Freitag, 30. Juni 2023
Wenn ich abends im oberen Zimmer des Leuchtturm sitze, vielleicht entspannt das Besteck mit Wiener Kalk poliere, während draußen leichter Regen auf das nur grob umbördelte Zinkdach tropft... kurz, also wenn es gemütlich wird, entlasse ich einen Gedanken in die Nacht, der dort sofort in einer Wolke von Hunderten von Fledermäusen explodiert, die hochfrequente Botschaften in die Welt hinaustragen. Wiiiii wiiiii, schwirrt es durch die Luft, aber ihr könnt das natürlich nicht hören, weil eure diskothekenverstumpften Ohren die hohen Töne nicht erkennen können. Und vielleicht ist das auch gut so.
Bleiben wir bei den Tieren. Wer sich für tiere interessiert und vielleicht auch obendrein noch für Fotografie, kann eine Entdeckung machen. Die Seite Muybridges Horses (eine Anspielung natürlich auf Eadweard Muybridge und seine frühen Aufnahmen von bewegten Körpern, darunter auch die von Pferden) ist eine von der Fotokünstlerin Emma Kisiel wundervoll kuratierte Sammlung von Fotograf:innen, die sich aus allen Perspektiven unseren nahen Verwandten genähert haben. Von A bis Z geordnet verbergen sich hinter den Links überraschende und oft berührende Fotografien (und gelegentlich Malerei), die weit über das hinausgehen, was man gewöhnlich an reinen Ablichtungen sieht. Und ja, es handelt sich um künstlerische Fotografie, und ja, manche dieser Tiere sind auch tot. Selten aber drastisch inszeniert, erwartet also keine Schlachthofszenen, eher behutsam oder auch nur nüchtern, manchmal anklagend, manchmal würdigend wie etwa bei den Sammlungen von Tierpräparaten in Museen. Meist aber stehen die Tiere rum, hängen in der Luft, erkunden die Zwischenräume zwischen Stadt- und Naturlandschaft, schauen nachdenklich oder einfach nur hungrig oder auch müde.
Seit Januar 2023 wird die seit 2009 gepflegte Seite leider nicht mehr erweitert. Aber auch so ist der Katalog beachtlich - wie ein Museumsbesuch, den man nicht an einem Tag schafft.
Im Morgengrauen haben sich die Fledermäuse in schwarze Amseln verwandelt, die lautstark und in hörbaren Frequenzen dann vom Tag singen. Bis ich sie erstmal wieder zu einem unwirschen Gedankenball zusammengeknüllt habe.
>>> Webseite Muybridge Horses
Sonntag, 25. Juni 2023
Aufnahme aus der Sammlung des naturkundlichen Museums. Wohl nicht für wissenschafltiche, sondern für werbliche Zwecke gedacht - man achte auf die "neckische" Positionierung des Käferbeins über den Rand des Passepartouts
Im Zeitalter des Viktorianismus, wir sprechen also über das 19. Jahrhundert, hatten die meisten ein exzentrisches Hobby für wenn sie um fünf von der Arbeit nach Hause kamen und sich ein wenig im Salon die Zeit vertreiben wollen. Es war die Zeit des Kolonialismus, dem Drang, die Welt neu zu kartieren und zu unterwerfen. Eine Zeit der technischen Entwicklungen, aber auch Entdeckungen in Natur und Medizin, Kunst und Psyche, die ganz Europa unter Dampf setzte. Vieles ist heute wieder halb oder ganz vergessen, aber eifrige Flohmarktgänger oder Dachbodenstöberer wie ich, können in staubigen Kisten immer wieder einmal ein obskures Erinnerungstück finden. So wie dieses Fotoalbum mit größtenteils vergilbten und beschädigten Aufnahmen "von früher" (Auskunft des Verkäufers).
Der Leiter der naturkundlichen Abteilung Wilhelm Wilhelm von Ehrendorff mit einem Pflanzenpräparat
Ein zu seiner Zeit bekannter Naturforscher war Wilhelm Wilhelm von Ehrendorff (einmal benannt nach seinem Großvater und einmal nach dem deutschen Kaiser, seine Enkel nannten ihn später humorig "WilhelmZwo"), der Ende des 19. Jahrunderts im Fuhlrott-Museum in Wuppertal eine naturkundliche und insbesondere entomologische Abteilung betreute und Exponate aus aller Welt zusammensammelte. Dabei machte er auch selbst Entdeckungen im Bereich Taxonomie der Insektenkunde, ihm zu Ehren wurde der oben abgebildete Brasilianische Glattkäfer lateinisch Borrus Ehrendorffus benannt.
Brasilianischer Glattkäfer (Borrus Ehrendorffus), eines der Glanzstücke des Museums. (Beschädigtes Exemplar o. Kopf)
Mit einem Stab von Mitarbeitern führte er die naturkundliche Abteilung um die Jahrhundertwende zu einigem Ruhm (heute ist das Museum leider von der Stadt Wuppertal zerstört) und hinterließ eine beachtliche Sammlung an aufwendig präparierten und extrem seltenen Schaustücken.
August Angström, aus Schweden stammender ehemaliger Lehrer, der als Präparator am Museum arbeitete neben einem unbekannten, im Krieg verschollenen Ausstellungstück
Dr. Egbert von Bratzenheim mit einem sogenannten Riesenkäfer (Brachialus maximus)
Dr. Nikolas Markwerth, Entdecker der westafrikanischen Riesenkohlfliege (Mus Cauli deforma)
Der pädagogische Leiter Dr. Fritz Beckern-Beckenburg neben einigen Schaupräparaten für "die Erbauung der Jugend"
Der seltene Ringelmoll, eines der wenigen - und heute ebenfalls verschollenen - Präparate des nachtaktiven Fraßwurms (entfernt mit den Schnecken verwandt)
So weit so gut, die Geschichte kennt in Wuppertal sicherlich jedes Schulkind. Nun wäre das 19. Jahrhundert nicht das exzentrische Jahrhundert, wenn es aus dieser Zeit nicht, wie man damals sagte, einen kleinen Schmunzler zu berichten gäbe. So groß war nämlich das Interesse an Forschung und Wissenschaft, sicherlich aber auch an Exotik und "Glamuhr" (damalige Schreibweise im Bergischen), dass sich nicht an und für sich brave Damen des aufgeschlossenen Bürgertums bereit erklärten, für einen kleinen Spendenkalender und Festgabe zur Weihnachtszeit mit ausgewählten Präparaten des Museums Porträt zu sitzen:
Namentlich nicht erwähnte Damen aus dem Bürgertum, die mit einem Kalender Spendengelder für das Museum einwerben wollten
Lose beigelegt war dem Album ein Foto aus dieser Reihe, das es mit einiger Sicherheit nicht in den Kalender geschafft haben dürfte. Es ist selbst für vikorianische Verhältnisse, insbesondere aber die im protestantisch geprägten Wuppertal, auffällig obskur.
Unbekannte mit einem nicht identifizierbaren Präparat. Möglicherweise ein Elefantenrüssel unklarer Herkunft.
Dienstag, 20. Juni 2023
Drinnen wie draußen ist es bereits wieder ungemütlich warm, die Stadt ein feindlicher Ort, man möchte woanders sitzen, gut durchlüftet und einen Kaffee vor sich. Das letzte Mal, dass ich in einer fremden Stadt im Urlaub gemütlich irgendwo auf einem Balkon saß und einen Kaffee trank ist schon Jahre her, ich weiß gar nicht mehr genau wo das war, auf der Rückseite vom Foto steht nichts.
Im Jahr darauf sollte ich im Juni, also Mitten im Sommer, eine neue Stelle antreten, dann aber hörte ich nie wieder etwas von denen, ich denke mal, das hat sich erledigt, das war 2020. Dann war auch schon Corona und Lockdown und Reisebeschränkungen, und dann war Krieg. Ich wurde darüber ein wenig müde, zunächst im Kopf, jetzt schon im Fußbereich und schon kann man sich kaum daran erinnern, was dieses Konzept "Urlaub" eigentlich ist.
Einmal war ich Schlösser besichtigen. Drinnen war es kühl, das war angenehm, und zugleich war draußen nicht viel los. Man wandert dann so rum über knarrende Parkettböden, nickt mit dem Kopf, sagt "Hm hm", stellt sich Fragen (innerlich) wie "Wo hatten die wohl früher ihren Fernseher stehen?" und tritt mit einem guten Gefühl (innerlich) zurück in die gleißende Sonne (äußerlich), weil man etwas gelernt hat. An der Loire (das ist französische Mosel) kann man mit dem Rad am Flußfernradwanderweg entlangfahren und alle 30 bis 40 Kilometer ein Schloss besichtigen, denn Frankreich hat ganz viele. Das fände ich gut, zum Abkühlen in ein Schlossgewölbe, dabei etwas lernen (welcher Ludwig hier wann "schmachten" musste etwa) und abends Erbsen mit Pürree (in Frankreich sicher mit ganz vielen komplizierten Akzentzeichen auf den "e"s) oder was man da halt so isst. Und am nächsten Tag weitere launige 30 bis Kilometer am Fluss entlang. Das klingt doch wunderbar und gut durchlüftend.
Aber dann muss man da ja erst einmal hin! Wenn man auf der Landkarte schaut, führt der Weg nach links unten erst einmal durch Problematika, einer kleinen Provinz am Rande von Dabrauchtmanbestimmteinautofür und gleich neben Wennduhierdenzugverpasst. Dann muss ja noch meine Staffelei und das Stativ für die Großbildkamera aufs Rad, dazu das Spulentonband für das Field Recording und was man halt so braucht zur Dokumentation der Reise. Bestimmungsbücher! Ganz viele Bestimmungsbücher. Was fliegt denn da? und Was blüht denn da? und Welche Blase ist das hier am Fuß? und dann das alles auf Französisch, weil das spricht man dann da (Wörterbuch nicht vergessen!). Das ist, einmal zusammengerechnet, ganz schön viel.
Früher als junger Mensch war das einfach: Wechselunterwäsche, ein zweites T-Shirt, ein sauberes Taschentuch, Brustbeutel, Interrail-Pass und ab... Unterwegs was geliehen, was Altes und was Blaues, dem Salzgeruch in der Nase nach bis zum Strand, und so war es, und es war gut. Im Alter macht man komplizierte Explosionszeichungen, wo alle Zahnräder exakt ineinandergreifen müssen, denn sonst drohen Tod, Demütigung oder nicht reservierte Essenszeiten. Ein Drama auf kleinsten Bühnen!
Donnerstag, 15. Juni 2023
Neulich, ich kam gerade vom Twerken, musste ich so dieses und jenes im Kopf herumrollen lassen wie eine Eisenkugel (hier ein bedeutsames Video). In jedem Eisen steckt eine Botschaft, so die Botschaft, und die gilt es zu erzählen. Man sieht, im Twin Peaks-Universum bin ich die Log Lady, nur halt ohne Holzscheit.
In meinem nur leicht melancholischem Debütroman Ich zahlte und ging herrschte eine ähnliche Stimmung. Dabei knirschten von Nächten ohne Beißschiene abgemalmte Zähne, waren Nagelhäute aufgerissen und Pläne schlecht durchdacht. So musste ich diese Woche erkennen, dass mein Smartphone, kaum sechs Jahre alt und bis auf den abgewetzten Großbuchstaben des Herstellernamens tiptop, technisch dieses und jenes nicht beherrscht. Für ein Sondenexperiment im Biopharmalabor würde ich aber gerne einen RFID-Chip ansteuern, und daran denkt man ja vorher auch nicht.
Jetzt muss also das gute Stück, kaum ins schulpflichtige Alter gekommen, ausgemustert werden und das hat mit Nachhaltigkeit natürlich gar nichts zu tun. Andererseits sind die Drumherumgewirklösungen auch nicht befriedigend, und dann dachte ich gedanklich, nimm es als Botschaft aus dem Orakel-Tempel "Augen zu und durch" (im Original auf Latein) und geh' den nächsten Schritt! Im Elektronikgroßfachmarkt (Glücksplanet Jupiter leuchtete mir von hinten) dann mit anderen grauhaarigen, kritisch murmelnden Herren Telefone beguckt, kurz überlegt, Himmel oder Hölle?, dann bei der Marke des Vorgängers geblieben und ein Angebot gewählt. Zackzack. Um einen Berater zu erwischen, darf man allerdings nicht höflich sein. Im Gegenteil: Man muss ihn bedrängen, von hinten in den Schwitzkasten nehmen, nicht erst mal seine Arbeit vollenden lassen, selbst, wenn er bis zu den Schultern mit dem Kopf in seinem Containerschrank steckt. So jedenfalls machen das die anderen, bereits gut geübten Kunden, die folglich alle vor mir drankamen, auch wenn sie erst später auf diesem blutig gepflügten Schlachtfeld des Warenkonsums gestrandet waren.
Irgendwann zwinkerten wir uns aber zu, er im zerrissenen blauen Hemd mit heruntergefetzten Ärmeln, ich ein wenig wacklig vom langen Warten aber noch artikuliert und auf dem Punkt ("Haben Sie noch, nehm ich dann, Ladegerät und USB-Kabel brauche ich nicht"). Prahlte noch mit meinem immensem "Kabelbaum" daheim, ahnte aber schon, dass ich so ein modernes Kabel (heißt heute ja nur noch "Ladekabel") dann doch nicht habe, wenn es das vor - sagen wir - 1950 nicht gab.
Solche Gedanken hatte ich, Hege und Pflege, und zu Hause, siehe da, sitzt die Pointe und sagt: "So ein Kabel kennen wir nicht. Das war nie in Paris." Nun war bereits der ganze Kauf und Anschaffungszwang so von Missmut durchtränkt, dass ich eh schon einen Hass pflege auf dieses Gerät, das im versiegelten Karton (vielleicht gebe ich es einfach zurück) gerne bis nächste Woche warten darf, wenn dann nicht nur ich geladen bin, sondern auch der Akku.
So war das, und wenn Die Sterne einst sangen "Von allen Gedanken schätze ich am meisten die interessanten", dann war das jetzt natürlich deutlich unterwältigend, denn ihr Konsumgeübten kauft ja alle drei Monate ein neues Telefon - oder wie Michael Holm einst sang "Cupertino, Cupertino - ich fahre jeden Tag nach Cupertino".
Donnerstag, 1. Juni 2023
Die frühen 80er-Jahre waren so exzentrisch, dass selbst ich fast exzentrisch geworden wäre dabei. Blitze schrill, Frisuren schräg, und alles elektrisch nervös. Um das alles auch durchdenken zu können, gab es in Hamburg die Buch Handlung Welt, die ich aber nicht kannte, weil ich da ja noch woanders wohnte. Hilka Nordhausens Laden in der Marktstraße aber war wohl Treffpunkt für Dichter & Denker (so flüstern mir Hamburger, die davon noch gehört haben). Da sich das jetzt zum 40. Mal jährt, gab es im April und Mai Rundgänge und Visitationen, Lesungen, Zusammensitzungen und eine Ausstellung.
Im Kunsthaus Hamburg konnte man das alles noch einmal nacherleben. Bis Ende Mai wurde hier die Ausstellung Exzentrische 80er: Tabea Blumenschein, Hilka Nordhausen und Rabe perplexum gezeigt, eine wilde Wiese aus Gemälden, Fotos, Videos, Zeug und zahlreichen Zeitungsausschnitten, Briefen und Dokumenten. Der Versuch einer Rekonstruktion. Mich interessierte vor allem Tabea Blumenschein, denn die war damals auch in meinen 80ern präsent. Zunächst in den Filmen von Ulrike Ottinger, die mit ihr avantgardistische Werke wie Madame X, Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse und vor allem Bildnis einer Trinkerin machte und die damals sogar ab und an versteckt im Fernsehen liefen oder regelmäßig in den Programmkinos der Stadt. Blumenschein malte, schneiderte, besorgte die Bühne und war dann einige Jahre und anders als ich Mitglied der Kunstkapelle Die tödliche Doris.
Ein Berliner Leben zwischen Schrill und Schrull, Hochglanz und Obdachlosenheim, Theater, Kunst und Klanggewirke. Toll, leider auch schon tot. Blumenschein starb 2020. (Hilka Nordhausen und Performancekünstler:in Rabe perplexum bereits 1993 bzw. 1996.) Schön bunt und eindrucksvoll, man muss dem Kunsthaus danken.
"Exzentrische 80er: Tabea Blumenschein, Hilka Nordhausen und Rabe perplexum". Kunsthaus Hamburg, 25.3. bis 21.5.2023
Samstag, 20. Mai 2023
Andrey Klassen, "Ich wäre gerne bei deiner Premiere dabeigewesen".
Ich bin ja begriffstutzig. Also, ich brauche meine Zeit, so heißt das wohl. Vor Jahren stand ich mal begeistert in Düsseldorf vor einer Eckkneipe, die hieß "Jupp + Pitter", und freute mich sehr über die sehr rheinischen Namen. Wenn man ewig und lange in Hamburg lebt, geraten ja sowohl "Jupp" als auch "Pitter" aus dem gebrauchsfertigen Alltag. Nun war das aber gar nicht der Witz, denn die Kneipe lag im sogenannten Planetenviertel und bezog sich augenzwinkernd auf den großen Gasriesen in unserem Sonnensystem. Da ist meine Gedankenrakete aber sprotzelnd ins Stocken geraten. Vielleicht liegt es auch an der hohen Rotationsgeschwindgkeit des Jupiter, das ich da nicht ganz mitkomme. Als das Karstadt-Sportkaufhaus in der Hamburger Innenstadt den Geschäftsbetrieb aufgab, wurde das Gebäude als "Artstadt" mit Kunst und Kultur weitergeführt. Ein Name, der den gut eingeführten ursprünglichen mitschwingen ließ, keine schlechte Idee. Nun heißt es seit 2023 "Jupiter", was ich zunächst galaktisch, aber auch wahllos hielt. Bis ich, eine Geschichte von der Banalität des Alltags, heute davorstand, hinblickte und herblickte und dann, es ist wirklich keine besondere Pointe, mehrere Groschen fallen hörte, denn gegenüber vom Jupiter befindet sich das große Elektronikkaufhaus "Saturn". Ich erzähle das auch nur, damit ihr das "Jupiter" findet, nicht etwa der Unterhaltung wegen. Also Richtung "Saturn", wie auf der Sternenkarte, aber dann gegenüber.
Die Etagen werden ganz unterschiedlich bespielt, da gibt es Cargo-Kunst und Treibholzmalereien, Rostskulpturen und allerlei Hafenmalerei, eine Etage zum Rollschuhlaufen am Wochenende, eine Rooftop-Bar, Gaming und Workshops und natürlich Kunst. Derzeit zeigen Hamburger Galerien ausgewählte Künstler in der ersten Etage. Auch Feinkunst Krüger ist vertreten und zeigt teils großformatige Tuschemalereien von Andrey Klassen. Versponnene Welten, mit popkulturellen Zitaten und allerlei Fabelwesen bestückt, mit nur angedeuteten Geschichten zwischen losem Amüsement und unterschwellig Verstörendem. Noch bis zum 31. Mai.
>>> Jupiter
Sonntag, 14. Mai 2023
Experimentierfreudige viktorianische Dame mit ihrem Drachen bei einem Gewitter
Der Versuch, Blitze mit Hilfe von Flug- und Lenkdrachen einzufangen und ihre elektrische Natur zu bestimmen, geht auf Benjamin Franklins berühmten Vorschlag eines „Drachenexperiments“ zurück. 1752 führte der Franzose Thomas-François Dalibard auf einem Feld im nordfranzösischen Marly-la-Ville einen solchen Versuch mit Hilfe von metallischen Stäben durch. Bei einem ähnlichen Versuch wurde der deutsche Physiker Georg Wilhelm Richmann 1753 in St. Petersburg von einem Blitz erschlagen. Wir lernen daraus: Bitte nicht nachmachen!
Viktorianische Damen bei verschiedenen Blitzabenteuern. Neben Drachen waren auch feste Stangen genügender Länge sehr populär
Diese Warnung kümmerte allerdings nicht die generell allerlei Exzentrizitäten gegenüber aufgeschlossenen Viktorianer im 19. Jahrhundert. Es war die Zeit, als Elektrizität fassbar wurde und in den großen Städten nach und nach das Licht in die Häuser brachte. In dieser an Eigentümlichkeiten nicht armen Zeit entstand so ein weiteres eigentümliches Hobby. Insbesondere die vom Alltagsleben gelangweilten Damen des aufstrebendes Bürgertums waren fasziniert davon, heimlich (oder auch ganz offen) im eigenen Garten oder großen Parks „einen Drachen steigen zu lassen“ (wie es verschwörerisch hieß und später auch in anderen restriktiven Systemen wie der DDR als Begriff geläufig wurde), angetrieben meist von dem Wunsch, ein gewisses „Kribbeln“ zu spüren, von dem allseits, aber stets unter der Hand berichtet wurde.
Manches unglückliche Fräulein auf freiem Feld wurde auch direkt vom Blitz getroffen
Insbesondere in gewittrigen Nächten schlichen sich hoch- aber zugleich aufgeschlossene Frauen aus dem meist gutbürgerlichen Haus, den Drachen und eine lange aufgewickelte Schnur unter dem Arm oder in einer großen Tasche verborgen und versuchten, aus dunklen Wolken heraus, einen leuchtenden Blitz auf ihren Drachen herab- und über die vom Regen feuchte Halteschnur in dann ungefährlichem Maße auf sich hinunte zu lenken. Manch eine Dame allerdings bezahlte das kribbelnde Vergnügen mit dem Leben. Auf den Hügeln und freien Feldern sanken immer wieder welche von ihnen vom Blitz getroffen zu Boden, manche erschöpft, weil ihnen das Prickeln zu stark wurde, andere schlicht erschlagen, wiederum andere standen in hellen Flammen, Drachen und Leine lange noch in der Hand, und starben eines jämmerlichen Todes.
Das ungewöhnliche Hobby ist bis heute gefährlich. Einige Damen fingen regelrecht Flammen
Bald kam es zum Verbot dieses außergewöhnlichen Hobbys, was interessierte Männer aber nicht daran hinderte, die Idee weiterzudenken und etwa mit Hilfe von elektrischen Leinen, Fische in Teichen und Seen zu angeln.