurfgang, Eiern im Schlafrock; man hängt, so geht ein alter blasphemischer Witz, irgendwie so ab. Das Ziel aber sollte sein ein buntmaskiertes Fest, so wie Angeliska die Jahr um Jahr mit fröhlichen Osterhasen feiert. So treibt mich die Sonne hinaus ums Haus, immerhin, immerhin, und später dann zu guten Menschen, einem Lamm und dem Osterorakel. Daheim warten Care-Pakete aus den Weiten der Republik. Die Linderung im Versuch, Monde zu zählen, die Jahre, die Zeit.

Fruchtloses Mühen also zum Frühlingsbeginn. Blasse Farben, dunkle Bilder (monokular), zu müde für Pracht und Pralles und blendende Paraphrase. Rauf auf den Tisch stattdessen, wie manche Wahrheiten, wie ein glückloses Lamm. Sich zartkochen lassen, zerlegen, sich einen Weg aufschließen lassen zum Lichterfest. Alle Hasenohren steif halten. Das immerhin.

Homestory | von kid37 um 17:25h | ein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 29. März 2012


delighted and enlightened

Große Freude heute, die englische Verwandtschaft schickt ein monströses Kärtchen mit besten Genesungswünschen. Und für zagende Kids, hält die Karte gleich noch weiteren Trost bereit - sie leuchtet im Dunkeln, wenn man sich schüchtern nur noch durch die Flure wagt, auf tiefnächtlichem Weg zur Toilette oder zum Kühlschrank.

Die Kollegen in der Häschenschule sind auch ganz freundlich, sie pinseln fleißig ihre Osterware, haben mir einen Platz freigehalten, so daß ich diese Woche ganz unauffällig mein Tagewerk wieder aufnehmen konnte. "Ich habe ein Auge auf dich!" rufe ich meiner Arbeit zu und kichere über den gelungenen Scherz. Es muß jetzt monstermäßig vorangehen, habe ich beschlossen. Ich bin noch jung habe noch was vor.


 


Dienstag, 27. März 2012


Der schwarze Kaffee der Frühe

Search request: Chancenviertel frühstücken

Heute noch vor dem Frühstück gute und schlechte Nachrichten. Meine Gedächtnisleistung ist erstaunlich gut, dabei kann ich mir doch nie etwas merken. Offenbar aber kann ich vor dem ersten Kaffee besser Zahlen addieren und Begriffe im Kopf behalten. Mein Gegner werde aber nur ich sein. In einem Jahr. Frau Sorge bringt wieder Unruhe ins Spiel. Leider war sie auf einem Symposium, hat nachgedacht und will erneut tiefer graben. Sie hat etwas gegen Fragezeichen, ich finde die schön gebogen. Aufkeimende Bockigkeit, hier muß mal Ruhe in den Karton oder wenigstens ein Kaffee auf den Tisch.

Den könnte der nette Herr Masuda machen. Der ganz bezaubernd eingerichtete Japaner ist Kaffeeliebhaber einer zeitverschobenen Schule und hat sich nun überlegt, aus seiner stillen Passion ein Geschenk zu machen. So fährt er mit seinem kleinen mobilen Kaffeehaus ins Katastrophengebiet des Tsunamis, bietet den Menschen dort seinen verdammt guten Kaffee an, spielt auf seinem Grammophon alte Platten und verbreitet überhaupt eine ganz freundliche Stimmung. Eine sehenswerte kleine Dokumentation von Mackenzie Sheppard. Demut lernen.


 


Dienstag, 20. März 2012


The Last Goodbye

The Kills: The Last Goodbye.


Früher haben wir so etwas gemacht, nachts in den Fotoautomaten, auf dem Nachhauseweg von den dunklen Läden oder manchmal auch davor. Angetrunken vielleicht oder erwartungsvoll, müde meist von durchtanzten Nächten, dem langen Warten, dem Atmen von elektrisierter Luft, dem Schlurfen über dunkle, verlassene Supermarktparkplätze, als es nur darum ging, die Zeit herumzubringen, weil so viel davon da war. Weil überhaupt von allem so viel da war, von der Liebe war so viel da, von dem Hunger war so viel da, den Möglichkeiten, den Wegen und den Auswegen. Und Kraft war so viel da und vom Morgengrauen auch.

Früher haben wir uns nicht gefilmt dabei, aber nur, weil es technisch nicht so einfach ging. Die Schauspielerin und Regisseurin Samantha Morton hat es mit den Kills nachgestellt, es ist also nicht echt, aber es stimmt genau. Die Fäden, mit denen alles nach vorn gezogen und verwebt wird, haben etwas Loses bekommen, das Leben in den Säumen (der Nacht, der Straßen, der Rinnen, in denen man so treibt und in denen vieles nur so gesagt ist): etwas Sprachloses, etwas Lautloses. Bewegungsloses.

Früher war die Ratlosigkeit nur Übergang zwischen zwei Türen, von denen wirklich jede irgendwohin führte und selten nur ins immer wieder selbe Zimmer. Ich bin sehr müde jetzt, fasse mir nur noch selbst ins Haar, kratze aus dem Futter meiner Jacke verstreute Krümel, Kaugummipapier, Treibgut. Bin müde jetzt und etwas mutlos. Vier Bilder hat man in so einem Automaten. Letzter Blitz, heißt es. Aufstehen. Weitermachen.


 


Donnerstag, 8. März 2012


The Possibilities are endless

Cos now you've got me crawlin',
Crawlin' on the floor
And I've never met a girl
like you before

(Edwyn Collins, "A Girl Like You".)



Als Ansporn zur Genesung bekam ich diese ganz wunderbare Tasse geschenkt. Auf dem weißen Porzellan sind Eulen zu sehen, und die hat Edwyn Collins gzeichnet. Der Gitarrist ("A Girl Like You") erlitt 2005 einen Schlaganfall durch Blutgerinsel im Hirn. Neben Lähmungen zeigte er auch einen fast vollständigen Sprachverlust. Die einzigen vier Phrasen, die er äußern konnte, waren "Ja", "Nein", der Name seiner Frau und "The possibilities are endless."

Motorisch stark eingeschränkt, konnte er aber Eulen zeichnen, diese sind es, die ihren Weg wiederum auf meine Tasse gefunden haben. Man muß das als eine Art Staffelübergabe verstehen. "Ja" und "Nein" kann ich sagen, die Namen verschiedener Frauen üben, für den Fall der Fälle, wobei sie sich unterschiedlich schwierig aussprechen lassen, ich sage nur dental fricatives. Die eigentliche Losung aber ist natürlich "the possibilities are endless", man muß nur in der Lage sein und willens, sich wie ein Krake in die kleinsten und verschlungensten neuen Gefäße zu schlängeln.

Liebes Krankentagebuch: Die Woche war nicht so besonders, das ging zwischenzeitlich alles schon mal besser. Tagesform, heißt es, ich bin skeptisch und seit heute sogar sehr skeptisch. Immerhin gibt es jetzt eine Nurse, die man auch anrufen kann zu ungewöhlichen Zeiten für Ratschläge und Empfehlungen. "Meist passiert ja was am Wochenende", sagt sie lachend. Wir sprechen über Therapien, das weitere Vorgehen, üben ein bißchen. So ein mütterlicher Typ, denke ich, vielleicht kann die auch Kuchen backen.

Gewiß aber war ich zu vorlaut, als ich sagte, ach, das kann ich, da habe ich Übung drin. In der Praxis sah das aber etwas anders aus. Die Schwester neben mir zog scharf die Luft ein, ich sagte, was machen Sie für Geräusche, sie sagte, nun machen Sie doch schneller, und ich sagte, ich sei doch nicht verrückt, ich lasse mir hübsch Zeit. Nicht aus Genuß, wohlgemerkt, sondern aus Vorsicht. Sie atmete weiter hörbar, mir erschien das einen mißbilligenden Unterton zu haben und mahnte zur Geduld, sah aber zu, zum Ende zu kommen.

Danach mußte ich mich erstmal fünf Minuten langlegen. "Männer eben", meinte ich entschuldigend, und sie lachte, während sie meinen Blutdruck maß. Das würde stimmen, bestätigte sie, die machten häufiger schlapp. Ich erinnerte mich an jemanden, der gleich zu Anfang argwöhnte, ob ich wohl "belastbar genug sei", während ich sprachlos schwieg, im Stillen aber dachte "the possibilities are endless" und "Warten wir doch ab, ob du belastbar genug bist". Am Ende stand es eins zu eins, denke ich; die Schwester hingegen meinte vorschußvertrauensvoll, ich würde das schon hinbekommen, worauf ich fragte, ob sie mich nicht heiraten wolle, was ich super fand.

Ermunterung, Baby. Auch wenn es heute schon wieder so war, daß ich gerade mal einen Gang um den Block wanken konnte, von Einkaufen gar nicht zu reden. Mir fehlt die Geduld für dieses Auf und Ab, stelle ich fest. Père Ibu ("Ibu Roi") sei aufs erste mein Freund heißt es, aber vielleicht rufe ich nachher noch die Nurse an. Oder morgen. Und dann ist schon Montag. Und die possibilities endless.


 


Montag, 5. März 2012


Einmal Sekt statt immer Milch



Mit schwachem Bein und schwachen Auges runter zum Fluß, fünf Zentimeter mehr Kondition, der Rest sei auch ein wenig Tagesform. Keine Sorge, sagt Frau Sorge. Die Definition sei so und so, und alles andere ist dann was anderes. Ein bißchen anders also im Kopf, schlecht geschlafen, beim nächsten Mal vielleicht besser Mohnkuchen backen, überlege ich.

Hier stapeln sich Dinge. Korrespondenz, Bücher, Musik, Filme, Zeitschriften, das müßte alles mal gesichtet und sortiert und beantwortet und veranlaßt werden. Überhaupt diese Veranlassungen. Erst veranlaßt, dann aufgelassen wie ein verfilzter Kleingarten oder ein marodes Baugelände. Ich fahr die Siegerstraße hinunter, aber wenn alle mal ehrlich sind, so viele kommen einem da auch nicht entgegen, ein verlassenes Gelände dieser Tage, wird Zeit, daß der Frühling kommt mit seinem hysterischen Gelächter.



Mein Leben wurde ja bereits in den 70ern verfilmt. Man änderte nur ein paar Dinge, machte im Film aus meiner Arbeitsstelle eine Fischfabrik. Dafür hatte der Hauptdarsteller eine verblüffende Ähnlichkeit mit mir, bis hin zu gewissen Manierismen bei der Kleidung. Ich summe den halben Abend das Titellied. Stückweise. Dann warme Milch und wieder kein Schlaf.