Stilbruch

Die gelungenen Bilder bleiben ohne
Wirkung auf uns. Das Interesse, das
wir an ihnen nehmen, reicht nicht über
die Zeit eines kurzen Betrachtens hinaus:
Sie hallen nicht nach, verwirren nicht...

(Roland Barthes. Mythen des Alltags. 1957.)

Für freilaufende Tagelöhner wie mich gibt es in Hamburg das Kaufhaus Stilbruch, wo man sich, gut vorsortiert, aus dem Müll anderer Leute ein neues Heim für schmale Geldbeutel schaffen kann. Eine schöne Idee, zumal es in dieser Stadt keine festen Sperrmülltermine mehr gibt, an denen man sich straßenzugweise selbst auf Schatzsuche machen könnte. Ob Sofa, Tasse oder Gehhilfe, hier findet man im stetig wechselnden Ausstellungsangebot entweder was für sich oder zumindestens einen Eindruck über das, was bei den lieben Mitmenschen gerade über Bord geht.


Le Sofa: Immer schon Platz für gut abgehangenen Kunstgenuß

Bei manchen Dingen kann man schon ins Grübeln kommen. Hasenkäfige, Sanitätshausstühle und alte Hammondorgeln tragen die Aura des Versprechens eines geruhsamen Lebensabendes. Bembel, Sammelteller und formschönes Besteck mit Holzgriffen kosten hier nicht die Welt und zieren jeden Tisch (den es gleich nebenan gibt). Fahrräder zur Ertüchtigung, Balkonmöbel zum Entspannen - für jeden Bedarf offenbart sich hier ein Pièce de résistance, wie sonst nur dem Katalogbesteller. Ich schlendere umher, streiche hier gedankenvoll über kunstlederne Bezüge, knuffe dort einen Sitzsack und wundere mich still, aber intensiv, über Sammelsurien, die man andernfalls nur auf dem Flohmarkt Hellbrookstraße finden kann.

In den geräumigen Hallen findet sich viel, aber die wahren Trouvaillen liegen oben verborgen. Im ersten Stock nämlich befindet sich die Kulturabteilung des kleinen Kaufhauses. Bücher, Schallplatten, Computer- programme - und die überaus beeindruckende Galerie de Objét trouvée du Müll.

Das kleine Hansestadtmuseum bietet einen Querschnitt durch alle Epochen und Geschmäcker. Poster von Miró, üblicherweise nur noch mit leichtem Grusel goutierbar, entlocken ein sanftes Hallo, der Fischer mit der Piepe ist gleich mehrfach vertreten: als Druck, als Stickbild und in Öl.

Beinahe unbezahlbar und dennoch für Preise (nach Leinwandgröße gestaffelt) angeboten, die einem Mittagstisch ins Eimsbüttel entsprechen, sind die Originale. Gekonnt ins Format gesetzte Porträts, gewagt kubistische Akte und, herzerweichend, der kleine Fuchs aus dem kleinen Prinzen.

"Nimm mich mit!" schreien sie, die herzblutigen Bilder, expressionistische Stadtansichten und von lockerer Hand gemalten Haustierporträts. Wer setzte sie aus, diese Exponate aus den Plakafarben-Tuilerien? Wer konnte so grausam sein? Alles für die Kunst, denn Kunst ist alles! schrien wir einst, kaum war die Schule vorbei. Nun lehnen sie hier, die Gesellenwerke einer Zeit, die Bob Ross noch nicht kannte. Penible Pferdeköpfe, ungelenk gegenständlich, heiter Abstraktes und derbe Art brut, außer Form und Rand und Band, ein Zeichen eckt an, schrappt an den Wänden unserer Sehgewohnheiten, desorganisiert, sagt, hey, ich bin gekommen, um zu bleiben, und ruft wie ganz nebenbei: Hilfe, zu Hilfe - ist vielleicht zufällig ein Kurator ein Bord?

Flanieren | 13:11h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
brittbee - Freitag, 14. Juli 2006, 14:51
Mit gutem Zureden (und das können Sie ja) gelingt es Ihnen sicher, dem Herrn Falckenberg eines der Werke aufzuschwatzen. Dann ist hinterher ein nagelneues Ledersofa drin.

Ach ja, und mir können Sie die manische Rothaarige mitbringen. Meine Wohnung könnte ein wenig Veränderung brauchen.

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lady grey - Freitag, 14. Juli 2006, 15:11
huch
"manische rothaarige", ich dachte kurz, sie meint mich! --
bei meinem letzten stilbruch-besuch war zumindest ein kommentator anwesend, oben in der kunstabteilung. er beriet und tat, als ob er alle künstler persönlich kannte. es fällt dann noch schwerer, nichts zu kaufen. ich habe mich dann auf die schallplatten gestürzt, wie sie sich denken können, "arcade superschlager" und "hithaus der superstars". und fips asmussen, großer humor zum kleinen preis (50 cent).

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kid37 - Freitag, 14. Juli 2006, 15:14
Nachdem ich mich aus unerklärlichen Gründen mit meinen eigenen Gemälden nicht am Markt durchsetzen konnte, sollte ich es vielleicht als Sammler versuchen. 1000 Meisterwerke, auf dem Flohmarkt gefunden. Manische Rothaarige habe ich ja früher lieber selbst behalten, aber da hat sich ein gewisses Ennui eingestellt.

Wenn Sie umdekorieren wollen, kann man ja ab und an mal machen, bringe ich Ihnen gerne was hübsches mit. Vielleicht im praktischen Wechselrahmen, falls die Veränderungswünsche öfters kommen.

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kid37 - Freitag, 14. Juli 2006, 15:26
Frau Grey, Fips Asmussen! Das bläst ja jede trübe Stimmung wie mit einer Spirituosenwolke weg. Sollte man sich vielleicht stilecht unter so einem Fischer mit Piepe-Bildnis anhören. Ich habe die Museumsführung leider nicht mitgemacht, ähnlich wie mit der Streckenführung in fremden Städten, lassen sich Männer ja nicht so gerne was erklären.

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lady grey - Freitag, 14. Juli 2006, 15:51
ab heute wird gelacht
folge 4. spiele ich ihnen gern mal vor. auf der platte steht, der humor von fips asmussen sei zeitlos. ja, so kann man es auch nennen. -- tausend manische rothaarige im wechselrahmen, da wird sich brittbee aber freuen!

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ana - Freitag, 14. Juli 2006, 15:11
Ich habe mir mal in einem Gebrauchtwarenkaufhaus eine schöne alte, aber reichlich beschädigte Grisaille billigst gekauft. Das Bild hing mit ziemlicher Sicherheit einst in einer Kirche und wurde von einem nicht unbegabten Künstler gemalt. Man sieht, dass die Leinwand einmal aus ihrem ursprünglichen Rahmen genommen und eine Weile unsachgemäß aufbewahrt wurde. Vielleicht geschah das in einem der Kriege oder das Bild wurde einmal gestohlen. Irgendwer hat es trotz seiner Schäden wieder würdig rahmen lassen und irgendwie ist es schließlich in besagtes Kaufhaus gelangt. Zu meinem Bild oder den von Ihnen photograhierten Bildern ließen sich hübsche Geschichten erfinden.

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kid37 - Freitag, 14. Juli 2006, 15:22
Ich möchte nicht wissen, was da an interessanten Originalen täglich unbeachtet in Müll und Vergessenheit gerät. Ähnlich den hier schon mal angesprochenen Familienfotos. Ich finde ja auch die gemalten Familienporträts der letzten Jahrhundertwende reizvoll, die man oft für akzeptables Geld auf Flohmärkten findet. Leider kann man ja nicht alles aufbewahren. Aber erhalten wäre schön.

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novesia - Freitag, 14. Juli 2006, 16:07
Das ist ja fast wie Sperrmüll in Oberkassel - auch dort hat man manchmal das Gefühl, als würden einen arme verstoßene Kreaturen mit herzzerreißendem Blick anflehen "Nimm mich mit ins Warme, bittebitte" und man geht frustrierter nachhause als nach einem IKEA-Besuch (ja, Schande über mich).

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c17h19no3 - Freitag, 14. Juli 2006, 16:25
die krücken sind ja witzig! - für unsere ersten parties mit elektronisch-alternativ-industrieller musik haben wir den raum (fabrikhalle mit nahezu freiliegendem starkstromkabel *g*) kommunikationszeitalter-like mit einer menge telefonhörer dekoriert, die von der decke baumelten und die tänzer beim hochhopsen störten... aber krücken wären auch nicht schlecht gewesen. naja, für den fall, dass wir mal im operationssaal eines krankhauses feiern dürfen...
und roland barthes hat mich durch ein zum gähnen langweiliges semiotik-seminar gerettet. umberto eco mit neuen augen gesehen. guter mann.

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kid37 - Samstag, 15. Juli 2006, 15:26
Wobei es einem, Frau Novesia, mit zunehmenden Alter leichter fällt, die massenfabrizierten Sachen von Ikea zu lassen, wo sie sind, als die Unikate der Straße.

Frau Morphium, die Krücken sind natürlich Deko für Ü-30-Parties, die bekommen sicher noch ihren Einsatz. Und die semiotischen Texte von Eco sind schon schwere Nüsse. Zu Unizeiten habe ich mich ganz gerne damit beschäfigt, eine Art Sudoku für Literaturwissenschaftler. Jetzt bin ich zu bequem geworden. Leider.

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c17h19no3 - Sonntag, 16. Juli 2006, 15:45
ü30-parties! dass ich da nicht drauf gekommen bin! hierzulande boomen die ja dank polygamer single-tingel-kultur und allgemeiner scheidungsfreudigkeit... krücke statt high-heels, rolli statt barhocker, blutdrucktablette statt cocktail. das ist ja ein unternehmenskonzept... herr kid, sie sind ein held. ade, meine zukunft als arbeitslose literaturwissenschaftlerin! ;)
zu eco: ich habe im zarten alter von 12 seine "rose" zu lesen versucht und mich tödlich gelangweilt. irgendwie hat das eco den stempel "unverdauliche kost" aufgedrückt. ich WOLLTE ihn gar nicht mehr verstehen. ich fühle mich in solchen fällen immer persönlich vom autor beleidigt. ;)
barthes war dann mein schlüssel zum willen für etwas verständnis...

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gruenschnabel - Mittwoch, 19. Juli 2006, 15:37
Ich finde den Fuchs allerliebst!

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kid37 - Mittwoch, 19. Juli 2006, 22:00
Rührend, nicht wahr? Ich glaube, vier oder fünf Euro. Ein Original!

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gruenschnabel - Donnerstag, 20. Juli 2006, 11:00
Und in Wahrheit wahrscheinlich unbezahlbar.... ;-)

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rabe489 - Dienstag, 25. Juli 2006, 15:06
Habe unhöflicherweise unerlaubt das schöne Kaufhausfoto in meinem Blog zum Kunstthema benutzt. Schlimm? rabe489

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kid37 - Dienstag, 25. Juli 2006, 16:59
Nur zu. Ich bin da entspannt.

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