Herbstlich tönen die Wälder



Der Herbst ist da, gegenüber werden die Pappeln gefällt, die partout ihr Laub nicht abwerfen wollten. Die Jahreszeiten sollen eingehalten werden, auch wenn hier bei 19 Grad die Sonne scheint. Während die Stadt überlegt, in welchen Betontopf sie Ersatzgrün pflanzen wird, habe ich mir hübsches Herbstlaub auf den Tisch gelegt.

PJ Harvey hat die inwärts gekehrte Zeit der Pandemie und der Lockdowns genutzt, einen Nachfolger für ihren 2015 erschienen Gedichtband The Hollow of the Hand zu schreiben. Orlam heißt die Verserzählung über die Kindheit der neunjährigen Ira-Abel Rawles, die in einem dicht von Fabel und Folklore durchwobenen Dorset und einem Ort mit dem sprechenden Namen Underwhelem aufwächst. Harvey, die selbst in der Gegend wohnt, hat das Buch zweisprachig angelegt und der englischen Übertragung dem Original im Dialekt ihrer Heimat Seiten für Seite gegenübergestellt. Sollte es je ins Deutsche übersetzt werden, wünsche ich bereits jetzt viel Spaß. Zudem ist das Original auch sekundiert von zahlreichen Fußnoten, wo sich jedem deutschen Verleger ("Ein Index? Für was einen Index?") die Nackenhaare sträuben werden.

Eingekleidet zwischen magischem Realismus und fantastischer Erzählung taumelt Iras Entwicklungsgeschichte durch eine oft finstere Traumwelt aus bösen Nachbarn, undurchschaubren Tieren, sexuellen Bedrohungen und einschüchternen Erkenntnissen. Manche Passagen erinneren an die Klagelieder der Polly Jean oder die verhallten Trauergeschichten auf ihrem inneren, weithin unterschätzen Heimatalbum White Chalk. Manche kurz geknittelten Verse erinnern auch an Edward Gorey oder derbe Limericks, so etwa "Sloven'y Versey" aus dem Kapitel "October": "as I were stomping Gorey Lane/methinks I smelt some kippers/I asked the sloven what it was/she said it were her knickers".

Da Harvey seit je her ein starkes Interesse an Kleidung und Mode hat (ihre letzte Tour wurde samt Band komplett von Ann Demeulemeester eingekleidet, woran sich manch andere Kapelle mal ein Beispiel nehmen könnte), trägt sie auf ihrer aktuellen Lesetour ein liebevoll gestaltetes Kleid von Todd Lynn, das von der Londoner Royal School of Needlework mit Blumen- und Insektenmotiven aus Dorset bestickt wurde.

Ich selbst bin jetzt eigentlich im zünftigen Alter für eine Bustour durch Dorset und weiter zur Rosamunde-Pilcher-Küste (die wir meist aus Südafrika, wo viel gedreht wurde, kennen). Über Bristol dann zurück. Allein, ich bin bekanntlich zu unbeholfen für solche Ausflüge und muss dann halt Geschichten lesen. Orlam zum Beispiel.

PJ Harvey. Orlam. London: Picador, 2022.

Ex Libris | 16:43h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
frau eff - Donnerstag, 27. Oktober 2022, 11:02
Oh! Das werde ich mal beim Nikolaus bestellen.

Und vielleicht auch die Sticksachen aus dem Nachlass meiner Mutter suchen. Ich stelle mir für mich ein Hemd mit Bibern und Dachsen vor.

 link  
 
kid37 - Donnerstag, 27. Oktober 2022, 14:48
Im November soll eine erweiterte, noch hübscher gestaltete Edition mit Illustrationen von PJ Harvey erscheinen. Weiß allerdings nicht, wie weit oben man dafür im goldenen Buch vom Nikolaus stehen muss.

 link  
 
frau eff - Donnerstag, 27. Oktober 2022, 18:01
Ich tue jeden Tag eine gute Tat. Die für morgen habe ich sogar schon gestern getan.

 link  
 
kid37 - Freitag, 4. November 2022, 13:22
ASMR im Museum
Es raschelt und erzählt - ein kurzes Video vom Victoria & Albert-Museum in London über ein Kostüm von PJ Harvey: Conserving a PJ Harvey costume.

 link  
 
gaga - Freitag, 4. November 2022, 23:39
Zauberhaftes Kleid und Tun.

 link  
 
kid37 - Donnerstag, 10. November 2022, 20:11
Ja. Und alles sehr aufmerksam. Habe schon überlegt, wessen Bühnenkleid hierzulande im Museum für Kunst Gewerbe aufbewahrt werden würde. Bernadette La Hengst?

 link