Dienstag, 20. Juni 2006


SNAFU

There was only one catch and that was Catch-22.
Orr would be crazy to fly more missions and sane if he didn't,
but if he was sane he had to fly them.
If he flew them he was crazy and didn't have to;
but if he didn't want to he was sane and had to.

(Joseph Heller. Catch 22. 1961.)



Situation normal, all fucked up: Noch bis zum 25. Juni verlängert wurde in der Hamburger Kunsthalle die Ausstellung SNAFU - Medien, Mythen, Mind Control.

Ich bin ja leider wie viele Museumsbesucher kein besonderer Freund von Videoinstallationen. Shirin Neshat mit ihren strengen Kompositionen und grafisch eindrucksvollen Filmbildern ist da eine gern gesehen Ausnahme. Aber allzuoft drohen einem muffige Kabinen, in denen man man die wackelnden Einstellungen technisch minderwertiger Videokameras ertragen muß, die der Künstler vor sich her durch Straßen, Müllhalden oder Abbruchhäuser trägt, wenn er nicht zwei Stunden lang in endlosen Loops das Gesicht seiner Freundin zeigt. Ein Experiment in subjektivem Blick, selbstverständlich, toll und gut gemeint, aber oft ein wenig anstrengend oder einfach nur... öde. Nicht meine Tasse Tee.



Unter denen in einen etwas gewollt-konzeptionellen Überbau gezwungenen Videoinstallationen von SNAFU jedoch sind einige Werke, die wirklich Spaß machen. Kybernetik und Systemtheorie, sexuelle Revolution und Jugendkultur sind die Eckpfeiler, an denen die Kuratoren ihre Auswahl filmischer Arbeiten aufgehängt haben. Nicht immer einsichtlich, aber irgendeine Linie muß man halt haben, wie im Leben auch. Mitreißend psychedelisch zum Beispiel die Einblicke in Andy Warhols Factory. So war es dort natürlich jeden Tag, Musik, junge Menschen in Silberfolie, Extase - aber ich fürchte, diese Menschen nahmen auch Drogen, darum schnell weiter.

Im Video von Günter Brus rezitiert Gerhard Rühm aus Baudelaires Die Blumen des Bösen, während nebenan Otto Mühls Wiener Aktionskunsttheater ("Mama und Papa") in einem Cut-Up regelrecht verhackstückt wird. Der Mühl wieder, denkt man, zwischen Blut und Essen und Matsch.
Die obsessive Blumenliebhaberin Veronica Read wurde hier bereits erwähnt, ein documenta-Klassiker von Kutlug Ataman. Diese Installation ist eine ausdrückliche Empfehlung, tolle Frau, völlig skurril, völlig bessessen - und zudem ein sehr interessante Simultan-Präsentation auf vier Leinwanden.

Heimlicher Höhepunkt, und sogleich ins Herz geschlossen ist aber das kleine rote Auto aus dem Video "Rehearsal" von Francis Alÿs. Zu den erst schwungvoll hoffnungsvollen Klängen einer Mariachi-Kapelle nimmt ein VW Käfer Anlauf, einen sandigen Hügel zu erklimmen. Aber immer wieder scheitert der unermüdliche Beetle (Er läuft und läuft und läuft...), begleitet vom enttäuschten Absterben der Musik. Herzzerreißend und belustigend zugleich. Große Metapher selbstverständlich - und der einzige Grund überhaupt, weshalb ich das hier erzähle. Situation normal, all fucked up.

(SNAFU - Medien, Mythen, Mind Control. Verlängert bis zum 25. Juni 2006 in der Hamburger Kunsthalle.)


 


Dienstag, 6. Juni 2006


... und gebar ein Klötzchen

Hier treff' ich dich
und den Rest der Szene.
Urcool diese Location,
quasi im öffentlichen Raum.

(Otto Europa, "Knietief im Zitronengras")

Als ich am Samstag das erste Mal im neuen Berliner Hauptbahnhof einlief, habe ich fast geheult. Einige werden jetzt sagen, Herr Kid, fast geheult, das ist doch aber nichts Neues, der heult und jammert doch ständig. Aber erstens stimmt das in letzter Zeit gar nicht mehr so, und zweitens war der Anlaß ernst. Denn der Berliner Hauptbahnhof ist schlichtweg eine Katastrophe.

Wo jeder Reeder in Hamburg seine großen Schiffe stolz an den Kais präsentiert, versteckt Die Bahn AG i.G. ihre Flotte verschämt im Tiefgeschoss. So wie saturierte Vorstädter, denen plötzlich einfällt, Ach ja, ein Fahrrad habe ich ja auch noch im Keller. Das könnte ich eigentlich wieder flottmachen, das Wetter ist so schön. Wenn man dann im Keller aus dem ICE steigt, zieht man unwillkürlich den Kopf ein, so niedrig wirken die Decken. Auch meint man, nicht in einem Bahnhof, Verzeihung: Hauptbahnhof gelandet zu sein, sondern in einem Lebensmittelmarkt auf der grünen Wiese. Wände, die aussehen wie perforierte Rigipselemente, verleihen den Charme des örtlichen Aldimarktes, aber nicht die pompöse Grandezza (um dieses Wort mal aufzugreifen), die ich mir vom Hauptbahnhof der Hauptstadt erwarte.

Das Architekturbüro gmp hatte bekanntlich eine ganz andere Vision vor Augen: eine gothisch anmutende Kuppel aus Glas und Leuchtern. Herausgekommen ist der betongewordene Kleinmut, der so symptomatisch ist für diese Republik: Klotzen wollen, aber nur kleine Würfel produzieren. Für 500 Millionen Euro den Großkotz spielen, aber dann eine graue Betondecke einhängen, wo man Licht und Weite - Perspektive eben - erwartet hätte.

So erlebt man, egal an welcher Stelle man sich befindet, ein verschachteltes Etwas, bei dem alle Sichtachsen unterbrochen werden durch quergezogene Ebenen, Pfeiler, Säulen oder runde Aufzüge. Jegliches Gefühl von Weite wird durch Betonrampen der mittleren Ebene versperrt, für diese immense Horizontale des Baus fehlt definitiv die Vertikale, wie sie Bahnhöfe in Köln, Frankfurt oder sogar Hamburg bieten. Einzig an manchen Stellen gibt es das Gefühl von Tiefe. Ich vermute aber, sobald die ersten Selbstmörder die Fallwucht im neuen Bahnhof getestet haben, werden auch noch Netze eingezogen, die die letzte Anmutung von Weite ins Kleinkarierte zurren.

Das mögen am Ende jedoch ästhetische Befindlichkeiten bleiben, über die nur unvernünftige Menschen endlos streiten. Zum Glück. Was aber endgültig ärgert, ist die Verfehlung dieses Bauwerks als funktionaler Ort. Es ist offenbar ein Politikerbahnhof, an dem die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter mit einem Attachéköfferchen bewaffnet aus dem ICE steigen und gemütlich die 400 Meter zum Reichstag zurücklegen können. Für jeden echten Reisenden mit richtigem Gepäck, wird dieser Bahnhof zum Purgatorium. Wenn 200 Menschen auf einmal den ICE verlassen, sich mit Koffern, Plunder, Bahncard und quengelnden Kindern die engen Rolltreppen hochquälen, dürfen sie sich durch die Shopping-Touristen manövrieren, die in der mittleren Ebene Restaurants und Boutiquen besichtigen und ansonsten bräsig im Weg stehen, nur um auf der dritten Etage endlich die S-Bahn zur Weiterfahrt in die Stadt zu erreichen. Eine Ochsentour für Kunden, die das eigentliche Kerngeschäft der Bahn bedienen. Der Bahn-Comfort-Kunde sagt schon jetzt: Vielen Dank, Herr Mehdorn! Der Rest überlegt wohl schnell, auf einen Opel ein Auto umzusteigen.

Da mein Lieblingsheiliger Sisyphos heißt, ist mir das egal. Völlig gaga aber werde ich auf dem Bahnsteig. Wenn man (trotz bloß spärlicher An- und Abfahrtstafeln und sonstiger Beschilderung) sein Gleis gefunden hat, wird man von einer Stimme gequält, wie sie in den 70er und 80er Jahren auf Mittelwelle zu hören war. Damals funkten die östlichen Geheimdienste ihre Anweisungen in stundenlang monoton vorgetragenen Ziffern-Fünfergruppen an ihre Agenten: Zwo-Vier-Sieben-Neien-Drei. Mit dem Charme der computerisierten Zeitansage, werden nun die Zugansagen aus der Sprachdatenbank zusammengebastelt. Mehrsprachig piesacken einen fortan völlig falsch betonte Sätze, deren künstliche Intonation einen binnen kurzem in den Wahnsinn treibt.

Dies ist ein Bahnhof für Blade Runner, und die Replikanten, die sind schon lange unter uns.


 


Freitag, 19. Mai 2006


Ein Brief mit schwarzem Rand



Post aus Berlin? Nicht immer bettet Freude sich beim Nennen dieser Stadt. Neulich aber frohe Kunde im Briefkasten. Ein Geschenk von der Strychnin-Galerie.

Was Mrs. Young mir schickte, was birgt der schwarze Schrein?
Das Geheimnis nicht zu lüften, so tapfer muß ich sein.


Heute abend jedenfalls mache ich mich auf die Suche nach meinem inneren Kind. Stapfen durchs Dunkel, huh, huh, und dann womöglich die ein oder andere schwarze Träne verdrückt. Paul Booth, Großmeister der Tätowierkunst, zeigt zehn neue Gemälde und setzt vielleicht die Nadel an. Ich möchte die betenden Hände, einen Engel und Flügel, mit denen ich über der Stadt schwebe. Über mir selbst am besten. Was braucht man für einen Motor, wenn das Herz so pocht? Ich bringe Regen mit, ein kleines Geschenk. Ich bringe zwei oder drei Gedanken mit, das Bild eines blutenden Fingers und schreibe alles auf, was ich sehe, höre und schmecke. Da in der großen Stadt, in den tiefen Kellern, am Rande. Am Rande von irgendwas.

(Paul Booth, The Inner Child. Noch bis Mitte Juni in der Strychnin-Galerie, Berlin.)

Flanieren | von kid37 um 13:28h | ein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Mittwoch, 17. Mai 2006


Von Frauen und Hunden



Vor zwei Jahren sah ich die etwas umfangreichere Version der Ausstellung in der Berliner Galerie Camera Works. Dort lernte ich auch den Fotografen Elliott Erwitt über gemeinsame Bekannte kennen, schlug dummerweise eine Einladung zum Essen aus, und muß mich bis heute fragen, wieso ich mit dem Präsidenten der Agentur Magnum nur ein paar launige Worte wechselte, anstatt ihm gleich mein Portfolio unter die Nase zu halten.

Erwitt ist ein sehr humorvoller älterer Herr, aber das ahnt man gleich, wenn man seine Fotos kennt. Berühmt sind neben seinen Porträts von Leinwandhelden die Aufnahmen aus dem Central Park, auf denen meist Frauenbeine mit irgendwelchen ridikulen Hündchen zu sehen sind. Hunde, Hände und menschliche Selbstentlarvung in skurrilen Momenten voller Alltagskomik sind seine Themen, dabei ist er nie boshaft, immer nur schalkhaft. Entspannt und leicht ein wenig verloren wirkt er, dabei ist er hochwach und zu Späßen aufgelegt. Ebenso nett übrigens seine Frau, die mich auf der Vernissage wiedererkannte und sich erinnerte, daß ich - sagte ich es bereits? - dieses Essen ausgeschlagen hatte. Ich bin sicher, der Mann hätte es reizvoll gefunden, wenn ich mir einfach ein Käsebrot bestellt hätte.

(Elliott Erwitt, Personal Exposures,
noch bis zum 12. Juli in der Galerie Robert Morat, Hamburg.)


 


Mittwoch, 10. Mai 2006


Meese, Meese, Großgewese


Ja, der Gaukler ist in der Stadt. Jonathan Meese, Kunstkramwunderkind, hat seine Zelte in den Deichtorhallen aufgeschlagen. Vor einigen Monaten stand ich angeregt auf einer Vernissage mit Frau Schwadroneuse vor ein paar großformatigen Meese-Exponaten, und da standen wir so und kamen auf Begriffe wie Großtun, Kleinkind, Feuilletonköder und Zeichensätze im Nachkriegsland und ähnliches, längst Verdrängtes, Verpufftes, Vermufftes. Sie sagte so Jaja und ich mehr so Jaja, aber mit der Betonung auf dem anderen "a". Meese ist als notorischer Zertrümmerer mittlerweile so etwas wie die Bildende-Kunst-Version der Einstürzenden Neubauten fürs beflissene Kunstinteressiertenvolk.

Die Kinderladenversion des Wiener Aktionismus zum Entzücken Berliner Theatermacher. Ich finde ja das Konsequente toll. Die Frage "Kunst oder Krempel" heißt bei Meese ja immer beides, Kunst&Krempel, durchmengt, fiebernd, abgespritzt. Banales, Anales, Erde, Erz und Lendenkraft. Der Duft des Tages? Wie wäre es mit: muffig-schwüle Zimmer adoleszenter Jugen, die ihre Pornohefte unter verschwitzten Decken hüten und die Fenster nie öffnen. Meese (Jahrgang 1970) atmet seinen Bildungskanon zwischen Trash, Comics, Klotürscrafittis und Wagner als gigantische Omnipotenzphantasie. Galeristen und Sammler geben ihm begeisterungstrunken recht und reißen ihm seine Werke zu Höchstpreisen aus den Händen.


"Mamma Johnny" heißt die erste große Werkschau in den Hamburger Deichtorhallen. Kein Song von Brecht/Weill, aber die Assoziation ist gewollt. "Ernteproduktionsmeldung" bellt es hinaus. "Djangogott" und "Blutlazarett". Das ist was fürs Publikum, das von Bayreuth träumt und sich auf die Schenkel schlägt, sobald jemand auf einer Bühne "Ficken!" sagt. Heldenwahn! Pimmeldämmerung! Immer die große Handbewegung.


Die Zeichnungen des Patienten J.M.: Vom Mythos zur Mythologie und wieder zurück. Verwüstet, verwurstet, drin rumgesuhlt. Am Ende zählt nicht Geschlechtshygiene. Nur das Ich.



Man schnürt etwas traumverloren durch seine labyrinthische Welt: Bücher in Geheimsprache, immer wieder Schwänze, Skulpturen, Bühnenbilder, Geschmiere, unaufgeräumte Zimmer Rauminstallationen, die Wucht in Tüten, sex- und toddurchtränkt. Immer etwas pubertär, immer irgendwie mit Augenzwinkern (hofft man) und wahnfriedwitzigem Erz Ernst (ahnt man). Überhaupt: Ein Ahnen und Raunen schwebt zwischen den Plastikplanen, die ein Zelt über dem Bühnenbild der Volksbühneninszenierung von Pitigrillis Kokain bilden. Vier Stunden dauerte die Aufführung. Wer die durchstand, zwischen Blut, Tränen und tropfendem Schweiß, war wohl gestählt für Bloggerlesungen sans Sauerstoff.


Ich habe nichts gesagt. Das jedoch 1000 Tonnen schwer.


Johnny räumt sein Zimmer nicht auf, ehrt aber seine Mutter, und die Bohème ist begeistert. (Am 14. Mai ist Muttertag!)


"Das Tier hat uns nichts mitzuteilen". Dem muß widersprochen werden. Und schon tritt man mit der Kunst ins Gespräch. Ein teuflischer Trick.

("Mama Johnny". Bis zum 3.9. in den Hamburger Deichtorhallen.)


 


Mittwoch, 19. April 2006


O Haupt voll Blut und Wunden

In the end you will submit,
It's got to hurt a little bit.

(New Order, "Subculture")


Die Karfreitagsprozession in Wuppertal - im Volksmund auch Regenschirmprozession genannt aufgrund der oft schwierigen Wetterlage im Tal - hat seit Jahren eine feste Tradition. Während sich anfangs nur ein paar hundert Leutchen, Mitglieder der italienischen Gemeinde zumeist, in der Stadt versammelten, um den Leidensweg Christi nachzustellen, ist das ganze mittlerweile zu einer durchorganisierten Großverstaltung gewachsen. Die Darsteller tragen drahtlose Mikrofone, die Kostüme sind aufwendig und das (Er-)Barmer Blasorchester fügt den inbrünstig gemurmelten italienischen Gebeten von der Maria voll der Gnade die nötige bergische Schwermut hinzu.

Man muß sich das mal vorstellen: da vermissen italienische Gastarbeiter ihre katholischen Traditionen aus Süditalien und beginnen, diese in einer Stadt, die das Feiern nur im Verborgenen kennt, aufleben zu lassen. 5000 Menschen folgten dieses Jahr dem feierlichen Zug auf die Wuppertaler Höhen. Bei weitem nicht nur Italiener, und so kam es nicht von ungefähr, daß in der zweisprachigen Predigt der Zusammenhalt und die Toleranz der Kulturen und das gute Zusammenleben von Italienern und Deutschen hervorgehoben wurde. Multikulti mag tot sein, in solchen Momenten funktioniert es einfach. Und man muß nicht an den allmächtigen Schöpfergott glauben, um universelle Lebensweisheiten über Opferbereitschaft, Liebe, Verrat, Tapferkeit, Erniedrigung und Hingabe für sich abzuleiten. Wer einmal eine größere Darbietung volksfrömmiger Hingabe erlebt hat - Ste Anne de Palud ist ein weiteres Beispiel - muß schon hart im Herzen und hochmütig im Geiste sein, will man sich den tieferen Botschaften verschließen.



Eingestimmt wurde ich, als ich eine Exfreundin aus seligeren Wuppertaler Tagen traf, die ihre Haare nach wie vor leuchtsignalfarben unübersehbar trug. Vor ein paar Jahren entdeckte sie meine grauen Strähnen und meinte in der ihr eigenen Herzlichkeit, "alt bist du geworden". Nun dachte ich ebenfalls, ein wenig uncharmant vielleicht und daher nur leise, "alt ist sie geworden", so wie man es an seinen Kindern merkt, wie die eigene Zeit vergeht.
Wer keine Kinder hat, wie ich, liest den eigenen Verfall nicht am Flug der Vögel ab, sondern am Werden und Vergehen der ihm gut bekannten Menschen. Aber was rede ich, sie sah natürlich, anders als ich, sehr gut aus und ihr aktueller Freund vielleicht sogar eine Spur besser noch. Was immer irgendwie blöd ist, erwartet man von seinen Exfreundinnen doch die Höflichkeit, daß sie sich - wenn sie schon nicht ins Kloster gehen - wenigstens verschlechtern mögen und beispielsweise an eben dem langweiligen Typen hängenbleiben, den man früher in der Schule immer verlacht hat.

Dergestalt also an die Tugend der Demut erinnert, war ich innerlich bereit für das Spektakel, das nun folgen sollte.



Der Herr Jesus wurde wie in den Vorjahren von einem feschen jungen Italiener gespielt, dem mit seinem unschuldigen Gesicht, der blutenden Stirne und dem zerzausten Haar sicher einige jungfräuliche Herzen vom Wegesrand aus zuflogen. Seine Mutter heißt übrigens Maria, was seiner Glaubwürdigkeit in fast unerschütterliche Höhen überführt.

Im Deweerth'schen Garten beginnt die Prozession traditionsgemäß mit dem Gebet von Gethsemane und der berüchtigten Szene, wo der verschlagene Judas dem lieben Herrn Jesus den verräterischen Kuß gibt. O, falsche Freundlichkeit, du herzlose Natter! Man kennt diese Bussi-bussi-Gesellschaft.

Auf dem Laurentiusplatz, gegenüber dem Kaffee Engel, wusch bald Stadthalter Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld. Das Volk skandierte und schickte Jesus endgültig in den Tod.



Auf dem Rathausmarkt, am Neptunbrunnen, residieren für gewöhnlich Randständige und konsumieren ihr Bier. Man meint ja, daß die sich heute schwer gewundert haben dürften, als plötzlich ein paar tausend Menschen aus der Fußgängerzone auftauchten und sich um sie herumgruppierten, darunter eine Gruppe Römer in voller Montur, die sozusagen einen der ihren drangsalierten. Doch nicht so im bibelfesten Wuppertal.
Denn nachdem die Prozession weitergezogen war, meinte einer der Berber zum Kollegen: "Ich war ja zwei Jahre im Kloster, woll."
"Ach watt."
"Doch, war so. Un' ich kenn die Geschichten nämlich alle."



Nicht ganz so die Lage auf der Hardt. Die Wuppertaler Parkanlage wird jedes Jahr zum Golgatha, dem Schädelberg. Nachdem ich die Anhöhe mühsam erklommen hatte, bot sich mir ein tolles Panorama auf eine Kavalkade bußfertig erhobener Regenschirme, denn pünktlich zum traurigen Höhepunkt der schmerzensreichen Leidensgeschichte, hatte sich der Wuppertaler Himmel bedrohlich verfinstert.
Genervte, aber in Bibelkunde versierte Väter hievten ihren neugierigen Nachwuchs auf die Schultern und mußten den nur diffus vorinformierten Blagen geduldig die Sachlage erklären.

"Ist der Jesus jetzt tot?"
"Noch nicht. Gleich."
"Ist jetzt gleich? Ist er jetzt tot?
"Dauert noch ein bißchen."
"Wenn der Jesus tot ist, können wir dann gehen?"



In diesem Augenblick wurde mir klar, daß es es diese einfühlsamen Kommentare vor 2000 Jahren sicherlich bereits auch schon gab. Als schaulustige Väter ihren Kindern die Geschehnisse auf dem Richtplatz erklären mußten. Höchstwahrscheinlich, so möchte ich vermuten, fiel dabei aber nicht der Satz "Willst du noch ein Stück Schokolade, Anna-Maria?"

Die melancholischen Posaunen erklangen und die Menge fand mit schwankenden Stimmen in das Lied von Paul Gerhardt. Immer wieder griff ich in meine Tasche voller Dornen, und ich schwöre, am Ende zeigte meine Handfläche ein ganz klein wenig Blut.

Die Kreuzigung war übrigens sehr schön.


 


Mittwoch, 5. April 2006


Die Mäuse, die Menschen und der Müll

Willows fresh and green with every spring
carrying in their lower leaf junctions
the debris of the winter's flooding

(John Steinbeck, Of Mice and Men. 1937.)

Und wieder die Frage: Ist es Konzeptkunstkacke oder haben
die streikenden Verdi-Männer den Spermüll nicht abgeholt?


Die Berlin Biennale reizte dieses Jahr... nicht so wirklich. Jetzt mal ganz subjektiv, aus der Lameng und dem Bauch heraus. Wer was interessantes entdeckt hat, soll schnell laut schreien, Von Mäusen und Menschen, dann berichtige ich das.

Die offenen Ateliers im Tacheles ließen mich ebenso mißmutig zurück (muß man ein bißchen zelebrieren, wenn man schon mal solche Gefühle hat). Ist ja alles ganz nett und alles ganz löblich. Aber halt auch viel "Hippiekitsch", wie die Begleitung meinte. Zusammengelötete Rostskulpturen mit Robot-Chic, so eine Art überdimensionierte Schraubenmännchen, wie man sie auf jedem Flohmarkt findet. Ergreifend.

Dann so Buntgezacktes mit fahrigen Strichen, ich sag mal, Kunstleistungskurs macht mal locker und übt sich in Art brut, aber mehr sage ich auch nicht. Alles sehr löblich und toll, und übrigens hatte die Hälfte der offenen Ateliers geschlossen. Dort lagerten die Schätze, ich bin sicher.

Übrigens riechen diese zugemüllten Berliner Ateliers deutlich ungelüfteter als die Hamburger oder - ganz aus der Erinnerung jetzt - die in Wuppertal. Darüber könnte man vielleicht einmal eine kleine Abhandlung versuchen. ( Der Schweiß der Kunst, Versuch einer Bestandsaufnahme. Hamburg, 2006.)

Interessanterweise allerdings hingen im Tacheles auch zwei Bilder von Gothic-Punk-Chic-Maler John John Jesse - wie kommt der denn dorthin? Möglicherweise auf denselben verschlungenen Wegen wie A Guy Called Gerald, von dem ich sogar noch die Maxi "Voodoo Ray" besitze. So klein ist die Welt. Sag hallo.

Hier regnet es wieder. Ich muß viel gelogen haben, als ich 17 war.


 


Dienstag, 14. März 2006


Smile Like You Mean It

And someone is calling my name
From the back of the restaurant
And someone is playing a game
In the house that I grew up in

(The Killers, "Smile Like You Mean It")

Samstag 9.30 Uhr
In Hamburg schneit es seit Freitag ununterbrochen. Durch tiefen Schnee stapfe ich zur U-Bahn. Kurz nach zehn geht mein Zug nach Frankfurt, zur Bloggerlesung. Toll.

11.30 Uhr
Zwangsstopp des ICE vor Lüneburg. Notarzteinsatz wegen Personenschaden. Ein Hauch des Hermetischen Cafés scheint mir vorauszueilen. Wo ich bin, ist immer Herbst, denke ich und ahne, daß ich mein T-Shirt nicht umsonst angezogen habe. Toll.

15.00 Uhr
Mit einer Stunde Verspätung Ankunft in Frankfurt. Es regnet, und ich kenne den Weg nicht. Es ist lange her, daß ich zuletzt in der Stadt war. Schnell in die Schirn, dann weiter in die Berliner Straße. Einmal geblinzelt, und man ist am Café International vorbeigelaufen. Die lesende Viererbande trifft sich zum Vorgespräch und kleinem Essen. Wir werden im Schaufenster lesen. Frankfurt serviert mir ein Süßbier, das ich nur aus Höflichkeit trinke. Erfreut, endlich die Gesichter und Stimmen hinter Andrea, Suna und Bandini kennenzulernen. Wegen ihres Akzents überlege ich kurz, spontan mit Suna durchzubrennen. Später wird sich zeigen, daß dies keine gute Idee gewesen wäre. Immerhin erzählt sie angeregt von den Hausschlachtungen bei ihr daheim. Toll.

19.45 Uhr
Im Café International treffen die ersten Gäste ein, während wir vier die Alkoholikafrage klären. Die beiden Damen greifen zum Whiskey, während ich froh bin, so was wie ein richtiges Bier zu bekommen. Toll.

20.15 Uhr
Die Lesung beginnt. Herr Bandini klärt das Publikum über den Ablauf auf, dann startet Andrea Diener souverän den Abend.

Ich lese als zweiter und von den Schwierigkeiten, in Hamburg Hosen und Schuhe zu kaufen. Trotz meiner Ankündigung "Wer lacht, fliegt raus", ist leises Gekicher im Raum zu hören.

Als Suna liest, klingelt ein verficktes dämliches Mobiltelefon. Ich überlege kurz, den Besitzer zur Rede zu stellen, als mir auffällt, daß es mein eigenes ist. Unglaublich. Nie ruft mich einer an, und nun ausgerechnet jetzt. "Unbekannter Anrufer" meldet das Display. Kam wahrscheinlich aus dem Zuhörerraum. Toll.

Suna hat es faustdick hinter den Ohren und rächt sich auf subtile Weise, als sie einen Text über grauhaarige Herren im fortgeschrittenen Alter vorträgt. Im Zuhörerraum wird schon wieder gelacht, lauter diesmal. Ich ahne, warum ich überhaupt eingeladen worden bin. Man braucht jemanden, auf dem man herumhacken kann. Ich räche mich in der zweiten Runde mit einem eher düsteren Text, der dem Vergnügungsmob das Lachen austreiben soll. Später beschäme ich Suna, als ich ihr trotz allem meine Strickjacke leihe. Es ist recht zugig in diesem Schaufenster.

Bandini läßt unter seinem Anzug den Altpunk raushängen und konjugiert fröhlich Begriffe für das männliche Geschlechtsteil auf der Bühne. Ich überlege für einen Moment, Randgruppen zu beleidigen, wähle dann aber kurzentschlossen einen anderen Text. Es wird wieder gelacht, das Publikum ist unglaublich verroht und tut so als würde es sich amüsieren. Ich lasse mich aber nicht foppen, gehe darauf ein und spreche nach der Lesung wie abgesprochen spontan eine blonde Bloggerin an, die in der ersten Reihe saß.

22.30 Uhr
Cool. Die blonde Bloggerin läßt mich wie abgesprochen spontan bei sich übernachten. Toll.

23.30 Uhr
Ich habe einige Hände geschüttelt und bin überrascht, wer alles dort ist. Toll. Wo ist der Herr, mit dem ich immer mal ein Bier trinken wollte?

23.45 Uhr
Keine weitere Zeit für Enttäuschungen. Nette Gespräche, noch mehr Gesichter und noch viel mehr Bier. Ich lache jetzt auch. Es hält sich ja eh keiner an die Spaßfastenzeit. Toll.

Sonntag
Sonne tanken in Frankfurt. Im Palmengarten sehe ich die ersten Blüten. Toll.

Montag 21.00 Uhr
In Hamburg liegt immer noch Schnee. Über vereiste Bürgersteige schlittere ich nach Hause. Schön, wieder daheim zu sein. Toll wars.

Danke noch mal an Herrn Bandini für die Organisation - und allen Zuhörern.
Es hat wirklich Spaß gemacht.

(Fotos übrigens bei Herrn Kristof)


 


Donnerstag, 9. März 2006


Tachycardia


Wer am Freitag in Berlin nicht gerade Rattling and Rolling macht, mag vielleicht auf der Vernissage von Tachycardia in der Strychnin-Galerie vorbeischauen.

Kirsten Ferrell und Sean Pierce zeigen neue Werke with a healthy Fuck You! Emotionales Verzücken, blutversüßender Augenzucker und nette Menschen mit Sonnendefizit sind bestimmt nicht zuviel versprochen.

("Tachycardia", bis 10. April in der Strychnin-Galerie, Berlin.)


 


Samstag, 11. Februar 2006


Nachtschattengewächse

Sometimes I wonder
What goes on in your mind,
Always silent and kind
Unlike the others
Fuck the mothers kill the others
Fuck the others kill the mothers
I'll put it out of my mind because
I'm out of my mind with you
In heaven and hell with you

(Siouxsie and the Banshees, "Nightshift")


Berlin besuche ich nicht, ohne einen Koffer voll Erinnerung dort zu lassen (oder das letzte Hemd). Am Dienstag gab es die erste Vernissage in den neuen Räumen der Strychnin Galerie. Yasha Young hatte geladen und präsentierte eine illustre Auswahl von Künstlern des Bittersüßen: Elizabeth McGrath, Großmeisterin der bizarren Puppenstube, Misery, subversive Botschafterin der bittermandeligen Melancholie der Ausgestoßenen, Mateo, kalifornischer Trickster der Low-brow Art, Laura Satana, Pop-art Voodoo-Tattooistin, und andere zeigen Variationen des Morbiden, Entrückten, Skurrilen und Grotesken, daß man denkt, man sei im Wohnzimmer von Tim Burton gelandet.



Die erweiterten Galerieräume in der Boxhagener Str. bieten endlich großzügigen Platz für böse, kleine Kunst. Grause Gemälde und grimme Skulpturen, wohl dem, der sich diese Nacht noch schützend flüchten kann. Absinthverstürzte Gedankenwelten, grimassenschneidende Enfants terribles, schrecklich schröcklich und immer am Herzen reibend, wie eine kalte Hand voll Sandpapier.



Puppen, nachtmahrige Augensterne und Bilder mit der sanften Melancholie eines vergessenen bunten Balls auf einem verregneten Kinderspielplatz. Man sollte nicht allein dorthin gehen, besser Hand in Hand. Und mit der anderen Hand: Steckt Geld ein. Denn Kunst kann man auch kaufen!

("Nachtschattengewächs", noch bis zum 10. März in der Strychnin Galerie, Berlin.)