
Mittwoch, 11. April 2018
Das Aufklaren des Wetters schwemmt derzeit viele Touristen an meinen Notruf Hafenkante. Mittags sitze ich mit Herren und Damen aller Länder an Draußen-Tischen, so wie neulich mit den zwei Mlles aus Frankreich, denen ich galant erklären konnte, was das Schild bedeuten soll, das jeden Tag dort hängt: "Heute Selbstbedienung".
Bedeutung liegt ja häufig im Auge des Betrachters, und wenn man von dort aus mit affektiver Aufmerksamkeit schaut, so lasse ich mich von einer ganz und gar nicht weiß getünchten Wand herab belehren, sehen Dinge anders aus als sonst. Es muß also nicht gleich ein exotischer Schnaps sein, mit dem man sich zum Schauen (oder Reden) Mut antrinkt. Einfach mal so, locker und vor allem: Freundlich ist ja auch ein Weg.
Wenn ich, halbwach, mich so umschaue, ploppen gerade überall die winterverhärteten Knospen auf. Frauen zerren ihre bunten Kleider aus den Schränken, man möchte sie bewundern, allein die Vorsicht lehrt, dies lieber auf Blumen und Alleen zu beschränken. Aber sie sehen gut aus darin, aufblühende Menschen mit Hoffnung im Gesicht.
Vor den Türen letzte rabenschwarze Nachtgewächse. Sie rucken und gurren, scharren mit dem kranken Krüppelfuß. Sie wissen nicht, sie wollen nicht, sie spüren Hunger und malen mit der Asche auf dem Finger ihre Zeichen. Nur immer heraus, mein Schatten, mein Bläßchen. Man muß ja nicht gleich fressen, was man liebt.
Ein jeder sieht, was er sieht.

Samstag, 7. April 2018
Bei aller Offenheit: Nur wenige wissen, daß man mich mit einem gewissen Recht auch den Bob Ross der Käfermalerei nennt. Mit dieser verblüffend akribischen, aber sympathisch lässigen Sonntagsmalerei von happy little bugs will ich zugleich auf das Insektensterben aufmerksam machen, denn heutzutage kann man ja nicht einmal mehr unschuldig am Urinal stehen, ohne bedeutungsvoll zu Pinkeln.
Der Erhalt seltener und wenig bekannter Arten (wir sehen hier ein prachtvolles männliches Exemplar des Bogus Ocolus) ist mir dabei ein besonderes Anliegen. Wer mich also im Hamburger Raum mit Strohhut, meiner Garderobe von John Skelton und Fieldkit auf der Frühlingswiese sitzen sieht, den Skizzenblock vor mir ausgebreitet, nicke mir ruhig freundlich nachsichtig anerkennend zu. Es geht um die gute Sache. Und ich möchte wie nebenbei ermuntern, mir nachzutun. Denn auch wenn es verständlicherweise zunächst so nicht aussieht - es kann im Grunde jeder!
Man kann sich allerdings auch das frei erhältliche Bee Keepers Guidebook auf sein elektrisches Lesegerät herunterladen und bedrohten Insekten ganz tatkräftig und zugleich scheinheilig helfen, was diese spätestens dann merken, wenn man ihnen im Herbst an den Honig will. Menschlich eben.

Montag, 2. April 2018
Ich komme jetzt in das Alter für Fußbäder und Apfelessig. Und Nachdenklichkeit. Gerne auch in Kombination. Nachdem ich mich neulich unter dem Gelächter der Kollegen geoutet habe, gelegentlich Gegenstände bei Manufactum zu kaufen, kann ich über derlei Angelegenheiten nun ebenfalls ganz freimütig sprechen. Das Alter führt eben zu innerer Bordüre und Fußermüdung. Dabei ist sozusagen Apfelessig mein Sundowner, den trinke ich dann, die Füße im Wasser, und schaue in den Untergang.
That was when I was twenty, half my life ago, and a boy my age made the most politey democratic proposition I ever received: would I like to make a movie with him in the ruined hospital near my San Francisco home? I would, we did, and we spent the next six years together in amazing tranquility...
Rebecca Solnit ("Coming of age in the heydey of punk, it was clear we were living at the end of something") schreibt in ihrem formidablen A Field Guide to Getting Lost über Aneignung verlassener Plätze, ehe dies wie heutzutage eine beinahe zu ubiquitäre Subkultur der "Lost Places"-Aufsucher geworden ist. (Früher hatte man als junger Mensch einen eigenen Detektivclub, heute sind es "Urban Explorers".) Solnits Buch enthält eine Menge kluger Beobachtungen, vor allem über notwendige Perspektivwechsel. Wann ist man also "verloren"? Häufig doch eher für die anderen, deren Blick und Einfluß man entwichen ist. Doch ist man nicht hier, ist man vielleicht woanders, aber nicht verloren. "Verloren sind übrigens immer nur die anderen" könnte man Duchamp oft verballhornten Spruch über den Tod abwandeln.
Sich über die Kunst kennenlernen, kommen wir zurück zu Solnit, ist vielleicht das Schönste. Oder sagen wir: Zusammenarbeit. In "amazing tranquility". Welch ein Glück. Wie so ein Schloß mit Vögeln drumrum.
(Rebecca Solnit. A Field Guide to Getting Lost. London: Penguin, 2006.)

Sonntag, 1. April 2018
Von wegen Kraft durch Tanzen, alle Jahre wieder ertönt dieselbe Leier: "Oh, du meine Güte voll Blut und Wunden - an Karfreitag herrscht ja Tanzverbot!" Nie war die Gesellschaft bedrohter als an diesem Tag, denn auch wenn mal an einem Tag einige Ruhe und Besinnung suchen, soll doch Rambazamba sein. Gut, mit 17 sah ich das auch noch anders. Aber nur, weil in meiner kleinen Stadt nur am Donnerstag Gelegenheit zur musikbegleiteten Bewegung war. Jedenfalls was vernünftige Musik anging. Und wenn dann um Mitternacht nicht die Kürbiskutsche kommt, sondern das Ende der Party, da kann man als junger, schüttelzwanggeplagter Mensch schon mal Kreuzweh fühlen. Um im Bild zu bleiben.
Heute klagen Menschen, die wahrscheinlich lange schon nicht Tanzen waren, ihre Not auf dem Kurznachrichtendienst, während man selbst Schmerzen in den Händen und an den Füßen fühlt. Und an der Seite auch. Zum Glück kommt Ostern und damit Tradition der Fröhlichkeit, aber Tradition ist ausgerechnet Traditionalisten auch ein Kronendorn im Auge. Ein Kreuz. Aber nur, um im Bild zu bleiben.
Meine Lieblingsinfluencerin aus Wien und ich indes bewerben den Traditionshasen, als ob nichts Böses unter der Sonne glänzen würde. Denn Ostern ist ja traditionell ein Fest der genußfreudigen Aufbruchstimmung. Traditionell feiert auch Angeliska, die Großmeisterin der bunten Feiern, ein Kostümfest. Ich bleibe bei Grabesstimmung. Denn seit ich im letzten Jahr die strikte Anweisung freundliche Empfehlung zur Roten Beete erhielt, habe ich dieses Gemüse mit dem Geschmack alter Friedhofserde tapfer zum Ostergericht erklärt: "Denn siehe, das Grab war leer." So eine Freude, aber die Rote Beete liegt auf meinem Teller. Traditionell aber sehr gesund.
Welche Freude hingegen, als neulich diese Russin um ein Glas frische Milch bat. Ein Glas Milch! Mit Todesverachtung dem Leben zugewandt. So was gibt es doch an und für sich gar nicht mehr. Ein Osterwunder.
Wenn ihr Eier habt, tragt Hut.

Samstag, 24. März 2018
Ich mußte gestern mit einer russischen Pole-Dancerin zusammenarbeiten, genauer gesagt mit einer Russin, die auch Pole-Dance macht, es soll jetzt nicht zu aufregend klingen. Jedenfalls war es zwar anstrengend, auch weil ich nur drei Worte Russisch kann, aber atmosphärisch so sehr entspannt, daß ich mich beim Gedanken ertappte, mir vielleicht auch so eine Stange daheim im Südflügel zu installieren. Ich müßte nur den Stutzflügel Fernseher ein wenig zur Seite schieben und nach oben die gläserne Decke, die mich mein Leben lang schon aufhält, durchstoßen.
Wie vom Wink des Schicksals geleitet stolperte ich heute auch noch beim Gelegenheitsbummel durchs Oberland über die bei mir völlig verdrängte Existenz von John Neumeiers Ballettladen. Hier könnte ich samstags immer zum Üben hin, damit ich meinen Frühjahrtanz tanzen kann. Noch ziert sich diese vorherbstliche Jahreszeit recht gehörig, vielleicht könnten rituelle Kulturgesten hier ein wenig nachhelfen.
Bis zur Bühnenreife (oder wie auf dem Bild: Museumsreife) ist es für einen rostigen Roboter wie mich sicherlich ein weiter Weg, da ist ja doch der eine oder andere Schlackepartikel ins Getriebe geraten. Aber heute, wo mit Beginn der Sommerzeit das Leben wieder eine Stunde kürzer wird, ist wie gestern schon oder die Woche davor eine gute Gelegenheit, noch bessere Vorsätze zu fassen.
Nachher führt man maulige Klage wie so ein Blogger - oder Vincent Gallo. Der Bursche hat sich mit einem Offenen Brief zu Wort gemeldet, in dem er nicht durchgehend bündig tausend Dinge klarstellt und sich am Ende nicht zu schade ist, gegen meine Freundin Viv Albertine zu keilen. Die wiederum hat ihrer Begegnung mit dem wilden Mann eine launige, letztlich vor allem bedeutsam symbolische Anekdote in ihrem tollen Buch, das ihr hoffentlich jetzt endlich alle gekauft habt, gewidmet. Ratet, wer in meinen Augen die schlechtere Figur abgibt?
Demnächst tanze ich euch die Antwort.

Montag, 19. März 2018
Genug der Kreativprahlerei. Das Geheimnis guter Pferdemalerei ist ja das Ableinen und zum Abschwitzen Auslaufen lassen. Mal einfach loslassen. Derweil sitz ich mit meiner Laune meditativ vorm Fernseher und schaue, wie andere so Fernsehen.
TV DINNER from Maya Galluzzi on Vimeo.
Abendruhe. Strobostatic im TV, die Frau träumt von einem Oktopus. Träum weiter, Baby, und häng das Bild gerade! Tolle Geschichte, wer schaut sich hier nicht gerade selbst im Spiegel an. Maya Galluzi hat's gemacht und das Schweizer Fernsehen zur Unterstützung bekommen.Macht nachdenklich!

Freitag, 16. März 2018
Was ja wenige wissen ist, daß ich seit ein, zwei Jahren unter die Pferdemaler gegangen bin. Noch reichen meine Fertigkeiten nicht dazu, in der Fußgängerzone zu sitzen und Bleistiftporträts von Roß und Reiter feilzubieten. Aber verbissen bleibe ich dran, übe Mähnen, zuckende Ohren, Schweif und Hufe, scheitere regelmäßig am Schattenverlauf der Nüstern, aber das sind Details, mal hier mal eine Trense, dort mal eine Blesse, dem hübschen Pony einen hübschen ebensolchen, und zack, wie im Galopp ist das Bild fertig. Meine kryptischen Zeichungen werden allerdings nicht von jeder Reiterin erkannt, da stimmten ja die Relationen nicht, und ob man nicht besser die Pferdedecke des Schweigens...? Da muß man dann das Tier wechseln und erst einmal ein Hühnchen rupfen. Du erkennst ein Pferd nicht, wenn es im Flur steht? rufe ich. Und zitiere aus dem letzten Traberseminar: Da muß man sein Mindset ändern!
Metaphernhengste erzählen dann vom toten Pferd, ich von rheinischem Sauerbraten. Ein alter Meister fragt, ob ich nicht das alte Sprichwort von den Eltern kennte: Wenn du das Pferd nicht zeichnen kannst, probier es mit dem Sattel. Fest drinsitzen nämlich, sich nicht abwerfen lassen, nicht auf Roßtäuscher hereinfallen, immer erst ins Maul schauen.
Es ist, schreibt auf, beim Malen wie immer im Leben: Erst Longieren, dann passionata.
>>> Geräusch des Tages: Blonde Redhead, Equus
