Mittwoch, 3. November 2010
Wie die schwebenden Düfte eines Gewürzbasars verteilen sich gerade die verknäulten Fäden der angesammelten Schätze, also die Fülle des Materials - Eindrücke, Erinnerungen, Mosaiksteine: Diese Dinge erwarten eine Ordnung. Ich habe festgestellt, daß ich vielleicht einen Tag zu lang oder ein, zwei Wochen zu kurz da war. Für die wichtigsten touristischen Attraktionen reichen drei Tage, aber erst dann ist die Seele bekanntlich nachgereist, der Blick für die Details, das Gespür für Rhythmus, Klang und Geruch stellt sich sein, man erschließt sich die schummrigen Straßen jenseits der Lichtergirlanden, hat sich eingetunkt in die neuen Verhältnisse, das kreuz und quer unter Kuppeln. Aber dann ist so ein Kurztrip ja auch schon wieder vorbei.
Darin sind sich natürlich alle Reisen ähnlich, man schneidet sich sein Tortenstück heraus und malt den fehlenden Rest zum runden Ganzen später erst dazu.
Überbrücken also.
Montag, 1. November 2010
Wenn so ein Sultan den neuesten Band von Tim & Struppi lesen oder ein wenig in der Sonne entspannen wollte, konnte er sich längs oder quer gemütlich auf einem Sofa Diwan fläzen, der größer ist als meine ganze Wohnung. Baden, Massagen, an den richtigen Stellen kneten, viel Ruhen - das hatten die schon drauf, wie man so sagt, und in gewisser Weise heute noch. Man stelle sich das vor: 15 Millionen Einwohner, und man wird nicht einmal angerempelt. Die Menschen bewegen sich mit einem gewissen Tempo, machen sich an den engen Passagen dünne, und wird man doch einmal gestreift, folgt sogleich eine Entschuldigung. Man muß nur einmal in einen Touristentrupp italienischer Rentnerinnen geraten, die sich verhutzelt, kompakt und mit gesenktem Kopf wie mürrische Stiere einem rund um die Hagia Sophia entgegenbohren, um daran erinnert zu werden, wie es normalerweise vor sich geht.
Die Einheimischen nicht, sie kommen langsamer, aber stetig voran. Auch die Autos und die Straßenbahnen, die vor jeder Kurve der oft engen und steilen Gassen hupen, Fußgänger, die die kaum exakt bezeichneten Gehwege nicht finden, warnen und auseinanderdrängen, geduldig aber warten, bis das junge amerikanische Mädchen sein Foto gemacht hat - sie haben ihre stoische Geschwindigkeit, springen herbei, um Fahrzeuge an Hindernissen vorbeizudirigieren, bewahren dabei eine schicksalsergebene Gelassenheit. Die Beharrlichkeit.
Samstag, 30. Oktober 2010
"In welcher Welt leben wir eigentlich?" fragte der Hamburger "Kultursenator" Stuth in einer wie von einem trotzigen Kind im Senat vorgetragenen Verteidigungsrede seiner radikalen Kürzungsbeschlüsse. Er verwies auf die angeblichen Verhältnisse in Großbritannien, Polen und sogar Bayern. Übersetzt heißt diese von den Grünen freundlich abgenickten Hamburger Kulturvernichtung wohl, in einer Welt der Spekulations- und Mißwirtschaftssubvention, nicht aber eine, die sich der Kultur verpflichtet fühlt. Es verblieb (ausgerechnet, möchte man meinen) einem Abgeordneten der Fraktion der Linken, dem Hamburger Pfeffersacksenat Nachhilfe in Sachen Kultur und (Hamburger!) Geschichte zu geben.
Meine Welt hingegen war diese Woche die der europäischen Kulturhauptstadt 2010, die, man mag eine wohlbedachte, wenn auch bittere Ironie dahinter vermuten, nicht einmal in der EU liegt. "Crossing the Bridge" heißt dort das Motto, ich selbst überschritt diese dann auch wieder einmal für mich selbst:
Pünktlich zu meinem Geburtstag jedenfalls (dort eine Stunde früher) setzte ein großer Regen ein, so daß ich dachte, das von Madame Modeste beschriebene Unwetter aus Lissabon hätte es in der Zeit quer über das Mittelmeer bis nach Istanbul geschafft. Es regnete und regnete, und die Einwohner machten dafür den Ausbruch des Eyjafjallajökull verantwortlich, dessen Aschewolke das Wetter irrwitzig verändert habe, und empfahlen einen weiteren Tee.
Die Türken blieben derart entspannt, daß sie das große Feuerwerk zu meinem Geburtstag um einen weiteren Tag ins Trockene verschoben und in quasi orientalischer Verklärung einer plumpen Lüge behaupteten, dies geschehe zu Ehren des Nationalfeiertags.
Meine Ausbeute aus Konstantinopel ist lange nicht so opulent wie bei Hollister Hovey, dafür aber echt - strictly made for tourists, kein Grund für mich also, "19. Jahrhundert" davorzudichten.
Wieder daheim dann halbgute Nachrichten: das Altonaer Museum bleibt nun doch (erstmal) erhalten, vorausgesetzt, alle assoziierten Museen amputieren sich einen Arm, das Finanzamt möchte die erwartete größere Summe von mir, meine Bank hingegen wünscht mir "alles Liebe, Gute und vor allem Gesundheit für das neue Lebensjahr" und rät, "genießen Sie Ihren Ehrentag". Balik ekmek, sage ich nur. Fisch & frisch vom Bosporus.
Freitag, 15. Oktober 2010
Ein Urlaub soll ja so vieles können: Anregen, Entspannen, Hirnwindungen neu verknüpfen, den Magen mit ungewohnten Speisen verderben. Ahrenshoop, eine Art Worpswede der Ostseeküste, hat nicht den Fehler umliegender Gemeinden gemacht und auch die letzte Bauernwiese mit Ferienhäusern (Stichwort: Anlage) zugebaut. Erst am Ausgang des langgezogenen Dörfchens blinken die Fassaden von Rehaklinik und Bustouristenhotels. Da geht man aber nicht hin, fährt auch besser nicht nachts mit dem Rad dort vorbei, weil einem echauffierte Rentner belehrungsversessen in den Weg springen könnten, entschlossen, mir mit hochrotem Kopf die Nutzungsbedingungen des von Fahrradfahrern und Fußgängern gemeinsam genutzten Bürgersteiges zu erläutern. Ich hielt ihm einfach meine Taschenlampe ins Gesicht und erklärte ruhig: "Sie irren, Monsieur", und war schon wieder weiter, denn die Luft, das muß man mal sagen, ist dort einfach entspannend. Es ist diese milde Mischung aus Kiefernwald, Hagebutte, feuchtem Dünensand und Sonnenöl, die für die meisten eine beruhigende Wirkung entfaltet. Außer für diesen Rentner jetzt.
Dabei steht ja überall, was erlaubt ist und was verboten, was gerne gesehen und was lieber nicht. Irgendwo unterhalb der Steilküste aber findet sich immer ein abgelegenes Fleckchen, das man sich selbst über die Tage gut zurechtliegt und wo vieles ganz gleich ist. Hose, keine Hose, Brille oder Six-Pack, selbst einen Turban könnte man tragen, niemand fände etwas dabei. Abends kann man hübsch am Hafen sitzen, Lichter gucken, ein Bier jonglieren, eine Blondine betrachten. Ein Seemann hat da keine Vorbehalte.
Im Grunde könnte man auch den lang & lieben Tag mit einem Stapel Zeitschriften im Gartenstuhl verbringen, unter einem Strohhut dösen, Rentnerfantasien hegen, wenn einem ein Ball an den Kopf geschossen wird von diesen langhaarigen Strandtypen mit ihren bunten Bändern am Handgelenk. Ich kann da immer ganz ruhig sein, ich habe den Herbst auf meiner Seite. Im Grunde bin ich Nachsaison.
Mittwoch, 13. Oktober 2010
Ojeojeoje! (Dabei heißt die Siegerantwort "Naja Naja", wie in Najaden.) Da hat man so etwas wie ein Lebenswerk geschaffen, und dann kommen geschätzte Kommentatoren daher und zitieren Musikschaffende, daß man denkt, man hätte hier jahrelang schallzersplitternd vor Betonwände gepredigt. Da hilft nur eins: Premium-Content!
Louis, der König der Steilküste an meinem Urlaubsort, zeigte fast jeden Abend stolz im Sonnenuntergang, daß in seinen Stammbaum eine Bergziege hineingemendelt ist. Eifrig und furchtverachtend wie ein junges Böcklein sprung und juchzelte er haarscharf vor und manchmal auch hinter dem messerscharfen Grasrand entlang, hinter dem sich metertief der steile Abgrund zum Strand hin öffnete. Ich glaube, er foppte damit absichtlich die Urlauber, denn immer wieder hatte er sich doch noch in die sandige Wand gekrallt im Versuch, ein paar Schwalben zu erwischen, tauchte dann lässig wieder auf, kopfschüttelnd betrachtet und manchmal erleichtert beschimpft von herzzerklopften Touristen, während er mit einem lässigen Schwenk seiner beiden tischtennisballgroßen Eier breitbeinig zurück ins Gestrüpp stolzierte.
Wie König Lear sitzt man dann oben auf dem Heidekliff, läßt sich nachdenklich Haar und wirre Gedanken zersausen und teilt sein Erbe auf in viele kleine Gischtfontänen.
>>> Geräusch des Tages: DM, Enjoy The Silence
Sonntag, 3. Oktober 2010
Dieses Wochenende war ja der Soul Weekender hier im Northern, dazu noch Filmfest, man weiß bei sowas meist gar nicht, was man zuerst tun soll, vielleicht bleibt man besser zu Hause als zwischen zwei Freßnäpfen zu verhungern. Mir jedenfalls sang gestern Lesley Gore ihr vielleicht wichtigstes Lied ins Ohr, während ich neben einer Lambretta stand und eine Limonade nuckelte.
50 Jahre oder so später sah Lesley Gore übrigens aus wie Barbara Schöneberger, was ein wenig witizg ist, wenn man dieses und jenes bedenkt.
Da nun aber der Sonntag eine gute Laune zeigte, fiel es mir leicht, den präsidialen Ansprachen im Radio zu entfliehen und das Rad Richtung Süden zu lenken. Hier haben sich die Mauern bereits in allen Schattierungen herbstlich gefärbt, wie die Blätter des druidenzertanzten Waldes. Bauzäune und aufgeschüttete Sandhaufen weisen allerdings darauf hin, wie im nächsten Jahr den Resten der Klapprigkeit im Hafen zu Leibe gerückt werden wird. Garten- und Bauaustellungen verlangen nach Präsentation, man wird die letzte Gerümpelecke noch fegen und bunte Girlanden an die Hafenkräne hängen. In den unbekümmerten Grünstreifen indes locken die Pilze; ringelbestrumpfte Hexen könnten hier zu wildem Flug ansetzen, wüßten sie zu Stil und Schande sich bereit. Es ist alles ausgelegt für die Zeit, wenn der große Kürbis kommt.
Montag, 20. September 2010
Die kleinen, verschlafenen Fischerdörfer liegen nur wenige Kilometer auseinander, mit dem Velo, das man eigentlich nur zum Brötchenholen nutzen wollte, ist man wie in einem einzigen kettenrasselnden Luftzug an netzeflickenden Matrosen und pfeiferauchenden Skippern vorbei im nach Fisch und Galetten riechenden Nachbarort. Ungelogen.
Steter Wind aus Nordnordoost (oder West, was soll's, im Urlaub spielt das keine Rolle) weht mir wie stets beim Fahrradfahren entgegen, egal ob ich hinfahre oder zurück, man strampelt sich so ab, aber gemächlicher als die Tage unter Tage. Also im Rest des Jahres. Karte, Kompaß und Botanisiertrommel Brotdose griffbereit verzurrt, muß man sich nur noch die signalfarbenversträkten Funktionswäscheradler schön denken, dann sieht es aus wie in dieser wunderbaren nostalgisch anmutenden Dokumentation (via London Cycle Chic).
Dinge mit Bedacht tun, heißt das. Einfach mal so.
Mittwoch, 15. September 2010
Die guten Ratschläge Tucholskys ("...verlange von der Gegend, in die du reist, alles: schöne Natur, den Komfort der Großstadt, kunstgeschichtliche Altertümer, billige Preise, Meer, Gebirge – also: vorn die Ostsee und hinten die Leipziger Straße") im Ohr, stieg ich täglich in meinem rotgestreiften Badeanzug in die Fluten, ordnete Wellen und spielende Kinder in adrett gescheitelte Reihen, warf wasserscheuen Hunden die Bälle zurück an den Strand und verzehrte jeden Tag ein gut ausgeklopftes, aber sandiges Käsebrot.
An trüberen Tagen entdeckte ich das Geländeradfahren für mich. Über Stock, Stein und Baumwurzeln ging es getreu dem Motto "Don't be gentle - it's a rental" mit dem Leihrad über schlammige Waldpfade an den Jagdrevieren ehemaliger Nazigrößen vorbei, flog ich mit wehenden Rockschößen über Bodenwellen und -dellen, klingelte teuflisch Fußgänger auseinander wie aufgescheuchte Weiderinder und blieb dabei immer schön im Takt mit dem eigenen keuchenden Atem, während die ringsherum naturgeschützten Tiere des Waldes sich ihren Teil gedacht haben mögen.
Die Kultur, auch das, schwitzte sich in diesen künstlerkolonisierten Breiten aus allen sandigen Poren. Den Rückweg zum Bahnhof über hörte der Busfahrer laut eine erbauliche Schlager-CD. "Hinter den Tränen wartet die Sonne", trällerte eine Frau Fischer, während der Bus seine Schleifen durch die Dörfer zog. Auch daß das Herz der Sängerin wie ein Bumerang sei, der immer zurückkehre, blieb eine nicht unverkündete Behauptung. "Publikum noch stundenlang/wartete auf Bumerang" ergänzte ich im Stillen, Ringelnatz zu Hilfe holend, just als wir an der "Erlebnisgastronomie Daddeldu" vorbeifuhren, wo für den Abend schon die Resopaltischchen bereitet wurden. So manches Herz wurde ja schon über Steilküsten verweht, von Schnüren gekappt wie ein verlorener Lenkdrache. Aber dafür fährt man ja in den Urlaub und geht in kalte Fluten tauchen. Alles ein Erlebnis. Brot & Regenschirm nicht vergessen.
Sonntag, 12. September 2010
Die endlosen Kornfelder von Kansas
Die Brandung vor Waikiki
Kykladenboote, die nur die Sehnsucht treibt
Nordish by Nature
Kamerafehler
Man kann heute überall auf der Welt Urlaub machen, Krisengebiete und das Betriebsgelände eines US-amerikanischen Suchmaschinenkonzerns mal ausgenommen. Es wird immer zu kurz sein, Aufenthalte in gezieferverseuchten Sleep-ins und ähnlichen Domizilen, bekannt aus Funk und Krawall-TV, ebenso ausgenommen. Meine kleine Rundreise endete pünktlich auf einer ehemals osteuropäischen (heute: Mitte) Steilküste, als meine Kamera den Weißabgleich nicht mehr schaffte und den Himmel in Glutrot tauchte (in Wahrheit war alles Schwarzweiß) und zugleich - das muß man sich wie im Film lustigen Traum vorstellen - mein Mobiltelefon eine eintreffende Nachricht signalisierte, die sich als beruflicher Natur entpuppte. Muß es auch geben, dieses Gefühl von Gebrauchtwerden am Ende einer Urlaubsfahrt.
Zuvor rief ich schon "this doesn't look like Kansas" dem kleinen Toto entgegen, der um meine Beine schlich. Radelnde Raucher, räuchernde Fischer (selbst mir ist jetzt der Unterschied zwischen einer frischgeräucherten Forelle und einem ollen Käsebrot deutlich geworden) und monotones Brandungsrauschen, das mein sonores Brama[r]ba Gebrabbel über "die gute alte Zeit" übertönte - gute Inhaltsstoffe für ein paar entspanntere Tage und Abschalten am Wasser leider ohne politisch geförderte vorzeitige Laufzeitverlängerung. Man selbst ist halt eine zu leise Lobbygruppe fürs große Berliner Getöse. rsieren
Sternschnuppenzählen im nächtlichen Augusthimmel, man rückt die Verhältnisse zurecht fürs Leben unter Stars, jeden Abend Filmpremiere auf der silk- und textillosen Screen. Schwimmen, im Sand liegen, morgens auf rostigen Rädern Brötchen holen sind für ein paar Tage die wichtigsten Beschäftigungen der urlaubsgeplanten Welt. Die Ansichtskartenindustrie weiß darum und textet: Wer nicht bei sich ist, fndet sich auch nicht am Ende der Welt. Und die Welt findet überall, wer sie in sich trägt. Oder wie der weise alte Mann schon sagte: Woimmer du auch bist - dort bist du dann.
Jetzt bin ich jedenfalls wieder hier.
Donnerstag, 19. August 2010
Wandering man/They call me Sand
(Lee Hazlewood, "Sand")
Langsam ist der Punkt erreicht, wo ich mich ein wenig runtergekommen fühle, ausgelaugt, die Frage, "na, altes Haus?" nur noch schlapp mit "altes Haus, ja" beantworten könnend. Die letzten Wochen auf Reservestrom waren noch einmal besonders anstrengend, Arbeiten, Heimwerken, Familienfeiern und -besuche, Hin- und Herreisen, Projekte & Projekte - die liebe Leier eben, und dazwischen nur selten noch gestohlene Momente für Kino, Picknick, Landpartie. Mal ausschlafen, das wäre schön.
Als ich gestern so ein, zwei Zigaretten auf dem Unterarm ausdrückte über Urlaub nachdachte und den Sand zwischen den Zähnen knirschen spürte, überlegte ich, wie wohl Blixa Bargeld in Badehose aussehen mag. Wie er an einem krausgebürsteten Sandstrand einen lustigen bunten Plastikball mit Werbeaufdruck eine rostige Eisenkugel jongliert, sich in paisleygemusterten Badeshorts und sonst nur seinen Strohhut auf dem Kopf in die Schlange vor dem Eiswagen einreiht oder aus dem Liegestuhl heraus, ein eisgraues Getränk neben sich, den Damen beim Wasserski zuwinkt. Nirgends verliert man ja so rasch seine Würde als an den Gestaden der hochsommerlichen Belustigungsindustrie. Zu meinem Glück allerdings sieht es nach Regenschirmen aus.
Irgendwann dann, wenn ich Zeit habe.
>>> Geräusch des Tages: Einstürzende Neubauten, Sand