Montag, 26. April 2021


Scheiße Schauspieler



Die Jugend ist stabil, kein "Untertan", trägt Ringelhemd und sieht aus wie der Sohn, den ich nie hatte. (Hab' auch mal Bass gespielt.) Das kleine, zarte Satirelied über tütenatmende Quertatortschwurbler gibt es übrigens hier auf Bandcamp zum Download. Wird jetzt mein neuer Klingelton, falls Jan mal anruft.

Wem das zu wenig feuilletonisch ist, mag vielleicht lieber den Klassiker von Kreisky: Scheiße Schauspieler. Darin ein kleines, schmunzelndes Wiedersehen mit einem der 53 Komplettdichten. Und achten Sie auf die 37!

Radau | von kid37 um 22:57h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 25. April 2021


Geist


Geist I. Acryl auf Papier. 2021. 1000,- Mark.

Machmal sitze ich abends am offenen Fenster, atme wie ein "Tatort"-Kommissar vorsichtig in eine Plastiktüte, hänge untertänig meinen Gedanken nach und komme zu dem Schluß, daß die wohl zu komplex für viele sind. Das große Unverstandensein - seit Kindertagen. (Wobei ich manchmal höre, man solle sich da nicht so haben, andere Kinder seien auch schon mal unverstanden gewesen sein und haben das schlußendlich als Erwachsene erfahren. Und hat es ihnen geschadet? Eben!)


Geist II. Acryl auf Papier. 2021. 1000,- Mark.

Zum Glück habe ich Geister, die ich mir selbst auf Papier male, mit denen ich reden kann. Anrufen. Hallo, hallo, wie findse? Eine große Séance zur abendlichen Beruhigung. Antworten, manche wirklich komplex, andere satirisch, dann übers Ouija-Board. Ich atme Ektoplasma in die Tüte, ganz wie ein großer Schauspieler. Geisterhaft tanzen schemenhafte Erinnerungen an der Decke, Nostalgie fürs Schmerzgedächtnis. Alles Inzidenzen zur Geisterstunde. "Margret, Margret!" rufe ich. "Kannst du mich hören?" Ein Wispern ertönt, eine merkwürdige Stimme wie aus einer Erzählung von E. A. Poe oder R. L. Stevenson. "Margret, bist du es? Man wird doch mal fragen dürfen!" rufe ich erneut. "Wann wird der Scheiß zu Ende sein?"

Doch alles bleibt still, die Schemen verschwinden, die Bilder verblassen und man sitzt wieder da, ohne Antwort. Wie lange noch?

>>> Geräusch des Tages: Patti Smith, Ghost Dance


 


Freitag, 23. April 2021


Traumtagebuch



Als Somnambulist fühle ich mich von der nächtlichen Ausgangssperre besonders hart betroffen. Wie oft stehe ich nächstens auf dem Dachfirst oder unten im Park, träume weiter auf einer eng begrenzten Stelle fahlen Mondlichts oder bin unversehens erwacht, meilenweit von daheim entfernt, in einer fremden Straße, einer fremden Stadt und fühle mich, als sei ich durch eine naturhistorische Sammlung spaziert, durch eine tiefe See. Bin gewandelt zwischen seltsamen Wesen wie trunken, und dann flasht einem vielleicht eine Polizeimaglite ins Gesicht, wohin, woher, wie ist ihr Name?

Man taumelt so durch den Tag, die Welt immer fremder, verwaschene Erinnerungen an dieses oder jenes oder auch den Alltag, oben und unten, hinten und vorn neu priorisiert, ein morgendliches Hallo zu den Zimmerpflanzen, reime Impfe auf Schimpfe, putze hier ein wenig Staub, schlage dort ein neues Buch auf. Lasse mich hin- und hertreiben wie so eine Tiefseequalle mit langen Tentakeln, dümple von Wellen, Strömungen, Ankündigungen bewegt hierhin und dorthin. Alle Klänge merkwürdig gedämpft, von Rauschen getränkt, hallo, hallo, wohin, woher, wie ist ihr Name.

Bin ein wenig matt.


 


Montag, 19. April 2021


Endlich ans Steuer!


Der Belotti (Foto von Belotti Motors)

Mein Leben habe ich bislang als geübter Beifahrer geführt. Zwar besitze ich einen Führerschein, hatte aber nie den Drang, ein Auto zu besitzen. Ich kann halt Karten lesen und Getränke öffnen, dazu adhoc Routen entwerfen - die Welt aus der Sicht des Nebensitzes ist erlebnisreich genug. Da trifft man auf Fahrer:innen, die ungern geradeausfahren. Sagt man, fahr einfach geradeaus, wird urplötzlich - gerne flott - nach links ab oder rechts abgebogen. Fragt man freundlich interessiert W1ESO?!?, dann ist da ein Schild! gewesen oder ein dachte ich, die selbstredend gut begründete (Schleichweg! das Dorf mit dem lustigen Kirchturm! der Plan war doch!) Geradeausfahrt jedoch beendet. So aber lernt man Flexibilität.

Oder Fahrer:innen, die mit dem Blut Emerson Fittipaldis betankt sind, mit Gaffa-Tape zusammengeflickte Autos fahren, diese aber sehr schnell, vielleicht noch fluchend und schimpfend über andere Mobilisten, so daß man mit den Händen vor den Augen im Sitz kauert, schwitzt, Ave Marias und "Der Herr sei mein Hirte" vorwärts und rückwärts deklamiert sowie edukative Mahnungen und am Ende seinem Herrgott auf Knien dankt. Schicksalsergebenheit verzeiht dabei vieles, man kommt schließlich rum, und das auch noch rasant. So aber lernt man seinen Hut festhalten.

Als Beifahrer jedenfalls fühlte ich mich im Leben oft wie Cary Grant, was auch der Titel meines Debütromans sein könnte. So aber lernt man Gelassenheit.

Jetzt bin ich erstmals interessiert, selbst das Steuer zu ergreifen und ein Auto zu besitzen. Die Schweizer Firma Belotti Motos hat nämlich einen Prototypen vorgestellt, der in Einfachheit und Form faszinierend ist. Retro-nostalgisch, von der Gestaltung zwischen Seifenkiste und Fahrrad, mit ausreichend Platz für Beifahrer und Picknickgepäck. Die (elektrisch erreichte) Höchstgeschwindigkeit liegt bei sicherheitssensiblen 20 km/h, als Hupe erwarte ich eine Blechtröte wie bei der Walton's Family, und die Scheinwerfer werden hoffentlich durch Retromodelle wie am Hollandrad ausgetauscht.

Wenn man überlegt, daß 120 Prozent aller Autofahrten reine kurze Stadtfahrten sind, muß man sich ja eh fragen, wieso nicht alle solche platzsparenden Modelle bewegen statt tonnenschwerer Stadtpanzer. Gemüsekiste, Karton mit sechs Flaschen Wein und ein viel versprechender Kopf Brokkoli passen garantiert hinten auf die Ladefläche. Drei Topfpflanzen und ein Beistelltisch vom Ikea sicher auch. Oder ein Hundetransportkäfig für den Weg zum Tierarzt. Oder eben Schlauchboot und Schlafsack für die Fahrt zum Nordkap. Autofahrer in Hamburg rasten allerdings ganz sicher aus, wenn man damit wie mit zwei Fahrrädern nebeneinander vor ihnen durch die Stadt juckelt. Gute Nerven und gute Gebete braucht es also weiterhin. So lernt man eben das Leben als Fahrer begreifen.

>>> Geräusch des Tages: Motoren-Sound sehr alter Schule


 


Freitag, 16. April 2021


Der zögernde Boxer


Der zögernde Boxer. Kohle auf Papier. 2021. 1000,- Mark

Da ich nicht gut keuchend um den Block joggen kann, muß ich mich im Lockdown auf andere Weise fit halten. Ausstellungen und Museumsbesuche fallen ja auch flach, weshalb ich Kraft meines ungezähmten Talents jeden Tag ein gewaltiges Bild oder wenigstens eine subtile Zeichnung sozusagen aus dem Nichts meiner nebeligen Gedanken schaffe. Den seelischen Tiefen entrissen, der Qual entborgt, aus dem Brunnen des abgründigen Seins gezwungen. Normaler, kreativer Prozeß, im Ergebnis aber exakt 1o00,- Mark wert.

Mit Sportmalerei, wie hier am Beispiel Der zögernde Boxer, kann man insgesamt aber keine Preise mehr gewinnen. Lebte ich in den 20er-Jahren in Berlin, dann würde man meine Werke heute unter UV-gedämpften Licht an internationalen Kunsthandelsbörsen versteigern. So aber muß ich darauf noch 100 Jahre warten. Ein alternder Boxer, der alten Erinnerungen nachhängt, taumelnd im Ring, schwer atmend in den Seilen, das Schringern in den Ohren kein Telefon.

So als angezählter Boxer sollte man mal Urlaub machen. Aber für so was habe ich kein glückliches Händchen. Ich weiß ncht wie oft der ins Wasser fiel, weil buchstäblich im letzten Moment etwas dazwischenkam. Und als ich es endlich gelernt zu haben schien - kam Corona als ganz großes Geschütz. Jetzt habe ich auf Instagram #Audierne abonniert, weil ich da ein-, zweimal im Urlaub war. Da gibt es wenigstens schöne Bilder aus der Bretagne zu sehen. Auch lauter schöne Motive - allein, man kommt ja nicht hin. Allein kommt man nicht hin. Vielleicht bin ich auch zu zögerlich.


 


Mittwoch, 14. April 2021


Merz/Bow #65

Die letzten Tage habe ich mich sehr gut mit der BBC-Serie "Detectorists" unterhalten gefühlt. Zwei schnuffelige Verlierertypen in England suchen in ihrer freien Zeit mit Metallsonden bewaffnet nach Schätzen und finden zumeist Knöpfe und Dosenringe, philosophieren dabei über ihr leicht leerlaufendes Leben, falsche Entscheidungen, den Traum vom großen Schatzfund und erwehren sich ihrer Sondelclub-Kollegen freundlicher und feindlicher Natur. Arte, der Sender unseres Vertrauens, zeigte alle drei Staffeln (die Folgen sind möglicherweise noch in der Mediathek). Keine ganz große - Achtung! - Ausgrabung, man merkt wie das Skript in Staffel zwei ein wenig schwächelt, aber sehr charmant mit vielen skurrilen Nebenfiguren und unter anderem Tobey Jones besetzt. Den kennt man als Truman Capote in Infamous und vielleicht auch aus Berberian Sound Studio. Und natürlich einem Dutzend anderer Filme. Diana "Emma Peel" Rigg spielt dort eine ihrer letzten Rollen. So charmant ist das alles.

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Trailer

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Seither sind meine Suchergebnisse gepflastert mit der offenbar berühmten (ich kannte sie nicht) Ausgrabungsstätte Sutton Hoo in Suffolk. 1939 fand ein englischer Archäologe dort ein angelsächsisches Schiffsgrab, in Detectorists wird darauf angespielt. (Der Stoff wurde gerade mit Ralph Fiennes verfilmt.) Sondeln bringt also was, ist aber leider auch in Deutschland streng reglementiert. Sonst wäre es die perfekte Freizeitbeschäftigung in Pandemiezeiten. Allein im Wald mit ein paar Ersatzbatterien und einer Metallsonde, man kann verlorene Hufeisen finden oder eine verrostete Liebe, abgerissene Uniformknöpfe und verlorende Thermosflaschen. Aber eben auch historisch bedeutsame Schiffsgräber, weshalb die Reglementierung sinnvoll ist.

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In einer Stadt am Fluß oder an der Meeresküste kann man auch "Mudlarking" betreiben. Was bei anderen Leuten die Katzen ranschleppen, machen nämlich auch Ebbe und Flut. Zeug, Krempel, Knochen, Weltkriegsgranaten, fette Beute. Die Britin Nicola White ist Schlickforscherin an der Themse und zieht immer wieder hochinteressante Dinge aus dem Schlamm und zeigt sie auf Youtube. Goldgräberstimmung am Uferrandgebiet, aber bitte immer die Flut im Auge behalten.

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Hab in einem schönen Urlaub in der Bretagne, man darf ja mal nostalgisch werden, fast einen Schuh verloren, weil ich bummelig und barfuß auf einem großen Stein am Ufer saß und meine Schuhe auf einem kleineren daneben und die dann von einer Minute auf die andere an mir vorbeischwammen, weil hopplahopp die Flut auflief. Seither beziehe ich immer nur Wohnungen unterm Dach, denn zweimal passiert mir das nicht.

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Ich habe selbst viele falsche Entscheidungen getroffen. Aber eben auch ein paar richtige.

MerzBow | von kid37 um 03:20h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 9. April 2021


Auch von vorne schön



Das an Überraschungen und Exzentrik nicht armen 19. Jahrhundert hat durch allerlei technische Erfindungen beschwingt auch den Buchmarkt umgekrempelt. Der Massenmarkt florierte, Romane erschienen als Serials in Zeitungen (Dickens), billige Drucktechniken ermöglichten schönen Schund wie Police News Illustrated und Genres wie die Penny Dreadfuls. Pulp hier, Gestaltungswille da: Das Buch drängte in die Haushalte und brauchte dazu zuvorderst eine hübsche Verpackung.



Der Lesehunger nämlich war immens, und die Maschinen druckten massenhaft Erschwingliches für jedes Haus. Heraus kamen Bücher für alle Interessensgebiete (hab alle relevanten Interessengebiete hier zusammensortiert). Wenn man sich die Cover heute anschaut, war eines schöner als das andere. Also nostalgischer als das andere, muß man wohl sagen. Grafische Experimente, Collagen, neue Schrifttypen, bald auch farbige Varianten - es war eine Zeit des Buch- und Magazinfrühlings, und das Feld ist weit gesteckt. Die Public Domain Review hat hier einen kleinen Überblick mit vielen interessanten Beispielen, Robert Stephen Parry hat dem schönen Schein einen ausführlichen Blogbeitrag gewidmet.