Panorama & Freiheit

Die angenehm kalte, aber sonnige Luft nutzte ich für einen meiner regelmäßigen Spaziergänge durch die von Gott und Welt verlassenen Gewerbegebiete, um tüchtig Auszuhusten und ein wenig zu Fotografieren. Erstmals nun wurde ich von am heiligen Sonntag dort Gewerbe Treibenden mißtrauisch aufgehalten, einer fuhr mir gar mit seinem Auto hinterher, um mich einer Befragung zu unterziehen. Nun ist es ja so: Gibt man zu Protokoll, man fotografiere gerne rostige Eingangstüren oder Dinge dieser Art, könnte man auch gleich behaupten, man nähe sich abends zum Schlafen in einen Pferdekadaver ein. Die Wirkung auf manche Menschen ist dieselbe. Man wird also ungläubig und eher noch eine Spur mißtrauischer beäugt, die Blicke wandern von meinem Gesicht hinab zur Kamera, dann wieder zurück. "Papparazzi?" fragt man.



Wer also gestern noch griente und dachte, jaja, Anger-Management, was soll das denn wieder geben, sieht nun die praktischen Anwendungsmöglichkeiten. Statt bissig zu kontern mit "die jagen nur Prominente, sind Sie prominent?", reicht ein knappes "Nein", (nie etwas erklären!), das läßt das Gegenüber ins Leere laufen. Und selbst wenn man sich für solche Fälle einen dieser Streetview-Apologeten im Kleinformat in der Fototasche wünschte, der nun wortreich etwas über Gesetze, den freien Fluß von Information, Zensur durch Unterlassung, globale Vernetzung und Gedankendurchfall in Echtzeit vortragen könnte - die Wirkung auf einem kopfsteinbepflasterten, müllübersäten Gehweg im trostlosen Nirgendwo scheint mir ungewiß. An der Türe, also an der Front, so heißt es in der praktischen Philosophie für Türsteher, diskutiert man nicht bereits geführte Diskussionen.

Ich hatte also dieses Schild, das sich vielleicht gegen Erwerbslose wendet, vielleicht aber auch anders gemeint ist - darüber lohnte es zu diskutieren - fotografiert, natürlich vom Bürgersteig aus. Ich trete doch nicht auf den Rasen. Nun aber blicke ich freundlich zurück ins Gesicht dieses Import-Export-Menschen, hinunter auf sein Mobiltelefon, das er griffbereit hält, und wieder hinauf. "Das ist so erlaubt", sage ich. "Privat?" fragt er. Ich huste dir was, krank wie ich bin. Ist eigentlich egal, denke ich, ich bin ja kein Suchmaschinenkonzern, sage aber nur knapp "Ja", schon allein, um ihn wieder ins Leere laufen zu lassen. Wichtig ist, erkläre ich dann doch, daß man auf öffentlichem Grund bleibt. Und ich öffne ihm ein gedankliches Panorama: "Wenn Sie ein Schiff auf der Elbe fotografieren, fragen Sie auch nicht den Kapitän." Er scheint nicht wirklich überzeugt und flüchtet sich in ein "Ich will halt mal nachfragen". Aber gerne doch. Man wünscht sich ein schönes Wochenende, ist ins Gespräch gekommen und geht weiter seiner öffentlichen Wege. Es geht um Details.

Zum Schluß noch die Einnahmen-/Ausgaben-Überschußrechnung:

[x] verloren (im Osten Hamburgs): 1 Okularmuschel DK-21 (Nikon)
[x] gefunden (im Straßengraben, öffentlicher Grund): 1 Gegenlichtblende HB35 (Nikon)

Der Tag nimmt was, der Tag gibt was. Die Blende paßt leider auf keins meiner Objektive, ist also gerne im Tausch gegen die verlorene Augenmuschel abzugeben.

Homestory | 22:12h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
goncourt - Montag, 8. November 2010, 00:30
Mein Lieblingssatz stammt von einem Hausbesitzer, der mir noch höchstpersönlich einen ganzen Häuserblock lang zufuß gefolgt ist und sagte: «Besitzen Sie erst mal ein Haus, dann werden Sie anders drüber denken!»

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prieditis - Montag, 8. November 2010, 02:38
Wo bliebe denn
der Nervenkitzel, wenn sich jeder sang- und klanglos ablichten ließe, um seine Seele in einen Kasten einfangen zu lassen? Für viele Eigentümer Besitzer ist dies oft wichtiger, als alles andere, sonst würde man schließlich nach, bevorbeeld z.B., dem Ende einer Zugewinngemeinschaft nicht über die Aufteilung des Haustieres zanken.

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kid37 - Montag, 8. November 2010, 14:17
Wenn man so marode Gebäude, Fabriken und Trümmer fotografieren will, ist einem das Thema "Werkschutz" ja nicht fremd. Je nach Laune und Tageszeit wird man verscheucht oder toleriert, das ist ein Handel vor Ort. Würde jemand die Mülltonnen vor meinem Haus fotografieren, würde ich auch nachfragen und vielleicht einen Reflektor oder Aufhellblitz anbieten. Immerhin kann man das in einem solchen Moment ja auch, dieses "Reden" - anders als beim Streetviewroboterauto.

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mark793 - Montag, 8. November 2010, 12:07
Eine ähnliche Begebenheit
erlebte ich kürzlich beim Versuch, in einem Duisburger Vorort das Kneipenschild der Pizzeria "Don Alfonso" abzulichten. Der Betreiber, offensichtlich indischer Abstammung, kam gleich mitsamt seiner Frau und Schwiegermutter auf die Straße gestürmt und machte einen ziemlichen Terz. Und obschon ich mit Engelszungen redete, konnte ich den Leuten ihre Sorgen nicht nehmen und verzichtete daraufhin auf weitere Grundsatzdiskussionen (wie man weiß, sind Schießereien vor Duisburger Pizzerien öfters mal auf der Tagesordnung), und das Foto habe ich natürlich auch nicht gemacht. Ich gehöre ja schließlich nicht zu den Netztotalitaristen der binär-böhmischen Befreiungsfront.

Aber vielleicht werde ich das nächste mal versuchen, den Leuten wenigestens ein verpixeltes Bild ihrer Kaschemme abzuverhandeln...

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kid37 - Montag, 8. November 2010, 14:21
Ja, im Recht zu sein, heißt nicht, es immer auch durchsetzen zu müssen. Bei Gewerbetreibenden schwingt ja oft noch die Sorge mit, man sei von der Gewerbeaufsicht oder betreibe gar Industriespionage, kopiere die Speisekarte oder zähle die Laster auf dem Hof. Und was an ihren rostigen Briefkästen so fotogen sein soll (ich mach ja alles für die Kunst), leuchtet meist sowieso nicht ein. Ich bin mal gespannt, ob die SV-Debatte die Leute verspannter macht. ("Ich bin schon beim Google, doo, das reicht!")

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kid37 - Montag, 8. November 2010, 14:24
Oder so: "Moment, laut dem Google seine Karte verläuft ihre Grundstücksgrenze aber nur bis hier."

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jean stubenzweig - Montag, 8. November 2010, 16:14
Womit der Beweis
erbracht sein dürfte, daß die Weltkonzerne die Welt grenzenlos in die Grenzen weisen. (Zu komisch das.)

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vert - Dienstag, 9. November 2010, 01:06
An der Türe, also an der Front, so heißt es in der praktischen Philosophie für Türsteher, diskutiert man nicht bereits geführte Diskussionen.

so sieht das aus.
sie sind ein weiser mann, herr kid. und dürften auf diese weise auch schon einige tanzflächen gesehn haben, die anderen immer wieder verwehrt bleiben.
drinnen nämlich kann man dann den redundance tanzen solange man lustig ist. draußen auch. aber nicht an der tür.

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