Eine Nacht wie ein Aschenbecher

Heute geh ich nicht ins Gasthaus.
Müde bin ich längst der Kellnerkerle,
Die uns mit blasierten Fratzen,
Höhnisch, schwarze Biere bringen
Und uns ganz verworren machen,
Daß wir nicht nach Hause finden.

(Alfred Lichtenstein, "Der Traurige". 1919.)

Lieber dem Regen lauschen, denke ich und setze mich ans offene Fenster. Der Sommer, der so groß war, hat sich etwas beruhigt. Die Tage sind kühler jetzt, die Nächte wieder dunkel. Nur ein paar Tage noch, dann will ich den letzten Schluck noch nehmen einer südlicheren Sonne. Heute schon einmal Lektüre herausgesucht, man nimmt sich ja immer so viel vor. Dostojevskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, für lichterflirrende Stunden am Strand, eine Horst-Janssen-Biografie, um nach mal nachzulesen, wie das alles auch sein könnte. Onettis Leichensammler, für die trägen, heißeren Stunden ("Die Eröffnung eines Bordells in der Kleinstadt Santa María wird zum Skandal: Larsen 'Leichensammler', dem Besitzer des Etablissements, stehen nur drei ältliche Damen zur Verfügung.") Muß man mal sehen. Dazu noch ein Roman von Randy Taguchi, von dem ich jetzt schon weiß, daß ich ihn einfach dort lassen werde. Die Ausgabe hat ein gutes Format, um damit Mücken zu erschlagen.

Ich will von allem nichts mehr wissen. Ich will das Wissen nicht mehr wissen, brennende Flaggen, the days of love and torment/the nights of rock'n'roll, die Gebete voller Gewalt. Beim Aufräumen fielen mir alte Abzüge noch älterer Fotos in die Hände. Als hätte ich damals schon geahnt, daß mir die Negative dereinst gestohlen werden würden. Heute, drei oder vier oder zehn gefühlte Jahre später, voller anderer und eigener Fehler, Sünden und Vergehen, Jahre voller schlimmer und auch schöner Stunden, brauche ich nicht einmal mehr das schwarze Bier, kein dunkles Blut, um zu Vergessen und weniger noch, zum Erinnern.

"Rauch' nicht im Bett", sang Nina Simone zum Abschied und legte ihren Ehering auf die Kommode. Rauch' doch, wo du willst. Ich bin da sehr tolerant.

The Mercy Seat | 00:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
bartleby - Sonntag, 13. August 2006, 11:32
smokescreen
by smoking grass.

(AL) 'Leni Levi zog sich weinend
Aus und rauchte….'
4 Punkte, also wieder'mal überpointiert?!- Ich!

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kid37 - Sonntag, 13. August 2006, 14:56
Ich stehe völlig auf dem Schlauch. Vielleicht sollte ich was rauchen.

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bartleby - Sonntag, 13. August 2006, 18:16
Es sind die beiden letzten Zeilen aus A. Lichtenstein "Der Rauch auf dem Felde". Eins der wenigen Gedichte, die auf 3 proleptischen Punkten enden. Ich fügte einen vierten hinzu, weil ich ja nun weiß, wie's weiterging/geht & dabei sicherlich in Ihren Augen wieder überpointiere.
Smokescreen ist der Deckmantel (Phantasma des Anklägers) hinter dem sich der rauchende Grass 61 Jahre verbarg, aber zugleich ist's auch der Bezug auf das von uns zur "Pincher"zeit gerauchte Gras.
Schön zu erfahren, dass in den Bloggs außer mir noch jemand den Lichtenstein kennt. Inge Lichtenstein hieß meine erste, große Liebe (wir beide im Alter von 5 Jahren), der ich damals beim Pinkeln zusehen durfte. Dieses Erlebnis hat mich bis auf den heutigen Tag vollkommen aus der Bahn geworfen, wie Sie selbst schon bemerkt haben werden ;-)). Alles andere … wie mit Auster's Smoke. Na ja, es bleiben die üblichen Verweisungsspielchen.

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kid37 - Montag, 14. August 2006, 13:12
"Leni Levi lief, bis alle
Dächer schiefe Mäuler zogen"...

Das war mir nicht präsent, Zeit offenbar, die alten Bücher wieder öfter zu lesen. Nach Ihrer Erklärung wäre auch ein Zitat aus "Die Ritze" nicht völlig falsch gewesen ("Und aus einer Ritze am Himmel/fällt nächtens ein Goldstück hinab"), aber man muß ja nicht alle Trümpfe ausspielen. Grass ist ein sehr vernebeltes Thema, bestürzend, aber ebenso entlarven sich jetzt die, die wohlfeil ihre Messer wetzen. Ich warte auf den ersten, der ruft, er hätte es "immer schon gewußt". Jetzt kommen also Herbst und Inventur.

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zoeo - Sonntag, 13. August 2006, 14:26
wo die liebe wohnt ist toleranz beheimatet.

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