Dienstag, 19. Dezember 2006
Mein Interesse für Themen-Hotels habe ich hier bereits kundgetan. Die Galerie Photography Does Not Bend stellt hübsche Beispiele japanischer Liebeslauben zur Ansicht, die meinen Reiseplänen neuen Schwung verleihen: Lovehotels.
Dazu weiträumig passend, das Themenheft Prono der Texte zur Kunst.
Darin, mehr beschreibend als - entschuldigen Sie das Wortspiel - durchdringend, mit leichtem Hang zum Schwafeligen und Namenplazieren, dennoch aber ein interessanter Abriß mit kunstgeschichtlicher Brille auf Indiepron und Internet, (sexuelle) Subkultur, Jugendkultur, Kunst- und Musikszene und Ästhetik: Florian Cramer rührt einmal quer durchs Off in Sodom Blogging.
(Texte zur Kunst, Nr. 64. Inhaltsverzeichnis)
Freitag, 1. Dezember 2006
Derzeit ist in der Hamburger Kunsthalle die Sammlung des Schweizers Uli Sigg (steht der eigentlich mit dem Flaschenhersteller in Verbindung?) zu sehen: Chinesische Kunst der Gegenwart, verteilt über alle drei (bzw. vier) Etagen des Kubus der Moderne. Ich gebe zu, ich war zuerst skeptisch, ob mich sattgesehene Propagandakunst und verkopfte Dissidentenkritik vom Hocker hauen könnte. Zudem blockieren derzeit Horden von Museumstouristen und Rentnerbussen, die wegen Caspar David Friedrich im Klassikflügel angereist kommen, die Zugangswege. Aber neulich schlüpfte ich dann schnell "unter Tage" hinein und muß sagen, ich habe keine Minute bereut.
Es geht gleich gut los mit dem oben gezeigten Schreibtisch von Shin Irgendwas[1] (die ganzen Xangs und Wangs konnte ich mir unmöglich merken, meine chinesischen Leser mögen mir Banausen verzeihen, aber das ist alles Müller und Schmidt für mich). Klinisch, brutal und unglaublich schön. So stelle ich mir meinen Arbeitsplatz vor, es dürfte noch ein wenig Rost dran sein. Gemeinsam mit der überaus interessierten Saalwächterin untersuchte ich Details des Werkes, wurde auf Schrauben und Dornen hingewiesen, die meinem Blick zuvor verborgen geblieben waren. Von der Flachbildschirmguillotine über den Eiserne-Jungfrau-Stuhl (oder doch Akupunktur?) bis zu den Fingerschrauben in der Tastatur - ein durchdachtes Stück moderner Arbeitsverhältnisse.
In diesem Stil geht es weiter: Porträts, die an Otto Dix erinnern, süffisante Kommentare zum Mao-Kult - es wundert nicht, daß die meisten Künstler im Exil leben. Überrascht war ich über viele scheinbar weniger politische Arbeiten, solche, die körperliche Transgressionen und Sexualität in den Vordergrund stellten. Aus westlich zentriertem Blickwinkel vermutete man wohl, daß da welche ihre "Hausaufgaben" gemacht haben - die zahlreichen "Kopien" und Parodien von und auf westliche Kunstklassiker sprechen da auch eine beredte Sprache. Authentischer wirken für den westlichen Betrachter sowieso die bedrückenden Auseinandersetzungen mit den Mythen der Antike und der chinesischen Alltagskultur. Individuum versus Masse, die Folgen der sozialen Gleichschaltung und der Ein-Kind-Politik schließen auf eine gewisse spiegelbildliche Art wieder an die Werke zu Beginn der Ausstellung an: optimistisch strahlende Propagandagemälde, Helden der Arbeit und des Volkes, die mit ihrem sozialen Idyll und der naiven Gestaltung für den heutigen Betrachter voller Ironie stecken - wären sie nicht so brutal ernst gemeint.
Ganz unten im Kellergeschoß bitte eine tolle Videoinstallation nicht verpassen. Dort wird - in einer sehr nüchterner Reprise von George Franjus ungemein poetischem Film Le Sang des Bêtes ("Das Blut der Tiere", 1949) - die Produktion eines gängigen billigen Lederetuis gezeigt. Vom Schlachten der Kühe bis zur industriellen Weiterverarbeitung des Leders. Bitte Platz und Anteil nehmen.
(Mahjong noch bis zum 18. Februar 2007 in der Hamburger Kunsthalle)
Donnerstag, 23. November 2006
"Oh, you can't help that," said the Cat:
"We're all mad here. I'm mad. You're mad."
(Lewis Carroll. Alice in Wonderland. 1865.)
Ach, was wäre dies eine Welt ohne Spielzeuge! Erwachsen geworden und nicht bereit, jeden Tag eine Lektion zu lernen. Nichts zu Experimentieren, Demontieren, Auseinanderzuschrauben, Anzustaunen, Kaputtzumachen, Neuzuerfinden. Dinge zusammenzudengeln, die noch nie ein Mensch gesehen hat. Kreaturen zu gestalten, deren Wesen reine Idee ist und deren Fähigkeit nur darin liegt, die Eltern tüchtig zu erschrecken.
Wie wunderbar also, daß es Künstler wie Viktor Koen gibt. Der macht schräge Sachen, verrückt, bunt aber düster, brutal putzig, immer auch kitschig, sicher, aber im herzerwärmend blutgefrierenden Sinn. Macht bestimmt riesigen morbiden Spaß und deshalb sollte man sich das ruhig ansehen. Ich kann leider am Freitag nicht - unter anderem, weil ich mit meinem zickigen Rechner spielen ernste Dinge bereden muß. Ihn auseinanderschrauben, neuzusammensetzen, anstaunen, kaputtmachen neuerfinden und ihm Fähigkeiten beibringen, die ich eigentlich voraussetze.
Aber sobald alles (oder wenigstens mein CD-Brenner wieder will), werde ich mir wenigstens ein anderes Wunderland anschauen. Das andere wird dann alles nachgeholt.
("Dark Peculiar Toys", 24.11.2006 bis 13.1.2007 in der Strychnin-Galerie. Berlin, Boxhagener Str. 36)
Dienstag, 14. November 2006
Ich hab's ja schon immer gesagt (habe ich?): Helsinki ist das neue Tokio! Und es ist gar nicht so weit. Gleich mal Flugtickets besorgen, Haare färben - und schwupps bin ich dabei. Höllisch.
Hel Looks - Ausstellung bis zum 26. November
Dienstag, 10. Oktober 2006
Warum die Lesung in Wien so schön war, wollte ich noch sagen.
>>> Augentrost (nicht bürotauglich) auf Youtube
(Watch for the Tassles Tassels!)
(Ich saß aber den ganzen Abend brav in der Ecke und habe ein Buch über String-Theorie gelesen.)
Dazu passend, noch bis zum 15. Oktober in der Kunsthalle Wien: Werkschau von Dorothy Iannone und Lee Lozano - Sexualität, Kunst und Leben, die Initialen der großen Klassenlotterie. Iannone, die Lebensgefährtin von Dieter Roth, dessen Werk wiederum mir über die Jahre immer mehr ans Herz gewachsen ist, beschreibt auf manisch exhibitionistische Weise die intime "Saga" einer Liebe. Lozano, weitaus unbekannter, aber spontan interessanter wirkend, unternimmt in den 60er Jahren einen ähnlichen Selbsterfahrungstrip. Eine Beatnik-Odyssee zwischen Peyote, Feminismus, Gendertheorie und Protest. (Wobei sie merkwürdige Strategien ergriff: Um gegen die Unterdrückung der Frau zu polemisieren, weigerte sie sich, mit Frauen zu reden.) Zitat: "Suche die Extreme, denn dort spielt sich alles ab."
Es muß auch Menschen geben, die irgendwas ganz konsequent machen.
(Dorothy Iannone, Lee Lozano: Seek the Extremes....
Bis zum 15.10.2006 in der Wiener Kunsthalle)
Sonntag, 24. September 2006
Im Rahmen des Reeperbahn-Festivals fand am Wochenende erstmals in Europa das Flatstock statt. Im Vorfeld hätte ich nicht gedacht, daß die Veranstaltung so groß ist: Über 30 Künstler, darunter Szenegrößen wie Tara McPherson und Jay Ryan, präsentierten - unterstützt vom SMart-Mailorder und dem American Poster Institute - ihre Drucke, Aufkleber, Magazine und Originale, und wer sein Portemonnaie nicht ganz fest in die Hose geschraubt hatte, ist an diesen drei Tagen sicher arm geworden. Für Preise ab 10 Euro gab es limitierte Sammlerstücke zu kaufen. Gemäß dem Programm "Kunst statt Rentenfonds" konnte ich mich selbst nicht zurückhalten und erwarb dieses von lässiger Ikonographie geprägte Werk von Tara McPherson, die wie viele Künstler samt ihrer Tattoos persönlich anwesend war. Die Auswahl fiel schwer, aber dann entschied ich mich für den Herrn im Ringelshirt. Gute Wahl, denn wie ich erfuhr, handelt es sich um McPhersons allererste "echte" Posterarbeit überhaupt. Fast übersehen habe ich zuerst die Editionsnummer:
37 von 300. Ganz offensichtlich also meins.
Wer noch mal einen Blick auf Tara McPhersons Arbeiten werfen möchte:
Ab dem 4. November ist dazu in Hamburg Gelegenheit. Dann eröffnet bei Feinkunst Krüger ihre Ausstellung "Lonely Heart".
Montag, 11. September 2006
Das langsam hinsinkt am Hügel.
(Georg Trakl, "Siebengesang des Todes". 1914.)
Pst! Leise mal näher kommen! Wir wollen die Tiere nicht erschrecken. Die sind zwar nicht echt und sehen ganz schön tot aus, aber man weiß ja nie...
Letzte Woche fand mein ganz persönlicher Höhepunkt des Kunstjahres 2006 statt, da eröffnete nämlich in der Berliner Strychnin- Galerie Elizabeth McGrath ihre erste große Ausstellung in Europa. Im Februar stellte ich hier ihr exquisites Buch vor, das einen guten Überblick über die vielfältigen Dioramen, Gothic-Puppen und Fake-Taxidermy-Arbeiten gibt. Aber so vergnüglich dieses Werkübersicht auch ist - die detailverliebten Stücke muß man selber sehen, am besten von ganz nah dran.
Ergänzt wird die großartige, herzschlagbeschleunigende Ausstellung zwischen einsam-zweisamen Fledermäusen und tätowierten Hirschköpfen durch die viktorianisch-morbiden Werke ihrer gleichfalls sehr talentierten Kollegin Adele Mildred, die hierzulande erst wenigen bekannt sein dürfte. Im Vorfeld hatte ich Gelegenheit, ein wenig mit beiden Künstlerinnen über ihre Arbeit plaudern und einen kleinen Einblick in ihre Giftküchen nehmen zu können. (Zu Adele später noch mehr.)
Liz McGrath, schon lange ein Star der Low-brow-Szene, erregt seit Jahren mit ihren skurril-bizarren Skulpturen Aufsehen, die an die kuriosen Seefahrermitbringsel in Harrys Hafenbasar erinnern. Sie lebt in Los Angeles, ist verheiratet mit dem Autor Morgan Slade und spielt mit ihm in der Band Miss Derringer.
Ihre delikaten Arbeiten entstehen alle in ihrem Atelier in der berühmt-berüchtigten Skid Row in L.A. "Die Miete ist dort sehr niedrig", erzählt Liz, "obwohl das Viertel mittlerweile aufgewertet wird. Die Straßenschilder wurden schon durch "Gallery Row" ersetzt." Bald, so ist zu befürchten, werden wohl schicke Restaurants folgen und Lofts für Börsenmakler, dann heißt es sehen, ob die Künstler dort noch wohnen können werden.
McGrath kennt die Szene in L.A. gut. Sie liebäugelte mit Mode-Design, schrieb für das Punk Fanzine Censor This, zeichnete Flyer, programmierte Webseiten für die Prono- ("Sie haben die innovativsten Technologien.") und arbeitete in der Art-Direction für Film und Video. Seit sechs Jahren widmet sie sich ernsthaft ihrer Kunst. "Es ist leicht in L.A.", meint sie. Neben der erschwinglichen Miete hilft der Zusammenhalt in der Künstlerszene dort. Man leiht sich Materialen, unterstützt die Aktivitäten der anderen und lebt überhaupt sehr vernetzt: "Jeder kennt jeden, man sieht sich, trifft sich, geht zu den Ausstellungen der anderen." Gibt es den keine einsamen Vögel, die im stillen Kämmerlein vor sich hinbasteln? Liz lacht. "Ich bin sicher, die gibt es, aber die kennt eben keiner."
Die Underground-Szene ist in den USA sehr lebendig. Vermutete ich, daß sich nur die bekannten Zentren wie L.A., San Francisco, Seattle und New York für solche Underground-Kunst interessieren, werde ich eines besseren belehrt. "Mittlerweile gibt es in jedem Staat ein, zwei Orte, die regelmäßig Ausstellungen machen. Meist irgendwelche Group-Shows, bei denen man nicht weiß, ob man nicht doch in irgendeiner Garage landet. Aber es funktioniert - zumal die Szene klein genug ist, das jeder jeden kennt." Liz lacht verschmitzt. "Das hat auch einen Vorteil: Ich wurde nur ein oder zweimal beklaut. Wer so was macht - dessen Karriere in der Kunstszene ist vorbei."
McGraths Arbeiten sind sehr beeinflußt durch ihre religiöse Erziehung, die Mutter, eine Asiatin, wollte angeblich Nonne werden, ihr Vater, eine Amerikaner irischer Abstammung, ein Priester. Die Tochter, wenig anpassungsbereit, landete im katholischen Erziehungsheim, überlebte und stürzte sich mit Mut zum Brimborium auf die Kunst. Arbeitet sie viel mit gefundenen Sachen? "Nö", meint sie. "Meist habe ich ein Konzept, ich gehe viel in Kirchen oder in den Zoo und lasse mich von alten Filmen oder Modemagazinen inspirieren." Der Titel steht dabei meist als erstes - oft recherchiert sie dafür im Internet. Das erklärt wohl die zahlreichen deutschen Namen ihrer Werke wie "Rotkäppchen" oder "Graf Zweisamkeit"? "Ich finde, das sieht cool aus. Ich überlege, was es bedeuten könnte, dann übersetze ich es mit Babelfish und schaue, ob es paßt." Auf den Titel "Graf Zweisamkeit" machte sie ein Freund aus Hamburg aufmerksam.
Ihre Materialen, neben Holz, Draht und speziellem Wachs, das eigentlich für Filmproduktionen verwendet wird, meist Stoffe, Pelze, Federn und Kram, sucht sie in Trödelläden zusammen. "Ich habe manchmal ein schlechtes Gewissen, ich gebe soviel Geld für ausgedehnte Einkaufstouren aus, auf denen ich alles mögliche zusammenkaufe." (Ich als Katholik kenne das, wenn man reuig seine umfänglichen Requisitenkäufe auf dem Flohmarkt vor sich selber beichten muß.)
Die Arbeiten werden nicht nur als Kunstobjekte von Sammlern erworben, sondern - Hollywood ist nah - auch für Filme und Videos benutzt. "Alle meine Nachbarn machen das, es gibt Geld, wenn die Apartements als Filmkulisse benutzt werden. Meine Werke sind deshalb auch ab und an zu sehen." Gibt es denn weitere Pläne, vielleicht etwas mit Film zu machen? Leider sind die Arbeiten sehr zerbrechlich. Aber Liz steht im Kontakt mit jemanden, der sich gut mit Stop-Motion-Techniken auskennt. Bis dahin sind das Thema und ihre Skulpturen noch viel zu empfindlich.
Und "Miss Derringer", die Band? "Das bleibt ein Nebenprojekt. Wir haben schließlich alle unsere Jobs." Immerhin, Blondie-Drummer Clem Burke ist mit an Bord, das aktuelle Album "Lullabies" ist im Sommer veröffentlicht worden und wird auch in England, Italien und Japan vertrieben.
Deutsche Labels, bitte übernehmen Sie!
(Honeycreepers in the Scar Face Moon: Elizabeth McGrath (mit Adele Mildred und Scott Saw). Noch bis Oktober in der Strychnin-Galerie, Boxhagener Straße.)
>>> Miss Derringer auf MySpace.
Freitag, 14. Juli 2006
Wirkung auf uns. Das Interesse, das
wir an ihnen nehmen, reicht nicht über
die Zeit eines kurzen Betrachtens hinaus:
Sie hallen nicht nach, verwirren nicht...
(Roland Barthes. Mythen des Alltags. 1957.)
Für freilaufende Tagelöhner wie mich gibt es in Hamburg das Kaufhaus Stilbruch, wo man sich, gut vorsortiert, aus dem Müll anderer Leute ein neues Heim für schmale Geldbeutel schaffen kann. Eine schöne Idee, zumal es in dieser Stadt keine festen Sperrmülltermine mehr gibt, an denen man sich straßenzugweise selbst auf Schatzsuche machen könnte. Ob Sofa, Tasse oder Gehhilfe, hier findet man im stetig wechselnden Ausstellungsangebot entweder was für sich oder zumindestens einen Eindruck über das, was bei den lieben Mitmenschen gerade über Bord geht.
Le Sofa: Immer schon Platz für gut abgehangenen Kunstgenuß
Bei manchen Dingen kann man schon ins Grübeln kommen. Hasenkäfige, Sanitätshausstühle und alte Hammondorgeln tragen die Aura des Versprechens eines geruhsamen Lebensabendes. Bembel, Sammelteller und formschönes Besteck mit Holzgriffen kosten hier nicht die Welt und zieren jeden Tisch (den es gleich nebenan gibt). Fahrräder zur Ertüchtigung, Balkonmöbel zum Entspannen - für jeden Bedarf offenbart sich hier ein Pièce de résistance, wie sonst nur dem Katalogbesteller. Ich schlendere umher, streiche hier gedankenvoll über kunstlederne Bezüge, knuffe dort einen Sitzsack und wundere mich still, aber intensiv, über Sammelsurien, die man andernfalls nur auf dem Flohmarkt Hellbrookstraße finden kann.
In den geräumigen Hallen findet sich viel, aber die wahren Trouvaillen liegen oben verborgen. Im ersten Stock nämlich befindet sich die Kulturabteilung des kleinen Kaufhauses. Bücher, Schallplatten, Computer- programme - und die überaus beeindruckende Galerie de Objét trouvée du Müll.
Das kleine Hansestadtmuseum bietet einen Querschnitt durch alle Epochen und Geschmäcker. Poster von Miró, üblicherweise nur noch mit leichtem Grusel goutierbar, entlocken ein sanftes Hallo, der Fischer mit der Piepe ist gleich mehrfach vertreten: als Druck, als Stickbild und in Öl.
Beinahe unbezahlbar und dennoch für Preise (nach Leinwandgröße gestaffelt) angeboten, die einem Mittagstisch ins Eimsbüttel entsprechen, sind die Originale. Gekonnt ins Format gesetzte Porträts, gewagt kubistische Akte und, herzerweichend, der kleine Fuchs aus dem kleinen Prinzen.
"Nimm mich mit!" schreien sie, die herzblutigen Bilder, expressionistische Stadtansichten und von lockerer Hand gemalten Haustierporträts. Wer setzte sie aus, diese Exponate aus den Plakafarben-Tuilerien? Wer konnte so grausam sein? Alles für die Kunst, denn Kunst ist alles! schrien wir einst, kaum war die Schule vorbei. Nun lehnen sie hier, die Gesellenwerke einer Zeit, die Bob Ross noch nicht kannte. Penible Pferdeköpfe, ungelenk gegenständlich, heiter Abstraktes und derbe Art brut, außer Form und Rand und Band, ein Zeichen eckt an, schrappt an den Wänden unserer Sehgewohnheiten, desorganisiert, sagt, hey, ich bin gekommen, um zu bleiben, und ruft wie ganz nebenbei: Hilfe, zu Hilfe - ist vielleicht zufällig ein Kurator ein Bord?
Mittwoch, 12. Juli 2006
Es gibt ja Dinge im Leben, die überfallen einen regelrecht wie sonst nur unverhoffte Liebesbriefe oder unbegründet verdrängte Steuerbescheide. So kam es, warum sollte nicht auch ich mal Glück haben, zu der Einladung zum Spiel um Platz drei - übrigens zu einem Zeitpunkt, als längst nicht klar war, welche Mannschaften dort aufeinandertreffen würden. "Deutschland - Brasilien" spekulierte ich, und behielt, zumindestens was die Landessprache des Gegners betrifft, etwas, was ich am liebsten behalte: nämlich recht.
So finde ich mich also am Samstag in Stuttgart wieder und schnuppere einen Nachmittag lang sonnig-begeisterte Stimmung der Schwaben. Nach dem Stimmungseinbruch nach dem Spiel gegen die Schauspieler, heißt es nun wieder: Party unter Freunden. Die Bäckereifachverkäuferin, bei er ich einen Mohnstrudel kaufe, haut mich fast um: Beim üblichen "Bitte" - "Danke" verbeugt sie sich sogar leicht! Ganz alte Schule, sehr vorbildlich! Und war die Stimmung im Schloßgarten schon ausgelassen, so gibt es spätestens in der S-Bahn kein Entkommen vor den letzten Proben für die Schlachtgesänge. Das Motto des Abends lautet unwidersprochen: "Schtuddgard ist viel schöner als Berlin".
So ein WM-Spiel ist wie das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig, nur weiß statt schwarz. Während jedes Jahr zu Pfingsten schwarzbekittelte Menschen das Bild rund ums Agra-Messegelände und in den Nahverkehrsmitteln bestimmen, sind es nun Massen in weißen Trikots, die das Stuttgarter Stadtbild prägen. Ich widerstehe vielfältigen Angeboten, mein Ticket zu versilbern und finde mich schließlich mit toller Sicht und guter Laune im Gottlieb-Daimler-Stadion wieder. Putzig: Ist das das Trainingsgelände für Jugendmannschaften? Alles sieht so klein, so überschaubar aus, gar nicht wie im Westfalenstadion, wo man von oben in einen tiefen, tiefen Trichter schaut. Unser zweiter erster Torwart betritt als erster den Platz zum Aufwärmen. Donnernder Applaus und "Oliver Kahn!"-Rufe. Nach und nach die anderen Jungs, endlich auch wieder Frings. Dann die Hymnen, und endlich geht es los!
Man denkt ja, man verbringt einen geruhsamen Abend im Stadion, während sich unten 22 Männer abrackern. Aber weit gefehlt. Kaum hat man Platz genommen, läuft die Welle durch die Ränge, und so heißt es "Oooooooooooooohhhh!" und alle Arme fliegen hoch! Das hält ganz schön in Bewegung. Zudem gibt es dieses doch etwas zweifelhafte Fanlied. Ich meine nicht,"Three Lions", das nun "Schwarz und weiß" heißt. Auch nicht "Auf geht's, Deutschland schieß ein Tor!" oder "'54, '74, '90 - 2010", dem Song zur Schröder-Agenda. Das sind alles Lieder mit Schmackes, Witz und Emotion.
Zweifelhaft aber ist dieses "Steht auf, wenn ihr Deutsche seid!", dessen Sinn sich meiner Begleitung und mir nicht erschließt. Widerborstig bleiben wir demonstrativ sitzen, während sich der Fanblock alle fünf Minuten wie ein Mann erhebt. Mist! Jetzt sehen wir nichts mehr vom Spiel.
Nach einer kurzen Beratung im ZK stelle ich die Frage ins Plenum. Aufmerksam lauscht der Block meinen wortreich vorgetragenen Ausführungen, dann kommt es zur Abstimmung. Ergebnis: 998 für Aufstehen, zwei Gegenstimmen. Wir beschließen, als echte Demokraten das Votum zu akzeptieren, dabei aber in den inneren Widerstand zu gehen. Sehr gute Entscheidung, wie sich sogleich zeigt. Wir sehen jetzt viel mehr vom Spiel.
Die Portugiesen sind nette Menschen. Sie wollen uns die Party nicht verderben und lassen unsere quicken Jungs gewähren. Erst als endlich Figo eingewechselt wird, kommt Gefahr ins portugiesische Spiel. Erstaunlich, wie man im Stadion spürt, welche Ausstrahlung dieser Mann hat, wie man weitaus besser als im Fernsehen sehen kann, wie superb seine Ballannahme und wie dynamisch sein Antritt ist. Unglaubliche Bewegungsabläufe. Ich beschließe spontan, mir eine Scheibe abzuschneiden und mir nicht nur einen Bartschatten, sondern auch meine Gegner fortan so elegant stehen zu lassen.
Nach dem Spiel geht in Stuttgart gar nichts mehr. Das Fahnenmeer erweckt den Eindruck, die Wiedervereinigung sei da. Aber es fiel wohl nur endgültig die Mauer in den Herzen. S-Bahnen bleiben liegen, Personen auf dem Gleis, überhaupt - überall Personen. Vor dem Spielerhotel am Hauptbahnhof warten Tausende, "Jüüüüüüürgen Klinsmann!" rufend. Mein Übernachtungsbett finde ich spät, aber glücklich. Ein toller Abend geht zu Ende - ausnahmsweise mit guter Laune.
Montag, 26. Juni 2006
Am Samstag dachte ich, da muß man doch mal durch, die Strecke ablaufen, die schwarzrotgüld'ne. Alle möglichen Fans waren dort, nackte Hintern für Fans von ebensolchen, Fans vom Hermetischen Café (freudig winkend, merci!), Fans verschiedener Nationalteams und Fans des anlaßlosen Jubeltrubels. Die Stimmung, und das erstaunt dann mittlerweile doch, ist erstaunlich entspannt. Da hängt auch nicht mehr Krawall in der Luft als auf jedem größeren Volksfest. Natürlich viel "Fünaaale"-Gerufe, im Stadion auch viel rhythmisches "Sieg!"-Skandiere. Aber bitte, solange die Wimpel am 10. Juli brav wieder eingerollt werden, was soll's? Man muß ja nicht überall was wuchern sehen, so wie früher in der 9. Klasse, nach der Ansicht der Aufklärungsfilme des FWU, nach denen man verstört den eigenen Handrücken beobachtete, im sicheren Glauben, dort das Ausbreiten der Syphilis beobachten zu können. Mittelaltermärkte, um nur mal ein Beispiel zu nennen, finde ich politisch viel bedenklicher. Vom Ästhetischen gar nicht erst zu reden.