Dienstag, 12. Januar 2021


Ballade vom braven Mann

In meinem Debütpolitroman Die Ballade vom braven Mann erzähle ich die Geschichte eines älteren, alleinlebenden Mannes, den Nachbarn als "stets freundlich und unauffällig" beschrieben, der aber eines Tages beschloß, sich gegen das System aufzulehnen und sein Glück in eigene Hände zu nehmen. Auf den Tag folgte die Nacht, und in der brach er, nur mit einem Schraubenzieher, eisernem Willen und einem mathematischen Plan ausgerüstet, in eine Lottobude ein, fuhr den Rechner hoch und hackte sich in das Buchungssystem ein. Zunächst stellte er die Systemuhr auf eine normale Öffnungszeit um, dann buchte er in langer Vorbereitungszeit vorab ausgefüllte Lottoscheine mit variierender Superzahl ein. 14 Millionen Stück.


Symbolbild Strand

Erwartungsgemäß, ich will nicht zuviel verraten, war darunter ein sog. "Hauptgewinn" (und mehrere kleinere), die er ordnungsgemäß bei der Lottogesellschaft deklarierte, den Millionenbetrag nach ausführlicher Sicherheitsbelehrung und Ausgabe mehrerer Fondssparprospekte seiner Bank vom Konto abhob und mit einer prall gefüllten Reisetasche nach Wuppertal fuhr. Ich weiß, daß jetzt einige von der Handelskammer approbierte Witzbolde wie von einer Zwangskrankheit befallen auf Loriot verweisen werden. Jedoch hatte der Held des Romans, der durchaus autobiografische Züge trägt, Verwandtschaft in der kleinen Metropole des Bergischen Landes.

Er traf sich dort auch mit dem ein oder anderen Anhang in einem nicht besonders besonderem Café, erklärte stets freundlich und großzügig, "laß mal, ich zahl schon" und ging dann zurück zum fußgängerunfreundlichen Bahnhof, wuchtete die Tasche über Treppen und Treppen und dann weitere Treppen zum anderen Gleis, dachte jedoch nicht im Traum daran, Stadt oder Bahn ein paar Mark für eine Rolltreppe dazulassen. Briefkästen waren alle abgebaut. Statt in die große Stadt zurück fuhr der Zug, in den er stieg, direkt durch (ist ein fiktionaler Roman) in ein kleines Dorf an der südfranzösischen Küste, wo er in jungen Jahren mal eine ebenso junge Frau geküsst hatte, die Proust las, der er aber nicht intellektuell genug gewesen war.

Er nahm sich eine kleine Wohnung mit Blick aufs Meer, grüßte stets freundlich die Nachbarn, sagte "Merci" und "Au revoir", kaufte am Nachmittag von der Mittagssonne bereits etwas welk gewordenes Gemüse und öffnete sich dazu abends eine Dose Sardinen, füllte einmal in der Woche einen Totoschein für die erste französische Liga aus und lebte ansonsten ein unauffälliges Leben ganz wie früher in seiner alten Heimat.


 


Sonntag, 10. Januar 2021


Dry Cleaning

Jetzt, da ich ein wenig Heimfreizeit habe, fand ich auch Zeit, mir ein paar neue Musker anzuhören. Darunter die sympathisch pragmatisch benannten Dry Cleaning aus Südlondon, die jung sind und Krach machen, dabei aber angenehm unaufgeregt sind. Sachlich, mit einem gewissen britisch-distanzierten sneer vorgetragene Texte aus aufgeschnappten Fetzen aus dem Alltag, Gequatsche im Bus, absurde Werbeschlagzeilen, dahinter treibt eine dichtgeklöpppelte Band wie ein stampfender Royal-Mail-Zug, der wichtige Postpunk-Briefe bringt. Alles ohne Firlefanz wie hier im Knaller Magic Of Meghan. (Der Songtitel beflügelt das Gerücht, daß tatsächlich Prinz Harry an den Drums sitzt. Aber das ist ein Fall für die X-Akten.)

Bislang gibt es zwei EPs, die hierzulande aber schwer erhältlich sind. Die Band ist 2020 bei 4AD untergeschlüpft, Adresse für gute Musik seit den 80ern. Die Tour für dieses Jahr wurde allerdings gerade aufgrund der aktuellen Situation verschoben. Hm. Bis dahin muß ich so mitsummen. Und Alltagstexte sammeln.



>>> Geräusch des Tages: Dry Cleaning, "Scratchcard Lanyard"

Radau | von kid37 um 18:39h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 8. Januar 2021


Sofareisen



Wenn mir noch einmal jemand naseweis erzählt, man solle Salz erst ins Nudelwasser kippen, wenn es bereits kocht, weil Süßwasser ja schneller heiß werde als Salzwasser UND DAS SEI PHYSIK, kriege ich Aortaklopfen. Denn das ist natürlich erstmal nur brav nachgeplappert (liebevoll gemeint). Natürlich ist das "Physik", so wie unter dem Einfluß der Gravitationskräfte auch Lichtstrahlen verbiegen. Ist auch "Physik". Aber welche Bedeutung hat dies denn für das reale Alltagsleben? Die unterschiedliche Erwärmung von Salzwasser und Süßwasser ist relevant für große Gewässer, bei einem gebräuchlichen Topf mit einem Liter Wasser kann man das vernachlässigen. Der Unterschied, Christian Stöcker hat dies mal in seiner langjährigen Kolumne "Stimmt's?" für Die Zeit im Labor nachmessen lassen, beträgt nicht einmal eine Sekunde. Warum man es trotzdem macht? Weil Salz im kalten Wasser zu Boden sinkt und dort mit dem Metall eine Reaktion eingehen kann. Der berüchtigte Mikrofraß, den niemand in seinen schönen Töpfen haben möchte. Im heißen Wasser hingegen löst sich das Salz sofort auf und wird verdünnt. Gute Chemie halt, so wie sie auch unter Menschen herrschen sollte. (Ich komme ja zum Glück mit allen gut aus.)



Solche Unterschiede zwischen gelahrter Theorie aus dem Lexikon der populären Irrtümer und anderer Party-Pooper und praktischer Alltagsrelevanz lernt man am Besten durch persönliche Nahbetrachtung. Forschungsreisen in die Moselei, Sterngucken durchs selbstgebastelte Teleskop, Käferbetrachtung in schattigen Wäldern, Ausgrabungen in Nachbars Garten... man muß einfach nur raus, und Augen und Ohren offenhalten. Ralph Waldo Emerson hat dazu alles gesagt, der denkende Mensch muss raus in die Natur, der Bücherwurm bleibt daheim.



Aber auch Emerson sah ein, daß es "idle times" gebe, oder wie wir heute sagen: Lockdown, in denen das vorgekaute Wissen aus Büchern doch interessant sein kann. Sofa statt Pendeln und dann in einer Art innerer Forschungsreise gemütlich schauen, welche Expeditionen es früher so gab. Für kleines Geld gibt es dafür den hübschen Bildband Kosmos großer Entdecker: Leben, Skizzen und Notizen, darin kurzgefaßt die Biografien und Reisen bekannter Forscher und Entdecker wie von Humboldt, Linné, Livingstone, Amundsen, Bruce Chatwin, Howard Carter, aber auch einiger Frauen wie Amelia Edwards, Vivian Fuchs, Marianne North, die - im 19. Jahrhundert zumeist - ferne Länder, steile Berge und weite Meere erkundeten, dabei auch mal das ein oder andere fein gesalzene Süppchen am Lagerfeuer oder im Iglu warm machten und mit Glück statt Besserwisserei oft faszinierende Erkenntnisse nach Hause brachten.



Hauptaugenmerk liegt dabei wie im Untertitel vermerkt auf den Skizzen und Notizen. Wir sehen Fotos der originalen, meist im Feldeinsatz und nicht im Caféhaus abgewetzten Journale und Notizbücher, Abbildungen von oft liebevoll kolorierten Skizzen und Karikaturen über aufregende Nilreisen, exotische Tier- und Pflanzenwelten und beeindruckende Landschaften. Manche eher ungelenk (so wie sie bei mir wären), viele aber doch sehr ansehnlich. Tolle Schmökerei für Sofawintertage und Ansporn für die Zeit nach der Pandemie.

(Huw Lewis-Jones, Kari Herbert. Kosmos grosser Entdecker: Leben, Skizzen und Notizen. München: Sieveking Verlag, 2016.)


 


Freitag, 1. Januar 2021


2021



Seit das Bleigießen verboten ist, weiß man gar nicht mehr, in welchen symbolischen oder auch buchstäblichen Hühnereingeweiden man stochern soll, um einen Blick in das vorausliegende, blank geputzte Jahr zu werfen. Wie bei vielen Dingen im Leben ist die Neugier ja zunächst meist groß, ehe am Ende, 2020 hat das gezeigt, oft nur Überdruß bleibt. Auf Twitter könnte man 2020 einfach entfolgen, im Leben braucht es dazu einen lauten Knall. Mein kleines Polyesterrandgebiet in einer vergessenen Ecke im schönen Hamburg zeigte sich zum Glück stabil und feuerte tapfer ein paar Restraketen in den Himmel, dem beknackten und tückischen Altjahr ordentlich eins heimzublasen. Fickt euch, Corona-Spikes, ab diesem Jahr wird impftechnisch zurückgepiekst.

Leider fehlte dieses Jahr aufgrund des Böllerbanns der regelmäßige Fachartikel "So gelingen ihnen die schönsten Bilder vom Feuerwerk", so daß ich ganz unbeholfen wie Old Shatterhand altmannzittrig die explodierenden Lichterbälle am Himmel fotografieren mußte. Sind ja schon schöne Girlanden. Heute morgen in der Dunkelkammer dann aber die seltsame Entdeckung. Was am Abend dem menschlichen Auge als runde Feuerblüte vorgegaukelt wurde, entpuppt sich nun vom objektiven Auge der Kamera festgehalten als ganz etwas anderes.

Eine Schrift wurde hier am Himmel hinterlassen. Haben sich die Außerirdischen in unseren lange währenden Virenkrieg eingemischt? Haben sie eine Botschaft hinterlassen? Den halben Morgen grübelte ich über dem Menetekel, bemühte die Google-Bildersuche, las die krakeligen Runen von links nach rechts, rechts nach links, oben, unten, als Gesamtes. Ich glaube wohl, eine Wahrheit liegt (vielleicht seit den 90ern schon) irgendwo da draußen. Noten für einen intergalaktischen Hit? Ein genetischer Code? Ein Hinweis auf ein Heilmittel? Glück, Geld, große Liebe oder alles auf einmal?

Als düsterer Optimist hoffe ich von 2021 nur das Beste. Rücksicht auf geplagte Seelen, Nachsicht mit den Siechenden, Vorsicht beim Überbringen neuer Nachrichten. Bis dahin heißt es, den wilden Glückskaninchen zu folgen und den bösen Geistern ordentlich eins draufzugeben. Frohes neues Jahr!

>>> Geräusch des Tages: Ladytron, Ghosts


 


Dienstag, 29. Dezember 2020


Predicting the Past



Mein schönstes Geschenk für die dunkel vernebelte Weihnachtszeit hatte ich stark rabattiert, aber mit ebenso starker Skepsis gekauft. Der Händler meldete vorsichtshalber, nichts über die Lieferzeit zu wissen. Aber siehe, was pünktlich am 24.12. durch den Schornstein in meinen Weihnachtsstrumpf meine Packstation rutschte: Stephen Berkmans Predicting the Past - Zohar Studios: The Lost Years. Das Buch ist ein Fest, ein fantastischer viktorianischer Maskenball. Eingebettet in die Herausgeberfiktion einer "gefundenen alten Truhe mit Zeug" und "von einem Lehrer aus der Bekanntschaft nach besten Wissen und Gewissen aus dem Jiddischen übersetzt" dokumentiert der Band die Geschichte eines Fotostudios in der New Yorker Lower Eastside im 19. Jahrhundert (Übersiedlung aus dem Schtedl, Eröffnung des Studios, Porträtarbeiten, Verlieren der Spur). Eine ausführliche Betrachtung mit zahlreichen Fotos gibt es hier bei UPTV nachzulesen.

Wunderbar aufgemacht mit großformatigen, vorbildlich auf eine (!) Seite (und nicht etwa mit Knickkante über eine Doppelseite) aufgezogenen Bildern, hat hier der Fotograf Stephen Berkman sein über zehn Jahre entwickeltes Projekt vorgelegt. Mit Kollodium-Nassplatte und Großformatkamera schuf er die skurrilen Bilder zur detailliert erfundenen Geschichte des Studios und dem Leben der jüdischen Einwanderer. Dabei nähert er sich dieser Welt aus zwei Perspektiven. Zum einen greift Berkman naheliegende Sujets des 19. Jahrhunderts mit stoischer Ernsthaftigkeit auf, verfremdet sie und setzt dabei auf unser Erstaunen und Unwissen über Alltagsgebräuche und kulturelle Rituale dieser Zeit.

So wird aus dem beliebten Sideshow-Schauder der zusammengewachsenen Zwillinge bei Berkman/Zohar ein Brüderpaar, das absurderweise an den Schnurrbärten zusammengewachsen ist. Das surreal wirkende Titelbild geht auf wiederum auf die tatsächliche, aber wenig bekannte Tradition der Banner Ladies zurück, eine der wenigen erlaubten Tätigkeiten für Frauen, die als lebende Werbetafeln über Gehstege flanierten und dabei Kleider und Hüte trugen, die mit den Insignien der beworbenen Geschäfte und Betriebe dekoriert waren. (Es gibt davon eine Vielzahl von heute skurril anmutenden Fotos im Netz, uns erhalten ist der gute alte Studentenjob als kostümiertes Maskottchen bei Werbeaktionen.)



Diese humoristische Methode des "Es hätte so sein können" findet aber auch aus unserer zeitgenössischen Perspektive eine Verwendung. "Predicting the past" eben, ein Austausch im Verlauf der Zeitachse, die auch für die Zukunft Erkenntnisse bringt. Diese Art der vorausdeutenden Rückbetrachtung ist ja auch eines der Schlüsselmotive in der von mir sehr geschätzten TV-Serie Murdoch Mysteries, die um 1900 spielt und die Erfindungen dieser Zeit (wahre wie den Phonographen, aber auch bloß mögliche, schier irrwitzig ersponnene oder jedenfalls anachronistische) in einen augenzwinkernden Bezug zu unserer Zeit setzt (etwa die vom Detective entwickelte automatische Rollfilmkamera zur Überwachung, bei der fabuliert wird, es ließe sich eine Zeit vorstellen, in denen man solche Kameras zur Verbrechensaufklärung "in der ganzen Stadt" haben wird).




Auch das Zohar-Studio hat solche Erfindungen. Eine hölzerne Überwachungskamera mit der für diese Zwecke völlig aberwitzigen Technik einer Camera obscura oder etwa die Erfindung einer Einweg-Kamera aus Pappe mit der gleichen Technik. Das Was-wäre-wenn-Illusionstheater ist im hinteren Teil des Buches abgerundet durch kulturhistorische Erläuterungen (Texte u.a.: Lawrence Weschler), die Hintergründe zur Geschichte des Studios und detaillierter auch zu jedem einzelnen Bild liefern. Auch hier (ich habe noch nicht alles gelesen) verläuft eine feine Linie zwischen tatsächlichen historischen Gegebenheiten und mit unbekümmerter, para-wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit und (fabrizierten) Dokumenten vorgetragenem Ausgedachten. Für zur unbedingten Authentizität verpflichteten Blogger wie mich natürlich ein hartes Brot und Tobak, den man erstmal schlucken muß.

>>> Rezension bei Lenscratch

(Stephen Berkman. Predicting the Past. Zohar Studios: The Lost Years. Los Angeles, Hat and Beard, 2020.)


 


Donnerstag, 24. Dezember 2020


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Weihnachtsbaum Modell "Mutter Maria" mit Doppelspitze,
verstecktem Seegurkententakelwesen und Krippe
mit Christkid und Fuchs


17 Jahre Das hermetische Café sind es heute, 20 fehlen also noch. Vieles gibt es zu sagen über dieses verrückte Jahr, das mir menschlich und beruflich (und beruflich-menschlich) einiges gezeigt hat und insgesamt allen ein Lehrstück über Zusammenhalt und Rücksichtnahme, aber auch über den Mangel war. Klopapier und eben auch Zusammenhalt und Rücksichtnahme. Ein Sorgenkind unter den Jahren, ich hoffe, 2021 strengt sich da ordentlich an.

Angeblich beginnt nun aber wirklich das Wassermann-Zeitalter mit verschrobenen ungewöhnlichen Ideen, sozialem Engagement und fluffigen Abwechslungen. Vielleicht tanzen wir alle nackt (ich dann nicht, ich schaue nur zu).

Frohe Weihnachten allen. Haltet Abstand.


 


Samstag, 19. Dezember 2020


Plastic Passion

Wenn ich einen Werkstoff nicht leiden kann, also nachgerade verachte sogar, ist es Kunststoff. Entweder sind Gebilde daraus schmiegsam, aber voller Weichmacher, oder aber hart und spröde wie das Herz eines alten Bloggers. Ist Kunststoff transparent, wird er bald opak und schlierig wie die Gemüseschublade eines traurigen Kühlschranks. Hat er eine Farbe, gerät die bald außer Mode. Nein, Kunststoff ist der Feind, Plastik sogar ein Mörder, vor allem, wenn es in mikroskopisch kleine Stückchen zerschreddert ist und in Fisch- und Vogelmägen wandert.

Bakelit muß man aus dieser Gruppe ausnehmen. Ein meist wohlgeformter, nun klassisch gewordener thermoplastischer Werkstoff von angenehmen Gewicht und für Lichtschalter, Radiogeräte und Lampen eine gute Wahl. Gleiches gilt für Melamin, das hier im Haus neben Glasschalen den profanen Tuppertopf ersetzt. Überhaupt Ersatz: Seit Jahren predige ich: Plastik raus, Ersatz rein.



So hatte ich die letzten Tage auch keine Finger frei zum Bloggen, sondern war damit beschäftigt, einen wahren Haßgegenstand aus dem Haushalt zu entsorgen. Das sogenannte Jewel Case. Die Älteren erinnern sich. Bei DVDs mache ich das schon länger, wenn sie nicht in hübsche Boxen oder angenehme Packs aus Pappe stecken. Weg mit den klumperten Kunststoffboxen, rein mit den Scheiben in dafür vorgesehene Papierumschläge und alles in Sammelschuber. Spart Platz und Schrott. Jetzt waren die CDs dran, die sich bislang über mehrere große Schubladen verteilten. So wie andere in dieser Jahreszeit mit einer Schale auf den Knien abends vor dem Fernseher sitzen und Nüsse knacken, saß ich nun da und knackte Jewel-Cases. Die heißen edel so, sind aber meist im Laufe der Zeit verkratzt, angelaufen und blind geworden wie billiges Talmi.

Also weg damit! Krack, Knack, Krick gingen die Geräusche, denn all diese schäbigen Hüllen und Booklets aus den Hüllen rauszubrechen, rauszuzerren, rauszuschauben, rauszuknacken, rauszuprokeln ist ein zerstörerisches, wenngleich befriedigendes Geschäft. Nach einigen Hundert erbrochener CDs sollte man meinen, ich wüßte, wie das schadenfrei geht. Aber nein. Es gibt verblüffend viele Arten dieser Plastiksarkophage, und jeder öffnet sich anders. Manche kann man wie Zauberwürfel auf vertrackte Art verdrehen und verschieben, dann geben sie ihre Cover preis. Andere kann man eigentlich nur zerstampfen. Vier-, fünfhundert CDs später kann ich nun mit meinen Fingern Hummer knacken oder Austern oder was es sonst bei euch so regelmäßig gibt. Vielleicht könnte ich mich als Freiberufler unter dem Claim Ich knack das! selbständig machen.

Man lernt bei dieser Arbeit viel. Über Vielfältigkeit zum Beispiel. Ich bin sicher, daß es irgendwo ein Forum für CD-Case-Nerds gibt, die die Terminologie der einzelnen Formen dieser Plastiknervdinger (die einem ja früher bereits im CD-Gebrauchtkaufladen beim kontrollierenden Öffnen aus der Hand und quer durch den Laden geflogen sind) drauf haben. Da gibt es garantiert eine Art Linné'sches System für Einzel-CDs, Doppel-CDs, Dreifach-CDs, welche, die wie ein Triptychon geöffnet werden, welche, in denen die Scheiben wie Seiten in einem Buch angeordnet sind usw. Eine faszinierende Welt, wenn man darüber nachdenkt. Das alles haben sich Menschen einmal aus.ge.dacht!

Ganz sicher gibt es Menschen, die nun sagen, CDs, das sei aber soooo Neunziger, und sich dabei sehr klug und modern vorkommen. Ja, mag sein. Aber schaut lieber nach, ob euch euer Musikstreamdienstleister nicht gerade alle Bibliotheken auf dem Telefon gelöscht hat. Dann reden wir weiter. Hast du was im Haus, dann hast du in der Not. Meine Meinung. Musik zum Beispiel. Nun stammt ein Gutteil meiner CDs aber tatsächlich aus den Neunzigern, und da kann man sich schon auch wundern. Künstler, von denen man nie weder etwas gehört hat, Künstler, die es aus bereits damals unerklärlichen Gründen in meine Sammlung geschafft haben, Künstler, deren CDs überhaupt noch eingeschweißt waren. Man sortiert auf dieser Zeitreise auch streng noch mal aus, dann heißt es, auf Wiedersehen Pizzicato Five oder auch Tschüß Melvins, ihr seid super, aber einfach nicht meine Musik. Also Mukke.

Schade, daß ich in den Neunzigern keine eigene Band gehabt habe. Das wäre eine Emo-Goth-Band namens Gloomy Fühlings gewesen und hätte CDs in schön gestalteten Papp-Digipacks herausgebracht. Buchbinderische Arbeiten, Augenweiden, dazu astreine Musik, die die Zeit überdauert hätte. Aber wann hätte ich das alles auch noch machen sollen?

Ungefähr die Hälfte an Platz ist dazugewonnen, denn ich habe im Laufe der Tage ca. acht Tonnen Plastikschrott in den Container vorm Haus geworfen, immer mal so ein bis zehn Tüten, damit die Nachbarn ihre Käsefrischhaltefolien auch noch entsorgen konnten. Befreiend! Frau Kondo hätte gelacht! Jetzt kann ich guten Gewissens neue CDs kaufen, um die Lücken zu füllen.

Radau | von kid37 um 19:04h | 22 mal Zuspruch | Kondolieren | Link