Dienstag, 26. Oktober 2004


Astigmatismus

She lives in the TV sky
She lives in such pain
She rides in a bulletproof
Stretch limousine
(Neil Young, "Slip Away".)

"Dieser Satz ist falsch." Das ist so ein philosophisches Rätsel. "Alle Kreter lügen", man kennt das. Sagt ein Kreter. Wie also dieses Paradox auflösen?

Ich kann keine Philosophie. Ich habe einiges von Nietzsche gelesen. Einiges von Kant. Als ich auf der Uni war, interessierte ich mich für ein paar dieser Postmodernen. Über Roland Barthes kam ich zu Baudrillard, Derrida, Deuleuze, Guattari, Virilio. Kittler auch. Damals, abgeschieden auf Waltons Mountain hielt ich mich für einen brillanten Kopf, der an eine semiotische Tür klopfte, zu der er keinen Schlüssel besaß. Damals war Verstehen sehr einfach. Man mußte nur eine elektrische Gitarre vor den Lautsprecher eines Verstärkers stellen. Im Feedback der wimmernden Membranen verstand man erst den Skeptizismus von Virilio und landete zwischen E-Dur und a-Moll bei Deleuze.

Wenn man ein Zeitungsfoto mit Nitrolösung überstrich und als Frottage auf ein anderes Papier übertrug, kam man Baudrillard sehr nahe. Manchmal fühlte ich mich als mein eigenes Simulacrum. Und ein kurzer oder besser noch längerer Blick in die Augen eines schönen Mädchens, das im Begriff war, einen unter den Tresen zu trinken, genügte, um selbst zu einem Mythos des Alltags zu werden.

Als der selbstgewisse Rausch der Jugendlichkeit verflog, wurden die Ränder unschärfer. Eine Zeitlang half mir meine schwarze Intello-Hornbrille von Mikli, die ich alsbald benötigte. Nietzscheanische Selbstgewißheit gegen die Kleine Leute Moralität ("Das ist die ekelhafteste Entartung, welche die Cultur bisher aufzuweisen hat" - Über die Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.) verflüchtigte sich, je mehr ich selbst zum kleinen Mann wurde.
Was war schon wahr, Derrida?

Im Haus der Lüge (Neubauten), der beständigen Interpretation von dem, an das sich andere als wahr klammern mochten, richtete ich mir bald ein Zimmer ein. Sollten andere sich Häuser, Yachten, Pferde und Pferdepflegerinnen erschaffen; ich - in der Hälfte des Lebens - wollte im selbsterrichteten Tübinger Turm eine Hölderin'sche Heimstatt finden. Zeit für morbide Sehnsüchte also.

Vitalisten, Sadisten, Antichristen, Bataillisten - das modische dunklere Ende einer Pubertät ohne LSD-Visionen. Jahrtausendwende und die Hoffnung auf ein eigenes fin de siècle. Aber statt mit Pitigrillis Kokain schmissen die Geliebten im vierten Stock nur mit aufgetragenen Gelüsten um sich. Erstarrtes Bücherleben wird zum Kitsch. Katholischer Mystizismus als Gelsenkirchener Barock im spinnwebumhangenen Herrgottswinkel. Aber den Meister Eckhard konnte ich nicht gut genug rezitieren.

Überhaupt gebrach es mir zusehends an ausschweifendem Interesse. Man schafft es im Leben immer nur bis an diese oder jene Tür. Innerhalb dieses Feldes sollte doch ein Garten abzustecken sein. Man muß doch nicht sein verrücktes Pferd auf eine Prärie treiben, deren Weite man nie gewachsen sein wird.

"Ich als Hörender, zumal wenn ich ein Solipsist bin, bestimme, ob das, was ich beim Hören imaginiere, eine sinnvolle Aussage oder nur ein mir spaßmachendes Geräusch ist." (Steffen Dietzsch. Kleine Kulturgeschichte der Lüge. 1998.)

Mein Problem ist einfach: Alles was Du gesagt hast, ist wahr.


 


Donnerstag, 21. Oktober 2004


La Vache Qui Rit

Damals, als ich gerade den Dave-Gahan-Tanz- wettbewerb zum zweiten Mal gewonnen hatte, faßte ich einen Entschluß.
Ich würde zunehmen, nur noch gute Musik hören und die Finger von bösen Frauen lassen. Egal in welcher Reihenfolge. Eigentlich wollte ich auch nur noch Kleidung von Dries Van Noten tragen. Aber dann habe ich das Preisgeld gleich in derselben Nacht mit einer schwerst- tätowierten Frau durchgebracht. Immerhin zeigte sie mir in einer stilleren Stunde, daß man mit ihrem Glöckchen-Piercing tatsächlich gute Musik machen konnte.

Seither habe ich aber etwas zugenommen und täglich bessere Musik gehört. Spiel, Trunk und Klimperaugen lasse ich standhaft links liegen. Und sei es einmal nicht so, nun, so rät der Philosoph, wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man eben schweigen.

Manche halten mich deshalb gleich für einen Moralisten. Das ist natürlich Quatsch. Es stimmt, daß ich ein paar Mal eingeladen wurde, die Sonntagspredigt zu halten. Aber Fragen des sittlichen Benehmens und einer gewissen Etikette sind nun nicht unbedingt an rigide Moralvorstellungen gebunden. Chacun à son gôut, heißt es nicht umsonst. Und wer Milch predigt, aber Wein trinkt, den verlacht am Ende die Kuh.

Eines aber wollte ich nicht mehr sein: Blitzableiter. Bekannt für meine eigene große und quasi unerschütterliche emotionale Ausgeglichenheit ziehe ich nämlich die mit leichter bis mittelschwerer Energie aufgespannten Zickzack-Menschen an wie ein Kinderdrachen Blitze am Gewitterhimmel.
Die sagen dann, aber Herr Kid, Sie waren doch früher mal Messerwerfer im balinesischen Staatszirkus. Bitte, einmal nur die Nummer noch!

Naa, antworte ich. Das ist lange her. Und heute zu gefährlich. Die Messer bleiben hübsch im Schrank. Denn man muß wissen, wann seine Zeit abgelaufen ist. Nur sonntags noch, gleich nach dem Gottesdienst, lasse ich ab und an einmal die Scheibe kreisen. Dann stelle ich mir ein Glas Milch bereit mit nur einem winzigen Schuß von rotem Wein. Und manchmal, wirklich manchmal nur, mischt sich darin ein kleiner Tropfen Blut.


 


Donnerstag, 14. Oktober 2004


Stahlklang

I wake up everyday, the wrong side of the bed
I won't lay down on the floor like I'm the whore in your head
Call me a failure, pretender, sex offender, infector
Say I killed all my friends, and I deserve to be dead
Kiss, baby, kiss - Bang, baby bang - Suck, baby, suck...
This isn't music, and we're not a band
We're five middle fingers on a motherfucking hand.
(Marilyn Manson, "Vodevil")

Manchmal, wenn ich mir ganz gepflegt einen mit meinem alkoholfreien Pastis angehängt oder stundenlang vergeblich über CSS-Definitionen gebrütet habe, werde ich zum wilden Mann. "Einen wilden Mann kann man nicht halten", sang Bernadette La Hengst einmal. Da hat sie recht. Ein wilder Mann, der muß mal raus. Am besten an die frische Luft, wie das früher hieß. Man kann aber nicht immer nur Revolution machen. Manchmal ist auch Pause.

Heute ist ja schon Revolution, wenn man im Stehen pinkelt. Deshalb ergötze ich mich gerne an diesen Bildern. Schaue ich mir stundenlang an. Kippe alkoholfreien Pastis oder kalten Kamillentee herunter und warte auf den großen Moment: "The only ones left standing/Are the ones not demanding".

Dann liest man völlig isoliert, herausgerissen und zuordnungsfrei vom Tod der Mutter und wundert sich. Oder denkt sich, na gut, "No concept of pain/No right to complain". In diesen merklich frostig gewordenen Nächten spüren wir alle mal den kalten Griff metallener Kliniktische. Man muß nicht alles verstehen.

Halt' mich einfach fest. Ich mach' nur kurz mal Pause.


 


Mittwoch, 13. Oktober 2004


Ost-West-Dialoge

Fern zwischen kahlen Bäumen, manchem Haus,
Zäunen und Schuppen, wo die Weltstadt ebbt,
Und auf vereisten Schienen mühsam schleppt
Ein langer Güterzug sich schwer hinaus.
(Georg Heym, "Berlin III". 1910.)

Es fröstelt an den Spree-Kanälen. Irgendwo da draußen brach im Januar 1912 Georg Heym beim Versuch, seinen Freund Ernst Balcke zu retten, im Eis ein und ertrank. Berlin kann sehr kalt sein, zärtlich vielleicht auch, aber immer bleibt es trügerisch. An der East-Side-Gallery überzieht der aufgekratzte Putz wie grindiger Schorf das alte Stückchen Mauer. Ost-West. In der ehemaligen Zone, dort also, wo es jetzt interessant ist, abseits vom an-sich-selbst-erstickten "X-Berg", entspannte Gespräche zu Berliner Bier und Prenzlauer Zigarettenqualm. Müßte man danach nicht wieder durch russische Frostwinde, via Nachstraßenbahnen und Schienenersatzbussen den Weg in andere Viertel suchen - man könnte ewig so sitzen und denken, laß den Vulkan doch alleine tanzen. Aber kluge schöne Frauen gehen früh zu Bett, und mein Hafen liegt sowieso in einer anderen Stadt.

Berlin habe ich nie so recht verstanden. Das ist Fakt. Ich habe mich bemüht, lange Jahre. Aber die empfindsame Vorgartenprovinz wurde immer wieder von Berliner Krawallpanzern überrannt.


Mädchen singen gellend
Musiker geigen
Irgendwo sitzt ein Soldat, der schläft.
Eine sagt: Miezeken, ick jehe mir einen Mann suchen!
Hüften hängen wie reife Trauben über die Kanten der Stühle.
Sadisten lechzen nach Hiebe
Junge Männer, Zuhälter
Mädchen, Amerikaner, Soldaten
Neger und eine 18jährige Kellnerin

(George Grosz, "Nachtcafé", ca. 1919.)

George Grosz ("Hoho! Berlin!! Von Portweinflaschen reizvoll überpinkelt!") hat es vortrefflich gemalt und dabei kaum übertrieben. Heute, oder sagen wir tagsüber, sieht man natürlich in erster Linie den Dreck, den Verfall. Endloses Tagging über Häuserfassaden, zerschundener Putz, dazwischen Glasscherben, asoziales Zerplatzenlassen, rachitische Kinder, bleiche Gesichter, die - Berlin ist günstiger als Hamburg - um 50 Cent betteln.

Berlin spricht nicht, Berlin deklamiert. Berlin will sich beweisen, möglichst laut, rauh und immer "Watten dette?" mit einer rabiaten Abwehr "da drinne". Manchmal möchte man den Finger in die feuchte Wunde legen, sachte, damit die Stadt sich wieder spürt. Und ganz sanft wird, und spricht, ganz ohne Megaphon.



Denn manchmal schiebe ich den Lärm zur Seite, weil ich weiß, daß Weißes Rauschen nur Redundanz bildet. Dann tauche ich durch diese Welle, laß Gerede, Gerede und Hetze, Hetze sein. Dann hör' ich es zirpen, das kleine verwundete Herz der Stadt. Berlin kann singen, wenn man es nur läßt.

"Aber die haben och Herz", höre ich nachts in dieser Kneipe. Auf der Newton-Ausstellung "Us And Them" am Bahnhof Zoo das rührendste Bild: Ein Selbstporträt von June Newton mit einer Zeitung in der Hand. Auf der Seite ein Nachruf auf den jüngst verstorbenen Gatten, dem heimgekehrten "Sohn Berlins". In dem Artikel ein Foto: Helmut Newton, mit seiner kleinen mju im Anschlag. So fotografiert er rüber zu seiner Frau, die die Zeitung hält, das Bild fotografiert. Sie fotografieren sich gegenseitig. Über das Ende hinaus.

Ach, Berlin. Es ist so viele Jahre her.


 


Montag, 11. Oktober 2004


Berlin, Berlin

Kreuzberger Internetcafé-Tristesse. Sieht aus wie ein türkischer "Kulturladen", selbst der Bildschrirmhintergrund vermittelt einem die heimelige Wärme einer flackernden Neonröhre.

Ich muß mal etwas längeres über Berlin schreiben. Etwas über Haßliebe zu Städten, Gewalt in den Straßen und dem Gefühl, das man immer etwas verloren steht in diesen mythischen Bezirken zwischen X-Berg, F-Hain und P-Berg.

Heute macht ein Hauch mich von Verfall erzittern, könnte ich mit Trakl sagen. Ich hoffe, ich komme lebend hier raus.

Berlin ist größer als ich.


 


Samstag, 2. Oktober 2004


Liebe im ICE

Seit kurzem nutze ich an den Wochenenden öfter mal die Fahrdienstleistungen der Deutschen Bahn. Man könnte fast sagen, ich sei eine coole Sau, denn ich hab' jetzt Bahncard. Tolle Sache, bis ich feststellte, daß ich mit Surf&Rail günstiger weg- und auch wieder ankomme. Aber ich liebe den Nah- und auch den Fernverkehr, und am schönsten ist es natürlich, wenn man sich aus der Ferne ganz nah kommt.

In den Zügen verliert man nicht den Kontakt zu seinen Mitmenschen, das bereitet mich auf kommende Prüfungen vor, die unter anderem lauten könnten: "Bald stelle ich dich meinen vierzig engsten Freunden vor." So etwas erfordert eine besondere Art von Stamina, die sich der soziophobe Mensch am ehesten am öffentlichen Orte erarbeiten mag.

Der völlig leere ICE-Waggon war für diese Aufgabe nicht hilfreich, mir aber äußerst angenehm. Ein wenig einsam vielleicht, während draußen die Nacht hereinbrach. Doch dann umfing mich eine dunkelgefärbte Stimme, die mit leicht österreichischem Akzent durch das Bordsystem säuselte. "Guten Abend", schwang es wie einst bei Elmar Gunsch. "Wir erreichen in Kürze Solingen-Ohligs, vorraussichtliche Ankunftzeit in zwei Minuten. Außentemperatur 13 Grad. Wir wünschen Ihnen alles Liebe in Solingen..." (Es entstand eine längere, melancholische Pause) "... Ihre Deutsche Bahn."

Verblüfft und ein wenig irritiert sank ich derart anmoderiert in meinen ICE-Sessel und hing so meinen Gedanken nach. Wie aufmerksam von der Deutschen Bahn. Wie sanftmütig, gedankenvoll und scheinbar auch ein wenig herzensschwer von diesem so häufig gescholtenen Dienstleister, der sich im übrigen "freuen würde, bald wieder mein Begleiter auf meiner Reise zu sein."

In Solingen hatte ich selbst mal glückliche Stunden erlebt. Liebe muß man es wohl nennen, denn die war auch im Spiel. Das ist lange Jahre her und war nie so ganz unkompliziert, aber ich erinnere mich gerne. Ja, alles Liebe in Solingen.
Das wünschen wir.


 


Donnerstag, 30. September 2004


Hier noch mal die Regeln

So, ihr Mimosen, weiter geht's.

Das kann man sich übrigens mal merken:

1. Flohmarkt

2. Aktfotos

wird fortgesetzt


 


Dienstag, 28. September 2004


Unkenrufe

Heute wieder Regen. Vollmond. Müde.


 


Freitag, 24. September 2004


House of 1000 Perversions

You can tell from the state of my room/
That they let me out too soon
(Dresden Dolls, "Girl Anachronism")

Huch huch, schon wieder Besuch. Putzen, tun, machen fast wie vor ein paar Monaten. Als ich vorhin in die Stadt fuhr, für letzte Besorgungen, und so in der U-Bahn meinen schmutzigen Phantasien nachhing Logarithmentafeln memorierte, fiel mir glühwarm ein, daß ich ja keine Rotweingläser besitze. Also eilte ich noch schnell in ein Glaswarengeschäft. "Entschuldigung, wo haben Sie denn hier die VodkaRotweingläser?"
Dann wurde mir das Grauen offenbart. Auch so Schwulettenteile für "Rosé" (wer trinkt sowas?). Gewundenes, Geschundenes, endlos geflochtene Bänder. Glitzer und Ritzer.

"Sagen Sie, haben Sie auch Gläser, die ich als Mann anfassen kann, ohne daß gleich alles zerbricht? Ich niete den ganzen Tag im Hafen Stahlplatten, da werden diese Glaszahnstocher nicht lange halten."
"Mein Gott, " rief sie, als sie meine Hände sah. "Sie haben recht. Sie sind kein Mann, sie sind ein Monster!"

"Mag sein. Aber nun bekomme ich Besuch. Und wenn wir uns gegenseitig aus der Logarithmentafel vorlesen, wollen wir vielleicht ein gepflegtes Glas Rotwein dazu trinken."

Versuchen Sie es doch drüben bei den Bierseideln, wurde mir beschieden. Man glaubt es nicht. Muß ich unbedingt noch einmal fotografieren. Der Horror zeigt dort offen seine rustikale Fratze, ohne daß es verboten wird.


Ja, so ist das. Gleich kommt Besuch. Erlebt mich geschockt. Und was mein Besuch noch nicht weiß: Das Hermetische Café wird intern nur noch Das Haus der 1000 Perversionen genannt.

Hier gibt es nämlich neuerdings auch alkoholfreien Pastis zu trinken. Aus Rotweingläsern.


 


Mittwoch, 22. September 2004


Kontenklärung

Gestern war ich bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Eigentlich bin ich ja selbständig, aber zu klären gab es dennoch was: Rentenjahre.
Ein eher düsteres Kapitel in meinem unsteten Leben, das nach dem Motto geht
et hätt noch immer jut jejange. Passenderweise ließ ich ein wenig Sturzregen auf Hamburg herniederprasseln, damit auch alle Beteiligten in die richtige Stimmung versetzt wären, wenn sie meines Falles ansichtig würden. Meine Sachbearbeiterin, eine freundliche jüngere Dame (in meinem Alter sind bald alle Damen jüngere Damen), tat dann auch sehr gefaßt. Ihr Stirnrunzeln aber grub sich zusehends tiefer in ihre ansehnliche Gesichtshaut. Erst dachte sie, bei meinen Beitragszahlungen sei die Kommastelle nach vorne gerutscht, dann aber merkte sie, daß für wohlwollende Späße nicht der richtige Anlaß war.

Ich gehöre ja zu den sogenannten Geburtenstarken Jahrgängen™. Mit dieser angeblich rein rational-demographischen Umschreibung ist gemeint, daß wir alle im Arsch sind. Und im Weg. So grob mal für die letzten 35 Jahre gesprochen. Die Geburtenstarken lösten die Halbstarken der 50er Jahre als gesellschaftliches Phänomen ab und haben ein eher schlichtes Distinktionsmerkmal:
Wir waren immer zuviele.

Ob im Kindergarten oder in der Grundschule, es balgten sich immer zuviele Bälger (oder Blagen, wie das bei uns hieß) um die wenigen Plätze. Ich weiß, heute heißt das Kita und ist alles ganz schlimm, aber sorry, DAMALS™ war schlimmer. Neulich las ich es noch einmal in der Schulzeitung meines Gymnasiums: Es gab damals fünf fünfte Klassen - mit jeweils 40 Schülern. Nur mal so zum Vergleich. Als Knirps war ich bei der Kinderärztin. Tja, meinte die gutmütige Matrone vertraulich zu Mutter Kid. Der wird es später schwer haben. In dieser Generation gibt es einen großen Männerüberschuß.

Früher half dagegen Krieg, aber der wurde gerade abgeschafft. Vollgepumpt mit Napalmbildern und ewigen Wohlstandsversprechen schlug ich mich ein wenig verträumt durch überfüllte Klassen, mit selbstherrlichen 68er- und faschistoiden Altfaschistenlehrern, nymphomanen Deutschlehrerinnen und doppeltrechtsgewendeten DDR-Lehrern (die anscheinend alle an unserer Schule landeten, was in mir später den Wunsch weckte, die DDR mal wirklich kennenzulernen. So mit Ost-West-Beziehung und so.) Trotz Männerüberschuß knutschte ich irgendwann mit einer 14-jährigen deutlich übersexualisierten Blondine (Hallo Gugel, war alles legal!) und durfte auch einer anderen blonden unter den Pullover fassen. (Später stellte sich heraus, daß ich eigentlich auf schwarz- oder rothaarige geprägt bin, aber das ist jetzt sowieso nicht das Thema.)

Dann gab es kurz mal Rebellion für alle, ich beschloß, von nun an immer Schwarz zu tragen, so lange nicht der letzte Indianer zu seinem Recht gekommen ist, dann kam dieser Dings und mit ihm die Generation Jetta. Im Gefolge - und nun zurück zum Thema - dieser fröhliche Kurzgewachsene, der bei jeder Gelegenheit krähte: "Die Rente ist sicher!"

Klaropan, dachten wir. DEINE Rente ist sicher, sonst aber mal gar nix. Denn wir sind viele, und die werden nicht alle satt. Zum Abitur gab uns unser Direktor in unverblümter Weitsicht mit auf den Weg: "Euch braucht keiner, ihr seid zu viele." Ja, liebe Montagsdemonstranten. So war das. Da wurde nicht groß gekuschelt. Uns Bombenlegern war das aber egal, weil wir nach der Schule nicht nur Häuser besetzten und ganz schön im Recht waren, sondern auch der festen, antrainierten Überzeugung, daß bald eh alles, na was, im Arsch ist. "Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei." (DAF/Fehlfarben, "Kebap-Träume".) Und wir dazu. Wegen Atom natürlich. Gorleben, Zaunanlagen gucken, DDR-Grenzschutzboote (schon wieder die!), Bonn, Hofgarten, diese Sachen. Kennt ihr ja alles. Live fast, die young, und bald wäre ich echt ein wenig hops gegangen, das ging aber nur bis zur Intensivstation.

Das wiederum war nun von Vorteil. Denn wie mir meine freundliche Sachbearbeiterin gestern erklärte, könnten Krankheitszeiten sich noch strafmildernd auf meine LebensRentenerwartung auswirken. Also dreifuffzig mehr. Mark oder Lira oder was wir dann haben werden. Ansonsten schüttelte sie immer wieder den Kopf, während wir uns durch Tage und Jahre meiner kleinen Geschichte bewegten. Wo waren Sie denn 1990? Wie jetzt? Na, vor der Wiedervereinigung? (Die schon wieder!) Nü, ich bin gelernter Besserwessi.
Ach so, meinte sie, und Studienzeiten zählen ja auch nicht mehr. Und davon haben Sie leider viele. Macht nichts, sagte ich. Dafür verdienen wir Akademiker ja alle ein irres Geld. Und dann lachten wir beide ein wenig dreckig. Und dann wurde sie wieder ein wenig traurig, als sie auf meine Zahlen blickte. Ja, meinte sie. Nach der Wende wurde ja auch viel in den Osten transferriert. Ist ja klar, daß der Topf mal leer sein würde. Versicherungsfremde Leistungen und so. Na klar, meinte ich. Stasi-Jahre sind doch sicher Ausfallzeiten. So ein alter Spion, der braucht doch auch Rente. Ham die Nazis hier ja auch. Da werf ich meine Studienzeiten gerne in den Topf. Wieder schüttelte sie betrübt den Kopf.

Die Zeiten in der Legion zählen natürlich ebenfalls nicht. Die ganzen Liegestütze über aufgestellten Klappmessern - umsonst. Ja, wenn ich als Altnazi nach Argentinien gegangen wäre! Da gebe es ein Abkommen, meinte sie. Oder als Steuerhinterzieher nach Kanada, ja dann! Wieder senkte sie den Kopf und starrte ungläubig auf meine Zahlen. Deshalb besitze ich ja auch nur Bücher, erzählte ich freimütig. Denn Bücher sind nicht pfändbar. Noch. Wer weiß, was denen noch einfällt. Bücher sind ja brennbar. Gutes Heizmaterial, wenn man so will. Insofern ein Vermögen, ein geldwerter Vorteil oder wie das in der Sprache der BWLer heißt. Die werden vielleicht noch eingezogen. Sie zog fröstelnd die Schultern hoch.

Wissen Sie, meinte ich, auf meine tröstende Art. Sie sind noch jung. Sie können sich noch absichern. Sie müssen auch nicht so Lehrerparteien wählen, die im Grünen wohnen und von ihrer pofig abgesicherten Position auf andere schließen. Für Sie ist doch Altersarmut kein Thema!
Dankbar und ein wenig beruhigt schaute sie mich an.

Sehen Sie, fuhr ich fort. Ich stelle mir das ja so vor. Wir - die ganzen vielen, die zuvielen - werden später nach Mecklenburg verkarrt mit dem Mehdorn seine Transporter und dann geht es in so ein altes Stasi-Heim. Da stehen dann links so zwanzig angerostete Eisenbetten und rechts so zwanzig angerostete Eisenbetten (alte NVA-Bestände). Da liegen dann vierzig hustende alte Männer mit Dauerkatheter und dann kommt Lagerschwester Gerda mit der Suppenkelle und hat für jeden noch einen Blechnapf dünner Suppe. 20.30 Uhr Licht aus und fertig. Traurig und ein wenig entsetzt blickte sie mich an, und ich sah ihre Augen feucht werden.

Nun kann ich ja keine Frauen weinen sehen, ohne nicht gleich mitzuheulen, weil ich als Matrose nahe am Wasser gebaut habe und gleich immer so ergriffen bin von allem. Und so weinten wir ein wenig, aber still. Dann riß sie sich als erste zusammen, weil sie solche Geschichten ja nun täglich erlebt. Sie fülle das jetzt mal aus, sagte sie etwas gefaßter. Und dann geht das nach Cottbus. (Schon wieder die!) Gehen Sie eigentlich auf die Montagsdemo?

Noch nicht, gute Frau. Ich habe einen Tip von Herrn Semmel. Ich trage auch immer eine Kapsel Salatdressing von McDonalds unter der Zunge. Wenn es soweit ist, mache ich es wie Tommi Stumpf.

Mich kriegt ihr nicht.