Good deeds should be done with intention not for attention
Coleen Gray als "Electra" in "Nightmare Alley" (1947)
"Good deeds and prayers should de done in silence" heißt es in Nightmare Alley, einem fantastisch fotografierten (Kamera: Lee Garmes, "Shanghai Express") Noir-Drama über den Aufstieg und Fall eines Mentalisten, der über sein Netz aus Lügen, Schuldgefühlen, aber auch über seinen Hochmut stolpert. Tyrone Power spielt den ehrgeizigen Egoisten, der ein dunkles Geheimnis zu verdängen sucht, weshalb er sich später bei einer zwielichtigen Psychologin zur Analyse auf die Couch legt. Dabei ist er mit der wunderbaren "Miss Electra" verheiratet, die auf der Bühne 10.000 Volt brizzeln lassen kann, privat aber sanft wie ein Lamm ist.
Guillermo del Toro hat gerade ein Remake (u.a. mit Cate Blanchett) fertig, aber ich bleibe vorerst bei der Version von 1947. In der Jahrmarkt- und Schaubudenwelt des Films gibt es nämlich einige gute Berufsideen abzugreifen. Als Elektromann im Powerdress könnte ich vielleicht bella figura machen, aber Mentalist geht auch gut im Abendanzug. Anonsten braucht man dazu nur eine Assistentin und einen linguistischen Code, weil man ja verbundene Augen hat und wissen muß, welchen Gegenstand die Assistentin im Publikum in die Höhe hält. Wenn also mal jemand skeptisch fragt, Aha, du studierst also irgendwas mit Geisteswissenschaften - und was macht man damit später so? kann man lässig entwaffnend antworten: "Zum Beispiel Mentalist werden".
Derzeit entwerfe ich schick gestylte Visitenkarten für die ein oder andere solche Existenzgründung. "Kid37 - Thaumaturg", "Kid37 - Sammler" oder eben "Kid37 - Mentalist" gehören dazu. Wer noch die Serie "Detektiv Rockford" kennt, weiß, was ich meine. Klappern gehört zum Handwerk - oder zum natürlichen Drang, kann aber ursprünglich sehr gut gemeinten öffentlichkeitswirksamen Aktionen zum Beigeschmack verhelfen. In Hamburg wurden bereits erste Impfpflaster mit "Eure Impfarmut kotzt mich an!" gesichtet. Die kann man, wenn sie sich schrumpelig vom Arm pellen, auf die Heckscheibe vom VW Golf kleben, wenn es brumm-brumm in den Urlaub drängelt. In Pinneberg grölt es: "Hoch die Impfarme - Wochenende!" und statt "Abi 2021" eben "Astra 2021". Als Mentalist sehe ich es glasklar vor mir: Ein Verkaufshit! Wie auf einer exzessiven Party, die bereits einen Tag zu lange (für Euch da draußen: 1 Stunde) dauert, mischt sich etwas Fratzenhaftes in die glücksberauschte Stimmung. Erste ironische Anmerkungen wie von Satire-Influencerin Cassandra Cash oder Beiklänge in einer Kolumne im Monopol-Magazin zeigen, hier kippt langsam was.
Das Impfpflaster wird zum Arschgeweih unserer Zeit. Ein Gegenstand kommender kulturphilosophischer Betrachtungen, begleitet von Ausstellungen - Entschuldigung: "kuratierten" Ausstellungen - Fotobänden und Wahlen zur "Miss Impfarm". Es folgt der Sport und dann das Wetter.
Der Vollständigkeit halber kann man an dieser Stelle gut noch den Artikel in der
Ärzte Zeitung zitieren. Da wird ja für einen wohlwollenden Umgang mit Impfneidern plädiert. Und als Tipp direkt noch mit an die Hand gegeben, man solle einfach immer dazusagen, warum man geimpft sei, Legitimierung, so wichtig. Das rege ich an. Soll doch zukünftig jeder neben das Bild vom schrumpeligen Arm schreiben, warum er oder sie schon geimpft sein dürfen. Volle Transparenz. Ich biete Schlaganfall, Hirntumor, berufliche Priorisierung und Kontaktperson Pflegestufe 5. Prio 12. Ich bin ja so gespannt, obwohl, ach, egal.
Sie vermengen erneut Dinge, die so nicht zusammengehören. Von "Impfneid" war und ist hier nicht die Rede. Daß es erkennbar Leute gibt, die aufgrund von beruflichem Status, guten Beziehungen und schierem Glück schneller drankommen als andere, hier in Hamburg andererseits ganze sozial benachteiligte Stadtteile aus Kostengründen nicht versorgt werden (sollen alle ins Impfzentrum, das aber keine Termine anbietet und demnächst eh geschlossen wird) ist aber auch eine Tatsache. Ansonsten wiederhole ich mich, ein bißchen Demut steht der guten Tat gut zu Gesicht. Immer.
Nein nein, ich vermenge nichts. Ich ordne zu. Erneut.
Sie können sicher besser differenzieren. Vielleicht wollen Sie gerade nicht. Ich würde mich auch freuen, hätte ich einen Platz im Rettungsboot ergattert. Ganz sicher aber würde ich nicht den anderen auf der Titanic fröhlich zuwinken. Sondern meinem Gott von Herzen danken. Und dann gibt es noch ein paar, die sich als Frauen verkleidet haben, um einen Platz im Boot zu kriegen. (Ist ja historisch belegt.) Auch dafür, leider, leider, kein Applaus.
Meiner Meinung nach ist die Stimmung im Land etwas überreizt. Oder, um Herrn Drosten zu zitieren: Ist gut jetzt. Soll sich jeder sein Pflaster sonstwo hinkleben, ich muß es mir ja nicht anschauen. Die Messe ist gesungen, der Witz erzählt, wir haben es kapiert.
Man muss auch mal nichts sagen können. Ich lerne ja gerne.
Ich weiß, daß es bitter für den Gastgeber ist, wenn nicht alle bis zum Ende der Party bleiben. Aber vielleicht war die Musik scheiße. Oder einfach nur zu laut.
Der Impfarm ist ein soziales Phänomen geworden, der als Distinktionsmerkmal und Statussymbol sehr demonstrativ vor sich hergetragen wird. Eine moderne Monstranz. Das wird in der kulturwissenschaftlichen Analyse noch interessant. Selbstverständlich läßt sich dieses Phänomen aber auch bespötteln und sogar kritisieren. Zumal daran demnächst ja veritable Privilegien gekoppelt sind. Die einen Tanzen damit auf den Rheinterrassen, ich mache derweil den polnischen Abgang und flüchte mich lieber zu Jupp und Pitter in die Eckkneipe.
Ah, das kann natürlich sein. Lustige Seitenbemerkung: Ich war ja noch nie bewusst an den Rheinterassen. Das ist für Touristen und Hosen Fans.
Mich haute vor ein paar Tagen der Film "Ich, Daniel Blake" (Arte-Mediathek) vollkommen um. Befürchte etwas, dass ich mit dem Anschauen des "Nightmare Alley"-Films einen Alptraum durch einen neuen ersetzen würde.
"Ich, Daniel Blake" ist natürlich auch bitterer Sozialrealismus. Da muß man schon Nerven für haben. "Nightmare Alley" spielt demgegenüber mehr auf einer symbolischen Typen-Ebene. (Der Mentalist bekommt auch nicht umsonst beim Tarot zwei Mal "The Hanged Man" zugeordnet.) Ich denke, dieses Spiel über Bande macht den erträglicher. Es gibt eine gute Version auf
Youtube.
Wie finden Sie ¿?¿
Nachher am Schultor. Klassenkeile.
Ich schaue ja eher nur alle Jubeljahre mal in diese "sozialen Medien", habe aber den untrüglichen Eindruck, als würde dort nichts in silence getan. Dieses unerträgliche ichichich ist quasi als Filter überall drüber, und dann natürlich immer sooo lustig ("Ich hab Impf").
Was die Impfungen angeht, befürchte ich auch, dass da demnächst mit dem Ausweis gewedelt wird wie mit der goldenen Kreditkarte, die man sich halt leisten kann.
Wirklich Sorge machen mir die, die nicht geimpft werden, weil sie zwar nicht grundsätzlich dagegen sind, aber lieber erst mal abwarten. Also Menschen, die eh am Rande stehen und schon mit der Bedienung von Geldautomaten völlig überfordert sind.
In einer Aufmerksamkeitsökonomie ist das eine harte Währung. Ein klassisches Intiationsritual auch: Man steht beschwerlich für drei Tage vor dem Impfzentrum an, wagt dann den "Kampf" (die impfenden Ärzt:innen sollten eine rituelle Tigermaske tragen) und kehrt mit der Narbe als Krieger zurück in die Gemeinschaft. Danach winken alle Privilegien. Sehe mein neues Buch Kulte und Riten in postsozialen Zeiten sich von selbst schreiben.
Bis zur Bundestagswahl will ich das mit Twitter mal aussitzen. Mit tut diese Dauererregung und permanente Skandalisierung gerade nicht gut. Ich mußte zuletzt immer an Bilder von George Grosz denken, vieles wirkte so überzeichnet, vernarbt, grölig, schrill. Nach der Wahl wird es sicher besser.
Für kurze Zeit gab es eine interessante Entwicklung in Hamburg. Da waren plötzlich Stadtteile wie die Veddel und Blankenese sehr gleichgestellt. Die einen waren ungeimpft, weil es dort keine Hausärzte mit Kassenzulassung gibt, die anderen, weil es dort gar keine gibt. Arm und reich - vor der Spritze plötzlich gleich.
Heute ist die Veddel immer noch vergessen. Mobile Lösungen "zu teuer", sollen halt alle ins Zentrum fahren. Die Politik sieht da kein Problem. Es werden viele vergessen sein.
Ich möchte Ihnen vollumfänglich zustimmen, ein bisschen Abwechslung ist wichtig. Aber hier muss ich Ihnen Recht geben (außer mit den Privilegien, das finde ich in der Formulierung schwierig, das generelle Konzept aber tatsächlich auch). Keinesfalls darf die Reise nun dahin gehen, dass die Geimpften vollkommen freidrehen, während mehr als die Hälfte der Bevölkerung noch in der Warteschleife hängt, und dann spielen wir in ein paar Wochen 12. Welle, und dann zucken alle mit den Schultern und Laschet sagt: "Das konnte ja keiner wissen." Immerhin fällt die Maskenpflicht in Niedersachsen doch nicht, dass man das überhaupt freudig schreiben muss, ist aber schon tragisch genug. Dass die Politik in vielem kein Problem sieht, ist vielleicht das Hauptproblem, aus der Ferne wirkt es jedoch oft so, als würde gerade Hamburg Themen schlauer regeln als manch anderes Land. Die Priorisierung im Impfzentrum nicht zu kippen ist zum Beispiel sehr schlau, sie bei den Hausärzten doch zu kippen - so es denn welche gibt - allerdings auch. Kein Geld für mobile Lösungen freizumachen, ist Irrsinn, mit den paar 1000 Leuten in Chorweiler hat man ein schönes Talkshowthema geschaffen, aber flächendeckend wird das nicht weiterverfolgt, und ja, diese Menschen zurückzulassen, das wird uns um die Ohren fliegen. Aber da scheint ja gesamtgesellschaftlich wichtiger zu sein, dass die Steuerberater geimpft werden. Das könnte ich mir als Randnotiz in Ihrem postsozialen Werk gut vorstellen.
"A jubilant vaccine selfie felt like it could be salt in the wound for others in my circles, so I chose not to take or share one online".
-> Das Impf-Selfie, pro und contra -
Hyperallergic