Montag, 28. November 2022
Wohl jeder hat diesen einen nervigen Onkel oder diese eine nervige Tante in der Familie, die mit qualvoller Regelmäßigkeit verrauchte Geburtstagsfeiern und festliche Tischgesellschaften partout mit "lustigen" Zoten oder endlosen Diaschauen voller sog. "Oh-la-la"-Bildchen unterhalten wollen.
Großtante Eustachia machte sich gerne einen Jux mit ihrem dritten Bein, das sie Jahre zuvor bei einer mexikanischen Lotterie gewonnen hatte. Lässig überschlug sie ihre drei Beine, verzog dabei keine Miene und ergötzte sich an den verblüfften Bemerkungen der Umstehenden. "Auf drei Beinen kannst du geht stehen!" gröhlte dann meist ein angeschwipster Onkel vom anderen Ende des Tisches herüber. "Kann-kann-kannst du auch Can-Can? Und heißt das dann Can-Can-Can?" kicherte die Tante selbstergriffen von ihrem vermeintlich gewitzten Aperçu, der zur Sache aber nichts weiter beitrug und nahm noch schnell einen Schukc vom Pfefferminlikör. Großtante Eulalia schaute gedankenschwer und rauchte ungerührt, also stabil, weiter, blickte dabei melancholisch auf ihre drei Schuhe, die manchmal zusammenpassten, häufig aber auch nicht. Sie war ja gezwungen, immer zwei Paare zu kaufen und nicht immer waren auch identische verfügbar.
Ihr drittes Bein war nicht immer eine Hilfe, oft ein Hingucker, manchmal aber auch eine Last. Menschen starrten ihr auf der Straße nach, Kinder flüchteten erschrocken zu ihren Müttern, Männer hingen Gedanken nach, pöbeliges Pack gröhlte was von "Oh, ein flotter Dreier" und krachten sich die Hände gegenseitig auf den Rücken. Ein dreifacher Spießrutenlauf für die arme Tante! Da es hieß, das dritte Bein sei ein Tombolagewinn aus ihrer Zeit in Lateinamerika, rätselten wir Kinder immer, wie es wohl befestigt sei und warum Tante Eustachia es denn nie abnahm, wenn es doch oft wohl auch hinderlich war. Aber so wie manche mit ihrem Schnurrbart verwachsen waren, den sie als Markenzeichen für sich erachteten, oder einem bestimmten Hemd, das sie so oder ähnlich immer trugen, so war auch Tantes Bein längst ein Teil von ihr geworden. Und warum auch nicht? Wenn sie ihre Beine geschickt im Dreieck aufstellte, blies kein Wind sie um.
Mittwoch, 23. November 2022
Luisa-Edeltraut von Brockendorff mit Issus coleoptratus edeltrauta
Da ich bei der KI-Bildmaschine Stable Diffusion noch in den Anfängen, also bei der alten Glasplattenfotografie bin, dachte ich, ich könne da auch gleich noch einmal Seiten aus unserem alten Familienalbum zeigen. Wenige wissen um meine Urgroßtante Luisa-Edeltraut von Brockendorff, die ihr "von" durch eine Heirat mit einem gewissen Hugo von B. erwarb, der aber kurz nach der Hochzeit in einem Krieg blieb, wie es hieß. Als junge Witwe wandte sich Luisa-Edeltraut der Tierkunde zu und erwarb sich durch Eifer und Beharrlichkeit ein beeindruckendes Wissen aus dem Haus der Entomologie. Auch wenn der gut gepflegte Hochmut der akademischen Welt schon damals prägend und behindernd war, insbesondere Frauen oder Unstudierten gegenüber, so wurden im 19. Jahrhundert doch all überall beachtliche Forschungen und Entdeckungen von Amateuren geleistet. Gerade oft belächelte "Volks-Entomologen" mit ihrer eigenen, unbefangen Art der Wissenschaftsbetrachtung, konnten immer wieder beachtliche, wenngleich meist heiß disputierte Erkenntnisse beisteuern.
Luisa-Edeltraut von Brockendorff mit ihrer zahmen Mottus bathynomus giganteus
Luisa-Edeltraut arbeitete im Archiv des naturkundlichen Museums irgendeiner Stadt und wurde in Expertenkreisen bald für ihre ungewöhnlichen Funde von Insekten beachtlicher Größe bekannt. Diese brachte sie von geheimnisvollen Reisen mit, für die ihr eigentlich die Mittel fehlten (Hugo ließ nichts außer seinem Hochzeitsanzug zurück), von denen sie aber mit erstaunlichen Präparaten zurückkehrte, die die ehrenwerte Gesellschaft der Wissenschaft und Künste entzückten. Bald trug sie wohl, wie eine zittrige Bildunterschrift im Fotoalbum verrät, den Beinamen "Insektenfrau". Ein von ihr entdeckter und erstmals beschriebener Riesenkäfer wurde gar nach ihr benannt: Issus coleoptratus edeltrauta.
Luisa-Edeltraut von Brockendorff mit Callitropa mergeoptera (nicht ausgewachsen)
Anerkennung und Nachruhm allerdings blieben ihr versagt. Wie es der akademische Nachwuchs und Mittelbau auch heute noch kennt, wurden zahlreiche ihrer Entdeckungen sog. honorablen Herren zugeschrieben, ihr Beitrag zur zoologischen Wissenschaft durch auf hoher Nase getragenem Pince-nez übersehen. Sie mied wohl die Menschen und suchte die Nähe ihrer taxidermischen Präparate, verzeichnete akribisch Käferflügel und Fliegenbeine in staubigen Verzeichnissen und Journalen und starb am Ende einsam und verbittert. So jedenfalls geht die Saga, denn von einer neuen Liebe steht im Familienalbum nichts.
Mittwoch, 16. November 2022
Selbstporträt des Autors als alter Mann
Weil mir für einen längeren Betrieb von MidJourney derzeit das Geld fehlt, spiele ich ein wenig mit der Gratisversion von Stable Diffusion herum, einem weiteren der vielen KI-Bildgeneratoren im Netz, mit dem derzeit ein Gutteil der Weltbevölkerung wertvolle Arbeitszeit verschwendet.
Man muss die Maschine ein wenig trainieren oder vielmehr sich selber, sie scheint mir ein wenig dümmer als MidJourney zu sein, sie vergisst bei längeren Texteingaben (den "Prompts") schon mal das ein oder andere Detail. So malt sie brav die wohl überlegt aufgeführten Gegenstände, verschlampt aber genau so unbelehrbar wie wahllos in der Liste ebenfalls erwähnte. Nun mag ein erratisches Element eine Illusion wecken von Kunst oder Kreativität, aber niemand würde so reden, handelte es sich um eine Einkaufsliste. Wo ist die Butter? Vergessen, kein Essen, da gibt es kein Pardon.
Gleichzeitig ist Stable Diffusion so gut, wäre man eine Gothic Band in den 80er-Jahren, man könnte an nur einem Nachmittag gleich hunderte von wundervollen Plattencovern produzieren (aber immer noch keine Note). Wie MidJourney hat die Maschine Probleme mit Gesichtern und insbesondere Augen. Die Hintergründe sind mir unklar, zumal dies bei dezidierten Porträts bereits deutlich besser gelingt. Wer aber Bilder im Grenzbereich zwischen Joel-Peter Witkin, Francis Bacon und NINs berühmten Video zum Song "Closer" (Regie: Mark Romanek) sucht, hat schnell einen ganzen Katalog beisammen, für den früher die Illustratoren, Fotografen und Designer von, sagen wir, 23 Envelope, den Hausgestaltern vom Label 4AD, vielleicht zwei Wochen brauchten.
Diese Musikerinnen gibt es nicht. Aber ich würde ihre Platten kaufen.
Schön ist das nicht. Also die Entwicklung. Zum Glück stellt sich nach hundert bis zweihundert erzeugter Bilder ein gewisses hohles Gefühl ein, so als habe man zuviel Zuckerwatte gegessen Die immer wieder auftauchenden Copyright-Vermerke (etwa "Getty Images") erinnern zudem daran, woher die Selbstlernmaschine ihren Korpus hat - da wurde das Netz gecrawlt und nach Kriterien indiziert, die im Dunkel bleiben. Das ein oder andere Mal tauchten auch nach Neu-Generierung die gleichen Bilder auf, was den Verdacht nährt, dass Stable Diffusion doch eine Art Datenbank führt und nicht etwa immer wieder neu und "selbst" kreiert. Am besten gelingt letzteres, wenn die KI Tentakel oder Wurzeln oder ähnlich simple organische Formen malen soll. Ein weiterer Verdacht: Hier sind die Fraktal-Algorithmen der Mandelbrot-Strukturen verbaut, mit denen man in den 80ern die ersten PCs wochenlang beschäftigen konnte. Eine haarige Kurve um die nächste gelegt, endlose Fibonacci-Reihen aus eine Unzahl von Grafikprozessoren. Und ich vermute, auch ähnlich energieverschwenderisch wie das Schürfen nach Bitcoins.
Bitte lasst eure Gedanken nicht unbeaufsichtigt. Sie winden sich in alle Richtungen.
Donnerstag, 10. November 2022
Neulich gab es ein bißchen was zu feiern, wenn auch nicht zu wild, man muß sich das heutzutage auch bei milden Temperaturen gut einteilen. Denn nur Tage danach kroch gleich schon wieder nässende Herbstkälte durch die Ritzen, es wird ungemütlich unter den Dächern von Hamburg. Die Blume am Fenster nahm es gleich krumm, machte auf Jahresendzeit und rollte die Blätter ein. Ich selbst holte schweigend für die Abende die Wärmflasche aus ihrem Sommerquartier.
Muß jetzt leider ein Auto kaufen, um statt Wackeldackel meinen brandneuen Wackelhummer auf der Hutablage platzieren zu können. Ein Hummer für den Hummer vielleicht. Gleich fiel mir wieder die herzzerreißende Anekdote ein, wie ich eines Tages nach Hamburg zog mit einer Freundin, die einen riesigen Hummer besaß, der auf der Hutablage ihres nicht so riesigen Autos lag. Das fand ich damals toll - ein Auto mit Hummer, so als wäre es eine fahrende Reuse aus einem Staat in New England.
Als mein zerbeulter Koffer gepackt, der Wintermantel mit dem großen Loch in der linken Tasche bereit war und die Reise in den Norden beginnen sollte, schlug mir ein Geständnis fast den filzigen Hut vom Kopf: Der Hummer sei verschenkt worden, er brauche viel Platz und das Leben beginne nun neu. Ich spare die Geschichte von heimlich vergossenen Tränen und vielen stummen Warum?s und kann nun sagen, Zeiten und Dinge ändern sich. Ich bin nun älter, der Hummer ist kleiner, aber manches kommt eben wieder, Kummer und Hummer schwimmen oben, manche Lücke wird gefüllt und mancher Schmerz gestillt.
Manch Multimilliardär aus dem Silicon Valley hätte es da prinzipiell leichter. Er (oder sie) könnte sich eine Hummerfarm kaufen, durch einen kommunikativen Fehler (so meine Vermutung, die meisten Missverständnisse und auch Blutfehden beginnen so) wurde es jüngst aber für einen dieser Multitechnmogule ein Vogelkäfig, in den für 44 Milliarden US-Dollar ein Waschbecken eingebaut wurde. Auch das hätte ich günstiger gemacht und sicher auch schöner, denn wenn ich eines kann im Leben, dann ist es eine Silikonfuge mit dem Spüli-Finger glatt abzuziehen.
Zur Freude des neuen Besitzers hätte ich noch einen Wackelhummer auf der Mischbatterie platziert. Einen Lobster namens Elon.
>>> Geräusch des Tages: The B-52's, Rock Lobster
Mittwoch, 26. Oktober 2022
Der Herbst ist da, gegenüber werden die Pappeln gefällt, die partout ihr Laub nicht abwerfen wollten. Die Jahreszeiten sollen eingehalten werden, auch wenn hier bei 19 Grad die Sonne scheint. Während die Stadt überlegt, in welchen Betontopf sie Ersatzgrün pflanzen wird, habe ich mir hübsches Herbstlaub auf den Tisch gelegt.
PJ Harvey hat die inwärts gekehrte Zeit der Pandemie und der Lockdowns genutzt, einen Nachfolger für ihren 2015 erschienen Gedichtband The Hollow of the Hand zu schreiben. Orlam heißt die Verserzählung über die Kindheit der neunjährigen Ira-Abel Rawles, die in einem dicht von Fabel und Folklore durchwobenen Dorset und einem Ort mit dem sprechenden Namen Underwhelem aufwächst. Harvey, die selbst in der Gegend wohnt, hat das Buch zweisprachig angelegt und der englischen Übertragung dem Original im Dialekt ihrer Heimat Seiten für Seite gegenübergestellt. Sollte es je ins Deutsche übersetzt werden, wünsche ich bereits jetzt viel Spaß. Zudem ist das Original auch sekundiert von zahlreichen Fußnoten, wo sich jedem deutschen Verleger ("Ein Index? Für was einen Index?") die Nackenhaare sträuben werden.
Eingekleidet zwischen magischem Realismus und fantastischer Erzählung taumelt Iras Entwicklungsgeschichte durch eine oft finstere Traumwelt aus bösen Nachbarn, undurchschaubren Tieren, sexuellen Bedrohungen und einschüchternen Erkenntnissen. Manche Passagen erinneren an die Klagelieder der Polly Jean oder die verhallten Trauergeschichten auf ihrem inneren, weithin unterschätzen Heimatalbum White Chalk. Manche kurz geknittelten Verse erinnern auch an Edward Gorey oder derbe Limericks, so etwa "Sloven'y Versey" aus dem Kapitel "October": "as I were stomping Gorey Lane/methinks I smelt some kippers/I asked the sloven what it was/she said it were her knickers".
Da Harvey seit je her ein starkes Interesse an Kleidung und Mode hat (ihre letzte Tour wurde samt Band komplett von Ann Demeulemeester eingekleidet, woran sich manch andere Kapelle mal ein Beispiel nehmen könnte), trägt sie auf ihrer aktuellen Lesetour ein liebevoll gestaltetes Kleid von Todd Lynn, das von der Londoner Royal School of Needlework mit Blumen- und Insektenmotiven aus Dorset bestickt wurde.
Ich selbst bin jetzt eigentlich im zünftigen Alter für eine Bustour durch Dorset und weiter zur Rosamunde-Pilcher-Küste (die wir meist aus Südafrika, wo viel gedreht wurde, kennen). Über Bristol dann zurück. Allein, ich bin bekanntlich zu unbeholfen für solche Ausflüge und muss dann halt Geschichten lesen. Orlam zum Beispiel.
PJ Harvey. Orlam. London: Picador, 2022.
Montag, 17. Oktober 2022
Das Netz des Fischers: eine Antenne für krumme Signale
Nach meiner wilden Zeit in einer Punkband an der Uni namens The Dental Fricatives (Albumtitel "ThThTh") spielte ich noch ein paar Jahre bei Rauhes Haus (Albumtitel "Hau es raus!"). Danach habe ich es musikalisch ruhiger angehen lassen. "Mit dem 4/4-Vierteltakt bin ich fertig!" (wäre auch ein hübscher Song-Titel), skandiere ich öfter angeregt über einem Glas Wein oder Apfelessig oder was sie einem im Sommer so verkaufen. Wie in der Kunst, in der Literatur und im Film interesiert mich in der Musik mehr und mehr die Störung. (Wäre auch ein super Bandname. Die Störung.)
Während ihr da draußen auf sozialen Medien herumlungert und Zeit verschwendet, habe ich unterdessen eine spezielle Antenne gebaut, um Medien anzuzapfen, die unerkannt ums uns herumlungern. Der geheimnisvolle Äther und Frequenzen, die als "krumme Wellen" bekannt sind und Botschaften transportieren, die zugleich freigeistig, aber auch gespenstisch sind. Über einem Glas Ektoplasma sinniere ich über statische Entladungen, elektrische Schwingungen, verwispernde Signale, dem verzerrten Gong eines durch Reflektionen in der Ionosphäre verbogenen Radiosenders.
Analog generierte Prüfungen mit unerhörten Botschaften
Als Musiker und Künstler will man sich natürlich einmischen, hineinmixen, störsendern und selber ein "Hallo Welt!" hinauspiepsen. Eine Prüfung generieren für sich und andere. "Hallo, ich bin deine Störung!" telegraphiere ich dann in den Äther, lausche dem Stöhnen der Gespenster und erschauere über die Lumiszenz der Tapetennähte, die im nächtlichen Zimmer unterm Dach (des besseren Empfangs wegen) grünlich schimmern und auf- und abschwellende Muster erkennen lassen. An der Wand siebenundreißig offen verbaute, mit hart aufgehängten Membranen versehene Lautsprecher, die Knistern und Knirschen, Knacksen und Knarzen und frikative Botschaften abstrahlen. Neulich hörte ich, ich bin da sehr sicher, "Kid, es ist noch Kuuuuchen im Kühlschrank", eine klagende Stimme aus dem Jenseits, die sich aber irrte. Es war kein Kuchen mehr da.
Field recording für Gespenster, doch mit dem Sterben der Radiosender auf den längeren Wellen, sterben auch diese. Viele statische Signale sind lokaler Natur, der Wlan-Router, der Handmixer der Nachbarn. Es wird nichts mehr an einen herangetragen. Auf Twitter vielleicht vereinzelte Geister-Bots, die niemand programmiert hat, die sich einst abgespalten haben wie Tumorgewebe eines umfangreicheren Programmcodes und nun in der Lallperiode ihres Spracherwerbs anleitungslos herumirren, Kekse versprechen, die keine sind. Informationsmüllhalden für Dada-Spiritisten der nächsten Generation.
Mittwoch, 5. Oktober 2022
Supermarktjäger und -sammler haben in den letzten Monaten den ein oder anderen Schrecken verspürt. Meist unten am Regal, wo die ehemals kleinen Preise sind, von denen man aber wie bei länger nicht gesehenen Kindern aus der Verwandtschaft sagen musste, "Mensch, seid ihr groß geworden". Dingdong, die Inflation ist da. Manch einer kauft kein Rindersteak mehr, sondern nur noch Pilze, um den Proteinbedarf zu decken. Die nächsten quetschen ihren Kaffee aus selbstgesammelten Eicheln oder Zichoriegewächsen, nicht umsonst "die gemeine Wegwarte" genannt, ihres sperrigen Geschmacks wegen.
Wohl denen, die ihr eigenes Stück Land bewirtschaften, Tomaten und Zucchini ziehen, Bohnen, Erbsen und Kartoffeln. Selbstversorgung statt Supermarkt und ein bisschen Ruhe obendrein klingen toll, die neue Genügsamkeit statt lang geübter Wohlstandsuhlerei lockt immer mal wieder Menschen ins Abenteuer Überleben. Wie dieses Paar auf Vancouver Island in British Columbia, das "off the grid" und losgelöst in ihrer eigenen Wirtschaftszone lebt. Die Tänzerin Catherine und Wayne, ein Holzschnitzer, haben sich in 27 Jahren eine künstliche Insel geschaffen, ein amöbenartiges, Verzeihung, ausuferndes Gebilde mit zahlreichen "Scheinfüßen" auf schwimmenden ehemaligen Trägern einer Fischfarm. Das Ganze ist stabiler als es scheint, aber immer noch regelmäßiger Leiderfahrung ausgesetzt. Die Winter sind hart und die Stürme zerstörerisch.
"We just consider that storm damage as part of our life-style", ist die über die Jahre gewachsene, sehr sympathische Maxime der beiden. Was will man auch machen? Improvisieren und immer weitermachen. Tanzen auf der kleinen Tanzfläche vielleicht, Holz schnitzen im Atelier oder eben Gemüse züchten in den verteilten Gewächshäusern. Seltsamerweise halten sie keine Bienen, die ihnen wertvollen Algenhonig liefern könnten, aber da warten sie sicher nur auf Menschen aus dem Internet, die ihnen das erklären. Erstmals wurde ich in einer kurzen Doku im deutschen Fernsehen auf die beiden aufmerksam. Der kurze Beitrag stammte wohl aus demselben Drehmaterial, enthielt aber auch launige Bekenntnisse wie "Sometimes I just want to throw him overboard" oder "She's got plants everywhere. She's a dancer, she can move here, but I can hardly put my foot". Sieht bei denen wenigstens manchmal also auch nicht anders aus als bei anderen Paaren. (Ich persönlich kenne so etwas nur vom Hörensagen.)
Da ich von Beruf ja Nachahmer bin, habe ich umstandslos über so ein eigenes Inselprojekt nachgedacht. Auf dem Hudson vielleicht, dann könnte man am Wochenende vielleicht mal nach New York City (das ist eine große Stadt in den USA), um eine Ausstellung zu sehen oder ein Konzert zu besuchen oder irgendwo was essen gehen, denn meine Kochkünste sind nicht so groß. Als Deutscher habe ich allerdings das Prinzip "Sicherheitsbedenken" verinnerlicht, kann also nicht einfach loslegen, sondern muss zunächst über Jahre üben und alles durchdenken. Mein Drei-Schritte-Programm lautet daher: erstmal ein Gewächshaus bauen, dann auf dem Kanal vor dem Haus die Schwimmfähigkeit testen, dann erst Fischfarmen abtelefonieren. Ein Gewächshaus habe ich jetzt, das ist sogar recht charmant und wird mir ganzjährig Rosmarin und vertrocknete Sträucher bieten.
Im nächsten Schritt muss ich den Kanal besiedeln. Hier spielt ein Aspekt in meinen Plan, den auch Wayne aus dem Video angesprochen hat. Gärtner kennen ja den Spruch, die Leute sehen nur das Beet und nie den Spaten. Der verlockende Sparplan "Selbstversorgung" wird nämlich mit reichlich Arbeit gefüttert. Auch wenn man Catherine und Wayne abends auf ihrem kleinen Strand in der Sonne sitzen sieht, der Tag bis dahin, war wohl eine ziemliche Plackerei. Ständig muss etwas getan werden, geht etwas kaputt und muss repariert werden, spielt einem das Wetter einen Streich, geht das Geld zur Neige, während das Bilgenwasser steigt. Wayne zitiert seine Mutter, eine Flak-Schützin im zweiten Weltkrieg (wenn ich es richtig in Erinnerung habe), die ihm verriet: "Sunshine, life is hard. And then... it get's harder."
Lummerland macht Arbeit, könnte man sagen. Weshalb die beiden, Zeit für einen Schmunzler hier zum Schluss, auch keinen Platz für Ponys haben.