Sonntag, 30. Juli 2023


Bildgeschichten



Wenn man wie ich nicht mehr viele Abenteuer in unerkundeten, nur auf geheimen Karten verzeichneten Gebieten erlebt, gräbt und bohrt man tiefer in den Archiven oder liest gemütlich zu Kaffee und Kuchen (aber ohne Pfeife und Ohrensessel) die Berichte anderer Autoren aus der Jugend. Und mag das Verhältnis zwar immer zwiespältig gewesen sein - aber am Ende kehrte ich zu einer Reihe zurück, auch wenn mancher da den Kopf schütteln mag. Früher war das nämlich so: War man als Kind mit Tim & Struppi durch, blieb für an Comix Normalinteressierte nicht viel. (Es war die Zeit vor dem Internet und internationalem Bestellwesen.) Viele wichen von Hergés Ligne Claire aus auf die Schule um Franquin (Gaston, Spirou) oder griffen - ebenfalls aus dem Hause Carlsen - zu Edgar P. Jacobs' Blake und Mortimer. Der war einst Mitarbeiter von Hergé gewesen und hat schon deshalb seinen Platz in der bedeutenden frankobelgischen Comixschule sicher.

Die wilden Geschichten um den walisischen Geheimdienstbeamten Blake und seinem Freund, dem genialen Halb-Schotten und Professor für alles Mögliche Mortimer spielen in der Zeit zwischen den 40er- und 60er-Jahren und bedienen sich eifrig an allerlei Themen und Motiven aus Pulp und Abenteuerroman, Fantastik und Spionagethriller, Kriegsabenteuer und Sci-Fi-Welten. Wunderwaffen und Dinosaurier, antike Kulte und Konspirationen, die ein oder andere mühsam geduldete Femme fatale (Jacobs wirkt da eher pikiert), einen wiederkehrenden Erzschurken und alles getränkt in britischem Patriotismus und Weltüberlegenheitsattitüde. (Eine Ausnahme bildet der eher pessimistische Band Die teuflische Falle von 1962.)

Alles ein bisschen brav also oder auch bieder, dann aber immer wieder auch herrlich absurd in der atomiumhaften Fortschrittsgläubigkeit der 50er-Jahre (1946 erschien die Serie zum ersten Mal) mit den Träumen von Überschall und Radiowellen tiefster und allerhöchster Frequenzen, der Entdeckung antiker Ausgrabungsstätten und ihrer (militärischen) Geheimnisse, Kalter-Kriegs-Methoden um Gedankenkontrolle und Kampfbomber, die den Frieden sichern sollen. Schmuck gezeichnet, etwas kantiger als Hergé, aber auch über längere Strecken zäh erzählt. Berüchtigt ist Jacobs' Hang zu salvenartig verstreuten und überflüssigen Textblöcken in seinen Bildern. Ein fast selbstparodistischer Klassiker zeigt Leutnant Blake (oder welchen Rang er da gerade hat) wie er bei bei einer nächtlichen Zugfahrt aus dem Fenster schaut und dazu die Unterschrift "Blake schaut aus dem Fenster".

Nachdem ich eine kleine Reihe damals erhältlicher Titel angesammelt hatte, war mir das irgendwann zu langweilig. Ich verstieß, also verkaufte, die Bände - nur um dann Jahre später die Sammlung wieder anzufangen. Man darf nicht so leicht genervt sein! Jetzt ist also Band 26 der deutschen Übersetzung erschienen. Mittlerweile wird die Reihe nach Jacobs Tod 1987 von verschiedenen Autoren und Zeichnern (zeitweise von Ted "Ray Banana" Benoît) fortgeführt, die teilweise die Überfrachtung mit Textblöcken behutsam entschlackten (oder aber wie bei Jean Van Hamme auch steigerten), den altmodischen Charme der Geschichten dabei aber gut bewahrten. Der frisch erschienene Band Acht Stunden in Berlin etwa spielt 1963 in der geteilten Stadt und erzählt mit aus Hitchcocks Der zerrissene Vorhang bekannten Motiven eine wilde Geschichte über ein Komplott rund um den Besuch von US-Präsident J.F. Kennedy ("Ich bin ein Berliner"). Alles in flottem Tempo, mit doppelten Böden und Doppelgängern, Spionen und Gegenspionen, finsteren Sowjets und verschlagenen US-Amerikanern, verrückten Wissenschaftlern, tickenden Uhren und einem actionreichen Finale. Schön sind die gut recherchierten Details, etwa wenn in Ostberlin Plakate von Staudte-Filmen zu sehen sind.

Gehobener Schund, und das meine ich ganz freundlich, und Unterhaltung ähnlich etlicher Hollywood-Abenteuerkino-Franchises. Kritiker werden sagen, eher restaurativ, politisch staubbeladen und ohne postmoderne Meta-Spielereien für die Genre-Gewieften, aber als spannende, alternative Was-wäre-wenn-Historienmalerei sehr unterhaltsam. Mir taugt's.

(José-Louis Bocquet, Jean-Luc Fromental, Antoine Aubin. Die Abenteuer von Blake und Mortimer, Bd. 26: Acht Stunden in Berlin. Hamburg, Carlsen Verlag, 2023.)


 


Dienstag, 25. Juli 2023


Live, love, laugh



Das brennendste Problem des 19. Jahrhunderts war die soziale Frage. Überbevölkerung und Wohnungsnot in den Städten, Arbeitslosigkeit und Hunger führten zu Hygieneproblemen, Krankheiten, Verwahrlosung und Verbrechen. "Hard Times", wie sie im gleichnamigen Roman von Charles Dickens grimmig und rußschwarz beschrieben sind. Aber die massenhaft aus der Provinz in die Städte geströmten Menschen fanden auch oft keinen Partner. Sogenannte Partnerschafts- und Eheanbahnungsinstitute erkannten hier einen Markt und bemühten sich (gegen gute Gebühr) um standesgemäße oder überhaupt eine Verkupplung. Diese diente weniger der romantischen Verbindung oder wenigstens amourösen Vergnügen, sondern der sozialen Absicherung gegenüber der Gewalt und Not auf den Straßen.



Auf dem Flohmarkt in Spitalsfield in London fand ich einmal eine Kiste mit Bewerbungsfotos dieser Zeit. Eine Agentur namens Finder hatte sich einen einprägsamen Werbespruch ausgedacht und ließ diesen von den heiratswilligen Kandidaten und Kandidatinnen auf Schilder schreiben: "Live, love, laugh" hieß dieses Mottto, das entgegen aller harschen Alltagsrealitäten Lebensfreude und Optimismus signalisieren sollte.



Das Motto wurde bald zum stehenden Begriff. Fragte man einen zahnlosen, zerlumpten Bettler in den verslumten Stadtteilen im Londoner Osten nach seinem Befinden, so kicherte er roh zurück "live, love, laugh, matey!" Lebensfrohe Armut, laut Rilke "ein stiller Glanz von innen", wurde so zur Inspiration für Lebenskünstler und eine saturierte Bürgerschaft, die bald den Slogan aufgriff und zum Trinkspruch in den feineren Absinthstuben, efeuumrankten Buchläden und den Seebädern im Südosten Englands erkor.



Natürlich spiegelte sich in den selbstbeschrifteten Schildern der meist niedrige Bildungsstand der Heiratskandidaten aus den unteren Schichten wieder. Allerlei eigentümliche und durch den Dialekt ihrer Herkunftsregionen und rührende Unbeholfenheit geprägte Fabulierungen verzerrten den heiteren Sinnspruch manchmal bis zur orthografischen Unkenntlichkeit. Aber damals wie heute gilt: Es liest sowieso niemand die Texte und Profile in Kontaktanzeigen.



Auch zahlreiche Damen finden sich in der Kartei. Meist etwas schüchtern und ebenfalls von niedrigem Bildungsstand, versuchten sie ihr Glück, von dessem Eintreten wir nichts wissen.



Warum lächelten die Menschen in viktorianischen Zeiten auf Fotos so selten, wo ist das "Lachen", das die Schilder verkünden? Nun, Zahnhygiene war noch nicht recht verbreitet. Zwar hatte ein William Addis um 1780 eine Bürste modernen Typs erfunden (im Gefängnis, wie man hört), doch blieb diese aufgrund der hohen Produktionskosten den wohlhabenderen Schichten vorbehalten. Der Zahnzustand in der breiteren Bevölkerung war daher im Allgemeinen eher schlecht. Für Heiratswillige also ein guter Grund, den Mund geschlossen zu halten (und nicht etwa die langen Belichtungszeiten beim Fotografieren, wie man oft hört).




Wie so oft ersetzte also das Wort die Tat. Blieb der Mund verkniffen, so sprachen die Buchstaben auf den Schildern um so lauter. Fast hört man das scheppernde Krachen von Bierhumpen aus Zinn und zischellautloses Gelächter durch schummrig beleuchtete Kopfsteingassen hallen. "Joy to the world!" schallte aus es aus dem Eastend, und "Live!" und "Love! und "Laugh!"




Leider war die Welt damals lange nicht so tolerant wie unsere und erlaubte sich so manchen frechen Scherz. So wurde die Aktion "Live, love, laugh" von herzlosen Fotografen bald parodiert und in noch herzloseren Satirezeitungen verunglimpft. Die Bewerbungsbilder der Agentur Finder wurden mit Affen aus dem Zoo nachgeäfftgestellt und dabei ganz ähnliche Schilder mit bewusst falscher Beschriftung verwendet, um sich in spöttischen Artikeln über die echten Kandidaten und "armen Narren, die öffentlich ihr Glück suchten" (so eine Artikelüberschrift) lustig zu machen. Die viktorianische Zeit war eben auch eine der brutalen Sitten und der großspurigen Überheblichkeit.


 


Samstag, 22. Juli 2023


Wintergeschichten



Hier bei uns im Institut für melancholische Erinnerungskultur werden in der Regel nur historisch zweifelsfrei belegte Dokumente für Forschungsarbeiten genutzt. Ab und an aber lohnt für Vergleichszwecke auch ein Blick auf fiktionale Rückblickswerke. Etwa die Fotoerzählungen von Pablo Ventura. Ursprünglich in einem zum Studio umgebauten Winkel seiner Wohnung entstanden (durfte er oder hat einfach nicht gefragt), erzählen seine Fotoserien mit liebevoll gestalteten Modellbauten und Puppen Geschichten aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Einiges davon ist in dem lesenswerten Interview bei The Literate Lens zu sehen.

Etwa die Serie The Automaton, die mich vor Jahren auf Venturas Werk aufmerksam machte. (Nebenbei: Immer noch bin ich der Meinung, ein ganz ähnliches Werk, bei dem es um ein Miniatur-Fotostudio ging, das am Ende von Nazis aufgesucht wurde, in einem anderen Buch gesehen zu haben. Haber das aber nie wiederfinden können und befürchte mittlerweile eine false memory.) Kleine Dioramen mit Straßenszenen wie aus einem frühen Fellini-Film, die zunächst putzig und pittorek wirken, dann aber eine beunruhigende Erzählung über die Grausamkeiten und den Terror des Krieges einflechten.

Von den Bildwelten recht ähnlich und sehr melancholisch ist die Reihe Winter Stories, die Artisten eines kleinen Zirkus zeigen. (Im Buch gibt es noch traurige Cafés, Schwertschlucker, Feuerspucker und groteske Unfälle, dazu nach Zeichnungen und Gouachen für die einzelnen Szenen. Fellini-Fans werden hier nur den Eisenbieger vermissen.) Alles sehr entzückend und anrührend gestaltet, mit detailreichen Sets und gedämpfter Farbpalette - und als Bücher manchmal für kleines Geld zu erwerben.

>>> Webseite von Paolo Ventura


 


Mittwoch, 19. Juli 2023


Der kleine Kunstausflug


"Würstelinsel". Installation von Hanna Naske. 2023.

Am Wochenende waren landauf, landab Diplomausstellungen, Akademierundgänge, Graduation Shows und wie sie an den Kunsthochschulen so heißen. Ich packte also meinen Zweig, den ich nun als Erkennungszeichen für musikalische Waldklaubereien immer bei mir trage (manchmal ist ein Zweig wie ein guter Freund, knorrig vielleicht, aber verlässlich) und machte mich auf den kleinen Spaziergang am idyllischen Kuhmühlenteich und der hübschen Backsteinkirche St. Gertrud vorbei zur Hamburger HfbK. Dem erschöpften Wanderer winkte gleich im Foyer der Lohn: ein fast waschechter Würstlstand, installiert von der Wiener Künstlerin Hanna Naske. Na, servus!



Kaffee, Kuchen, Barbetrieb, das diesjährige Ambiente setzte auf vielfältige Kost und natürlich auch Kunst. Ein guter Jahrgang mal wieder, wie ich fand. Viel Doppel- und Mehrdeutiges, Anschauliches, weniger Konzept und Kopf, dafür Traum und Besinnung, Verschlüsseltes und Meditatives. So wie die Rauminstallation von Julia Nordholz, der man sich ein wenig hingeben muss. Ein Weißraum/White Cube gefüllt mit Trockeneisnebel und stetig heller werdendem Licht, dazu unwirkliche Klänge wie mit dem Geophon aus der Tiefsee gefischt. Tatsächlich sind es Field Recordings von Gletschereis, seinen Bewegungen und dem Knirschen und Knarzen der Schichten und Platten, dem Schmelzen und Brechen. Ganz toll, weil man hier seine Sinne konditionslos übergeben und sich im dampfenden Eisnebel orientieren muss (oder: besser nicht).



Eindrucksvoll auch die Arbeiten von Termeh Yaghoubi (Teheran) aus dem Artists-in-Residence-Programm: Folkloristisch versponnene, scheinbar naive Grafiken mit dunklen Untertönen. Und für Mutige bot die Installation von Joana Owona Gelegenheit, sich nicht unbedingt die Decke auf den Kopf fallen zu lassen, aber unter gewichtigen Steinen mit mindestens so gewichtigen, eingemeißelten Begriffen ("Weary", "Clarity") ein paar Schritte zu wagen. (Hielt alles fest.)



Ich werde für so was häufig gescholten: die private Wunderkammer mit soliden Fundstücken von der Straße. Rostige Nägel, obskure Werkzeuge, Skizzen und Papiere - Clara Bolotas Conjuring Shelfdesk schien mir magischer Altar und wissenschaftlicher Labortisch zugleich. (Schöner Account auf Instagram auch.) Interessant auch die Arbeiten von Wilhelm Meister, dessen "Lehr- und Wanderjahre" ihn zu (für mich verschlüsselten) technischen Zeichnungen und Konstruktionen gebracht haben. Ich hielt es zunächst für den Schaltplan von ChatGPT, lauter Nodes und kleine Formeln, wie in "Entwurf einer polarisierten Welt, 18" [Hier]. Ich hab's mir ganz kühn erklären lassen, und dann dem Meister meine Version präsentiert - ich weiß aber nicht mehr, wer am Ende recht hatte.


Blumen &Waschbecken I. 2023

Zur weiteren und heiteren Erbauung natürlich immer die fortlaufende Serie Blumen & Waschbecken. Zeugnisse der "night before" (Beatles), Gruß und Vergänglichkeit, Dekoration und Schaustehlung, oft üppig und barock.


Blumen &Waschbecken II. 2023

Manchmal auch einfach ganz schlicht - als Statementblume und Ligne claire im White-Cube-Ambiente. Ein schönes Treppauf-Treppab war's, gut für Herz, Beine und Kreislauf und langes Leben. Zur Stärkung ein Würstchen (leider habe ich vergessen, die Karte an der Würstelinsel zu dokumentieren. Marmeladinger-Witze über "Eitriges" fallen also (fast) aus).


 


Donnerstag, 13. Juli 2023


Schließ die letzte Tür



Als ich im *hust* letzten Jahrhundert begann, mich intensiver mit Fotografie zu beschäftigen, war einer meiner großen Vorbilder der US-Amerikaner Ralph Gibson [Webseite]. Seine formal strenge, zugleich poetische, teils surreale Bildsprache, oft in überraschenden Juxtapositionen oder traum-logischen Fragmenten und Ausrissen, erschien mir ein reizvolles Spannungsfeld für eigene Experimente. Außerdem stammte das berühmte Innencover von Joy Divisions Album Unknown Pleasures von ihm.

In den 90er-Jahren ging sein Stern in der öffentlichen Aufmerksamkeit etwas unter, das waren grelle, schrille Zeiten vollgestopft mit cross-geposteter Farbknallfotografie, flashigem Aufhellgeblitze und wilder Partyekstase. Es schließ sich aber alles in Zirkeln, und so ist es schön, dass die Hamburger Deichtorhallen eine mittelgroße Retrospektive wenn auch etwas versteckt im hinteren Bereich der Halle für moderne Kunst zeigen.

Es gibt also einen Querschnitt durch die berühmten Zyklen (bei Gibson als Fotobücher - wir reden über eine Zeit, als das Fotobuch gleich einer größeren musikalischen Komposition, etwa einer Symphonie, mit einer gewissen Gravitas daherkamen. Weil auch: teuer in der Produktion und im Preis). Darunter die berühmte "schwarze" Trilogie The Somnambulist, Déja-vu und Days at Sea, eng beschnittene, zugespitzte, nie zufällige, teils aber konstruierte "Postkarten" unbestimmter Traumreisen und Straßenfunde. Gibson (ein Schüler Dorothea Langes und Robert Franks) ist da heute noch vorbildlich. Wer den bekannten Spruch "Ist das Foto schlecht, warst du nicht nahe genug dran" nicht glaubt, kann in seinem Werk studieren, wie banalste Alltagsgegenstände in hart konstrastierende Licht- und Schattenfelder platziert plötzlich die interessantesten Geschichten erzählen. Das gilt auch für seine Akte, von denen viele zeitlos, einige wenige vielleicht doch ein bisschen geschmäcklerisch sind.



Die Präsentation der Bilder schwankt zwischen erzählerischen Reihungen, "St. Petersburg" hin zu Kachelung. Bei letzterer Anordnung tanzen zwei aus der Reihe. Das ist so gewollt, denn bei allem, was ich oben erzählte, fehlt eins: der Bruch, der Spalt, durch den bekanntlich (Cohen) das Licht fällt. Die Tür, von der man nicht weiß, ob sie sich öffnet oder schließt.

>>> "Ralph Gibson - Secret of Light". Hamburg Deichtorhallen. Noch bis zum 20. August 2023.

Flanieren | von kid37 um 17:33h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 10. Juli 2023


The Lighthouse of Darkness (Trailer)

Künstliche Intelligenz und Generatoren für dieses und jenes sind derzeit in aller Munde und derart generierte Bilder auch überall im Netz und in den sozialen Netzwerken zu sehen (ich bin da noch skeptisch: Ist das noch real?). Jetzt habe ich mich aber doch einmal eine Stunde hingesetzt und mit einer Maschine beschäftigt, die Filme auf künstliche Weise herstellt. Das war insofern passend, als es in meinem Beispiel darum geht, wie ein Wissenschaftler künstliches Leben erzeugt. Das kann man nun metaclever finden, dieses Thema auch durch eine künstliche Instanz usw.

Nun bin ich durch Forschungsausgaben und Schicksal nicht begütert genug für sogenannte professionelle Zugänge und muss mich mit Gratis-Accounts begnügen. Aber das etwas hingeschlunzte Ergebnis zeigt doch, was in zwei, drei Jahren vielleicht schon auf der Kinoleinwand (oder jedenfalls auf dem Big-Flatscreen) zu sehen sein wird. Der "Trailer" zum fiktiven Kinoereignis The Lighthouse of Darkness zeigt eine mitreißende Geschichte, die an meine eigene Biografie angelehnt ist. Kinotauglich leicht überhöht, aber im Grunde stimmt das schon so. Mein Leben ist jetzt nichts, über das ich groß nachdenke, aber den Film würde ich mir anschauen!

Die Maschine, die ich dazu benutzt habe, erzeugt (sehr) kurze Filmsequenzen, die ich in einem Videoschnittprogramm zusammenmontiert und mit zusammengeklimperter, käsiger Musik und ein paar Sounds unterlegt habe. Bei den Titeln merkt man, wo ich geschludert habe. Da gibt es sicher besser geeignete Schrifttypen und bessere Entscheidungen über weitere Stilfragen, Schreibweisen, Animationen und Effekte.

Grundsätzlich sehe ich da aber bereits einen Markt. Ich verfilme ihr Leben! Kinoreife Biografien mit einem Fingerschnippen erstellt! Sicher hat nicht jeder so interessant gelebt wie ich, aber das kann man durch Übertreibung und Fiktion leicht aufpeppen. Das erste Auto kleiner, der letzte SUV viel größer als im wahren Leben. Die Kinder schlauer, das Haus mit Pool und Garten. Dazwischen: Mantel-und-Degen-Abenteuer, Verfolgungsjagden, Femme fatales und wilde Piraten, aufreibende Boxkämpfe und waghalsige Rettungstaten! Jedermann sein eigener Walter Mitty! (Frauen natürlich auch.)

Die Zukunft ist eine Lüge, aber das war die Erinnerung ja auch schon.


 


Freitag, 7. Juli 2023


Vorherbst



Heute ist der 7. Juli 2023 und damit der Tag, an dem sich erste herbstliche Klänge in den Sommer mischen. Eingeweihte werden sich gegenseitig verschwörerisch einen kleinen trockenen Zweig zeigen. Viel mehr ist nicht zu sagen. Das hat damit zu tun, dass heute nach einer Pause von sieben Jahren PJ Harvey neues und zehntes Album I Inside The Old Year Dying erscheint. Auf dem Cover ist ein solcher Zweig abgebildet, und die ersten 50 Käufer erhalten einen von Polly Jean selbst aus den Wäldern gesammeltes Exemplar als Dreingabe dazu. Gut, das habe ich mir jetzt ausgedacht. Dies aber geübt, denn in meinem Leben gilt, wenn es schöne Geschichten geben soll, muss ich sie schon selbst erfinden.

Ich besitze also diesen Zweig, nicht aber Ms Harveys Album, da ich heute den Weg zum Schallplattenfachverkäufer meines Vertrauens nicht gefunden habe. (Das Wetter zeigt noch so gar nichts von der erwarteten Vorherbstlichkeit.) Die Firma Youtube half mir aber derweil aus der Patsche und bietet einige Stücke zum Vorhören an, etwas den zum knorrigen Baum anwachsenden leisen Kracher A Noiseless Noise. Die Texte greifen nach ihrem Gedichtepos Orlam (2022) erneut den Dialekt ihrer Heimat Dorset auf, sind also nicht immer gleich auf Anhieb zu knacken. Aber das macht nichts. Ähnlich wie beim (etwas unterschätzten) Klassiker White Chalk, hören wir ein introspektives, zurückgenommenes Album mit beinahe zärtlichen Naturbeobachtungen oder Meleotronechoes unbestimmter Klänge und Klagen. Das wird wieder die irritieren, die ihre Rezensionen mit "in den 90ern war die mal ein Rrrriot-Grrrl" beginnen und lautstark geschwenkte Fahnen und klare Bekenntnisse erwarten. This artist, freilich, has lange left the building. Zum Glück. Wer heute Antworten hat, kann nicht ganz klar sein.

>>> Geräusch des Tages: PJ Harvey, Lwonesome Tonight (Einzige Reminiszenz an Elvis, das war ein bekannter Sänger in den USA, die ich gelten lasse.)

Radau | von kid37 um 19:22h | 5 mal Zuspruch | Kondolieren | Link