Mittwoch, 10. Februar 2016


Strikt, aber limitiert



Weil Erinnerungen flüchtig sind, hält man sie gern fest. Also gern auch richtig fest. Zun den schönen Überlieferungen des Viktorianismus gehört der tief in den Alltag verankerte Reliquienkult: die Locke vom Liebsten, der erste Milchzahn und das Foto vom toten Verwandten. Mit dem Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert ergab sich eine nie gekannte Möglichkeit, die Verstorbenen zu bewahren - oder besser die Erinnerung an sie: im Abbild. In Festtagskleidung gewandet saßen sie im Stuhlkreis unter den noch lebenden Familienmitgliedern, die auf den Bildern meist gleichsam tot wirkten, waren doch die Belichtungszeiten in der damaligen Fotografie so lang, daß die Porträtierten unnatürlich lange starr verharren mußten. Im Zeitalter der hohen Kindersterblichkeit wurden so auch Frühstverstorbene abgelichtet - oder aber die lebenden Säuglinge im Schoß ihrer im Kindsbett gestorbenen Mütter.

Ein für heutige Verhältnisse merkwürdig und morbide scheinender Erinnerungskult, dabei ist das Festhaltenwollen und Besitzenwollen des Flüchtigen doch ein uralter menschlicher Impuls. Den Augenblick festhalten, das Vergängliche bannen: Goethe und Geburtstagvideos verdanken beide ihren Erfolg diesem Eifer.

Tessa Kuragi und Jon-Ross Le Haye, wir kommen in die Gegenwart, füllten ein altes verziertes Fotoalbum aus dem 19. Jahrhundert, ein Flohmarktfund, mit solch fragilen Bildern: Sie konservierten die blauen Flecken, die sie im Laufe ihrer sadomasochistischen Beziehung sammelten: verblassende Momente und Erinnerungen an ganz besondere Momente. Der Reprint dieses Bruise Book ist auf 50 Exemplare limitiert, meins trägt die Nummer 31, was fast aussieht, kommen wir zum Zahlenfetisch, wie eine 37. Knapp vorbei, oder Autsch! wie wir in bibliophilen Fachkreisen sagen.

Die französische Fotografin Féebrile lernte ich vor ein paar Jahren auf einem Konzert von Ödland kennen. Ihr kleiner liebevoll gestalteter Band Pola et les autres dokumentiert auf Polaroid besondere Inszenierungen, Momente und intensive Begegnungen. Sehr charmant. Mein Exemplar ist die Nummer 38 von 100, das ist schon provozierend nahe an der 37, aber nun muß man auch als Sammler mal Fünfe gerade sein lassen, um im Zahlenbild zu bleiben.

Ein schönes, recht ordentlich sortiertes Unterfangen also. Damit wir uns aber auf Buchmessen und Kunstauktionen nicht ins Gehege kommen, schlage ich vor, ihr sucht euch eine andere Zahl aus, der ihr hinterhersteigen wollt.

Tessa Kuragi, Jon-Ross Le Haye. Bruise Book. o.O., o.J. (2015)
Féebrile. Pola et les autres o.O., o.J. (2015)


 


Sonntag, 7. Februar 2016


Mal Licht im Keller!



Hier und da, das wird einige jetzt nicht sonderlich überraschen, bin ich ja so richtig doof. Also nicht, wenn es um Dinge wie kalte Fusion, dekompressive Kraniotomie oder anlaßlose Religionsstiftung geht. Soziale Problemstellungen aus dem zwischenmenschlichen Bereich aber, die über einfache Transaktionen an der Supermarktkasse hinausgehen (steuerlich betrachtet also eine simple Einnahmen/Ausgaben-Überschußrechnung, Anlage EAÜ), verstünde selbst ein Dr. Dr. Sheldon Cooper besser als ich.

Da ich selbst wiederum ein gutes und sogar immer mal wieder ungebrochenes Verhältnis zu mir selber habe, nenne ich es lieber nachsichtig naiv, so als könne man das Problem dadurch lösen, striche ich mir selbst liebevoll übers Haar und kniffe mir kurz in die Wange dabei. Die Tage, als ich den Haushalt mehr und mehr auf LED-Leuchten im "Glühbirnen"-Look (es gibt sogar nostalgische Edisonlampen in LED-Technik für die Industrial-chic-Fans unter uns) umstellte - eine banale Beschäftigung sicherlich in Zeiten, in denen Fußballvereine um ihre Klassenzugehörigkeit bangen müssen - ging mir ganz buchstäblich ein Licht auf, das mir die eigene Blödheit an die wenigen freien Wände hier im Haus projizierte. [Aufbl. schallendes Gelächter aus der Konserve] "Denn siehe: Erst bist du verblendet, dann blendet dich das Licht der Erkenntnis." [1. Vers, 17]

Die Ursache ist im Spiegel rasch erkannt. Vor einiger Zeit ging eines meiner geheimen Geheimexperimente fürchterlich schief, und ich habe seither den Eindruck als mieden mich die Menschen. Sie erfinden Ausreden, das spüre ich deutlich, ohne einen meiner Fühler genau in die Wunde legen zu können. Sie haben plötzlich Termine, beim Arzt, beim Steuerberater oder zur Ummeldung beim Ortsamt. Manchmal begreife ich es auch nicht gleich, sondern erst Monate später, wenn plötzlich wie aus den offenbar zeitelastischen Kalendern anderer Leute Erkenntnisse und Zusammenhänge schlüpfen, einem Insektenkokon gleich, aus dem dann doch kein Schmetterling wird. Das soll aber auch ein Fliegenhirn verstehen, denke ich. Das ist doch viel zu komplex, auf eine ungesunde, hirnzellenmarternde Weise. Wenn ich wenigstens Flügel hätte, aber nein, wie mit Honig verklebten Gliedern torkel ich mühsam durch endlose, leere Räume, durch die LED-weiß erleuchteten Gänge eines mitleidlosen Finanzamts und vorbei an wehenden Vorhängen. Ausgestoßen! Wie heißt es im Lied: "Ninety-six tears in ninety-six eyes." Ein Fiebertraum im Kabinett des Dr. Kid!

Jetzt also Warten auf den Aschermittwoch, danach Fastenzeit, bloß um später wie frisch entgiftet, schlackebefreit und auch endlich mal geduscht den Frühling zu neuen Experimenten im Geheimlabor unterm Maibaum zu begrüßen. Ach, nicht mehr Fliege - Dodo Vogel will ich sein!

>>> Geräusch des Tages: The Cramps, Human Fly


 


Montag, 1. Februar 2016


Endlich werden Raumschiffe gefordert

Ms Harvey reicht erste Zuckerstücke ihres neuen Albums The Hope Six Demolition Project, das im April erscheint. Ganz im Stil des Klassikers Let England Shake rumpelt The Wheel daher. Der Blues-Folk-Stomper, knapp zum Glück am Gummistiefeltanz vorbei, paßt sowohl zum nachhaltigen Fairtradekaffee als auch zur düsteren Nachdenkspelunke, in der man im gelblichen Licht einer LED-Filament-Retrofit-Leuchte über verkratzte Filmklassiker und Klassiker des Gefühlsleidens nachdenkt. Man ist ja sofort wieder bedingungslos in Polly Jean verliebt, möchte ihren Gitarrenkoffer tragen oder ihr nach Konzerten ein Käsebrot schmieren. Aber das soll jetzt nicht so Fanboy-haft klingen. Eher normal, freundlich, höflich beinahe.

Nun werden also endlich Raumschiffe gefordert. Ich könnte eines besteigen und mit Scully Polly Jean Scully Polly Jean und Scully als drei Musketiere von der Erde in das Weltall fliegen. Richtig ins Blaue hinein, eine Bordtoilette wird es ja wohl geben, einen Stapel Stullen dabei und besagten Gitarrenkoffer. Niemand wird uns angreifen, während wir durch den unendlichen Raum fliegen, keine blauköpfigen Menschen vom Mars und auch keine heißglühenden Grünlinge von der Venus. Wir sängen Lieder über die Liebe, auch wenn die im All keiner hören könnte. Andere Waffen brauchen wir nicht.

Das läuft doch schon mal besser als das vergangene Jahr, dieses absagenverstolperte, aufkündigende 2015. Freundschaften, Arbeitsverhältnisse, man kam ja am Beistelltisch einer bodenverkrumten Weinschabracke mit dem Buchhalten gar nicht mehr nach, was sich links und rechts wie Beschädigungswaffen neben mir in den Boden bohrte. Ich jedoch bin einfach ruhig geblieben, im kindlichen Vertrauen auf ein vollverspiegeltes Raumschiff, das mich schon holen würde.

>>> Geräusch des Tages: Josh Homme & PJ Harvey, I Wanna Make It Wit Chu

Radau | von kid37 um 23:22h | 12 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 23. Januar 2016


Graue Dilletanten


So toll, wenn die eigene Jugend ins Museum kommt (die rechte meine ich, Leute!)

1981 gab es im Berliner Tempodrom das berühmte und berühmt falsch geschriebene Festival "Geniale Dilletanten". Die gleichnamige Ausstellung, die zuvor bereits in abgespeckter Form in München und im Ausland zu sehen war, zeigt Erinnerungsstücke an damalige Bands, Malerei, Installationen und Videos aus dem deutschen Post-Punk-Umfeld, also der Neuen Deutschen Welle ehe sie die NDW war.


Dilletanten-Bingo: Immerhin, vier der gezeigten Alben habe ich

Im Publikum zahlreiche Vertreter und Zeitzeugen, spot your Künstler heißt auch ein fröhliches Motto des Abends. Etwas fürs Panini-Sammelalbum: Die meisten in Ehren ergraut, manche auch einfach so. Manche auch nicht so gut, was mir ein wenig Angst einjagt, denn ähnlich wie ich sind die ebenfalls mindestens 37 Jahre und ein paar Monate alt. Aber wie heißt es so schön? So punk kommen wir nicht mehr zusammen, schnell noch ein Bier und Erinnerungen ins Sentimentalknopfloch.



"Duchamp" in zwei, drei, eins... Doris am Urinal

Eigentlich waren die Zentren dieser Kunstpunk-Szene Düsseldorf und Berlin, Hamburg war ja eher gleichnamige Härte, halt die Fresse, komm mal her - obwohl, so geschwätzig ist man hier ja wiederum auch nicht. Zwischen DAF, Der Plan, Einstürzende Neubauten und Die tödliche Doris wurden also schnell noch Palais Schaumburg als Hanseatenbeitrag gepackt, die waren immerhin auf der Kunsthochschule. Warum Bands wie F.S.K. hier subsummiert sind, erschließt sich mir bei aller Liebe aber nicht.



"Mit Leibwachen kommt Holger Hiller an/Massenschlägerei für ein Autogramm!"

Mittagspause sind erwähnt, Fehlfarben und einige von der Düsseldorfer Akademie fehlen. Aber Leerstellen zu benennen, ist im Nachhinein immer einfach. Natürlich wären Bilder von Albert Oehlen oder Objekte wie das Stehpuppen-Schallplattenset der Tödlichen Doris nett gewesen, ich kenne immerhin zwei Menschen, die eines besitzen. (Und einer davon bin nicht ich. Und der andere leider auch nicht.)

Amüsant ist das ausgestellte, völlig zerdengelte Metallschlagzeug der Neubauten, ein "Berühren verboten"-Schild soll den Schrotthaufen schützen, was natürlich dem Sinn der ausgestellten Kunst völlig zuwiderläuft. (Es wird sich, ich drücke es mal so aus, nicht akribisch dran gehalten.) Es ist ein Museum, ein ganzes Leben, in Gießharz eingeklebt.


Ratinger! Markthalle! X-mal Deutschland!

Kurz, Kennwort "Ratinger!", spreche ich mit La Reimann. Die erkennt mich aber gar nicht, so grau bin ich geworden. Zeit, mich ins Museum zu stellen, Glasvitrine zu, weg, schnell noch ein Lied: Das war vor Jahren. Peter Hein, bitte rufen Sie mich aus Wien an!

("Geniale Dilletanten - Subkultur der 1980er Jahre in Deutschland". Museum für Kunst & Gewerbe, Hamburg. Bis 30. April 2016.)


 


Mittwoch, 20. Januar 2016


Leben ist Leben




Wie schön, wenn man nach so viel zwangsharmonischer Heißverklebung der letzten Zeit auch mal politisch unkorrekt die Lautstärkeregler voll auf die Zwölf drehen kann, wenn die nationenweit bekannte Unterhaltungskapelle Laibach in einem Hamburger Kuschelclub aufspielt. Gerade noch in Pjöngjang, nun schon wieder in der Hansestadt. "Resistance Is Futile" heißt die Botschaft, und schon knattert Blitzkrieg mit einem brachialem Tieffrequenzgewitter von der Bühne, daß einem die Hosenbeine und Hemdknöpfe schlottern. Umsichtig habe ich eine Auswahl Schmutzwäsche mitgebracht, aus der derart schallbehandelt der Staub nur so schleudert und die im Anschluß (!) blitzsauber und bügelfertig in den Schrank gelegt werden kann. Die Lunge vibriert, jede Körperzelle tanzt, wie es in einem bekannten Lied heißt, und wer an "Detoxing" glaubt, spürt hier förmlich die böse Schlacke von den Zellwänden platzen.

Es folgt ein kurzes, knarzendes Militaria-Set, unterlegt mit Projektionen von Marschstiefeln, pornografischen Sequenzen und später auch wie mit der Konditorenspritze hingemalten kawai-Zuckergußbildchen von My little Ponys, Propagandasequenzen mit asiatischen Schuluniformmädchen, allerlei Blumen und Gezitter und Laufschriften mit allerletzten Todeswarnungen. Hoho! sagt man auf dem Total-Theater, die ironische Brechung immer gleich mitgesprochen. Laibach sind vielleicht so eine Art Krampusfest, handfester Schabernack und Austreibung von allerlei Bösem.



Nach einer Pause folgen im zweiten Teil des Abends hymnische Pop-Lieder wie Edelweiß, verhältnismäßig gefällig wird es dabei schon, ein bißchen beliebig vielleicht, der Witz ist schnell genossen. Etwas von The Human League würde jetzt nicht wundern, Singesingesing, es ist der "Kumbaja"-Moment des Abends. Fehlte noch, irgendeine blutjunge, schwarzuniformierte Industrial-Gestalt aus dem Publikum hakte sich zum Schunkeln bei mir unter.



Völlig an mir vorbeigegangen war, daß Laibach eines meiner liebsten Lieder von Bob Dylan gecovert haben. Die durch Pennebakers Filmclip zu "Subterranean Homesick Blues" ikonografisch gewordenen Cue-Cards wie hingespuckte Milch auf den Hintergrund projiziert, haben Laibach den Klassiker Ballad Of A Thin Man völlig dekonstruiert, zersägt und neu zusammengeklebt. In Hamburg als schönes Brett serviert, mein persönlicher Höhepunkt des Abends. Nur so kann man das covern, das gitarrenschrammelige Lagerfeuer austreiben, das Brennholz noch mal kleinerbrechen, Fackeln binden und ausgebrannte, trostlose Kellerlabyrinthe damit erhellen. Wo eben was Seltsames passiert, nackte Gestalten herumliegen und Unverständliches brabbeln. Man weiß eben verfickt nochmal nicht, was da geschieht. Oder weißt du es, Mr. Jones?

>>> Geräusch des Tages: Laibach, Ballad Of A Thin Man

Radau | von kid37 um 11:00h | 24 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 17. Januar 2016


Ch-ch-changes



Ich höre gerade das aktuelle Album von Julia Kent. Asperities gefällt mir ausnehmend gut, es schreit mich nicht an, rüttelt nicht an meinen Nerven durch Besserwisserei, verfirlefanzt sich auch nicht mit kitschig gewundener Zuckercouleur. Können auch Erwachsene hören, oder gerade diese. Ich sortiere dazu Zeitungsausschnitte und Erinnerungen. Hier muß ja mal aussortiert werden, gleich mir selber ist hier in den letzten Jahren einiges liegengeblieben. Meine Ärztin, die gute Frau Sorge, machte mich vergnügt darauf aufmerksam: "Ihre neue Gesundheitskarte druckt ja ihren zweiten Vornamen mit aus. Den kannte ich gar nicht!" Ja, antwortete ich, Autarkie heißt der. Nach dem Heiligen, der es gar nicht gut mochte, sich von anderen helfen lassen zu müssen. Nun mußte ich das in den letzten Jahren ab und an in Anspruch nehmen, und stelle fest, das hat auch zwei Seiten. Zumal manch einer dann Rechnungen präsentiert.

2016 müssen also wieder Zügel in die Hand, hü-hott und ab. Der Arbeiter arbeitet, und David Bowie könnte einem darin ein Vorbild sein. "It's too late - to be late again". Ich habe ihn leider nur einmal live gesehen. 1983 war das, die Serious Moonlight-Tour, man hätte mich ja quasi im Tragetuch reinschmuggeln können, so jung war ich. Sein Humor und seine Höflichkeit blieben mir in Erinnerung und die vielen Fans, die in verschiedene Bowie-Epochen hineinfrisiert waren. Klare Aussagen, Let's Dance, aber bitte nicht mit anderen Männern und mich blöd in der Landschaft stehenlassen. In unserer Discothek, wie die musikanbietenden Betriebsstätten damals hießen, lief immer "Station To Station" in voller epischer Länge, dieses mit allerlei melancholischer Emotion, Brüchen und Brücken unterfütterte musikalische Hyperion-Klippengespringe. Dann aber nur Stillstand im Leben, bequemliches Schicksalswarten, zauderndes "Vorsicht, Vorsicht"-Gezischel und untätige Eckensteherei. Wobei, so untätig war ich gar nicht. David Bowie - oder "Herr Jones", wie ihn Alt-Berliner nennen - jedenfalls hat geackert bis zum Schluß, dann ab in die Raumkapsel und nachgeschaut, wie das wirklich so ist mit dem Life On Mars. Bislang gibt es von dort ja kein zurück.



Bei Herrn Krüger ein Bild abgeholt. Dabei die erstaunliche Schau von Daniel M. Thurau entdeckt, von der ich zuerst dachte, najo, ist das nicht irgendwie... ist es aber nicht. Räumt eure Vintage-E-Gitarrensammlungen und Filmposter von den Wänden und macht Platz für diese mit allerlei melancholischer Emotion unterfütterte, nur scheinbar heimelige Malerei, die uns zeigt, wie wir in unseren zurechtgehipsterten Augenscheinwohnungen in sterndeuterischen Nächten von wild wuchernden Gedanken und Sätzen umrankt Welt durch Geräte wahrnehmen. Könnt ihr mal drüber nachdenken! Herzl., euer Kid37.

(Daniel M. Thurau: "Utopia Now". Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis 30.1.2016.)


 


Samstag, 9. Januar 2016


Abgründe des Herzens



Ab und an, eine innere Stimme redet mir zu, ob gut oder böse gemeint, man weiß es ja nicht, versuche ich es mit Kontaktanbahnung auf einer näheren, durchaus auch persönlich gemeinten Ebene. Dabei habe ich allerdings immer wieder mal Körbe erhalten, die ich immerhin, das ist die andere Seite, denn jedes Phänomen hat bekanntlich zwei davon, ganz prima zur Aufbewahrung von Zwiebeln, Kartoffeln und Altpapier benutzen kann. Insofern ist nichts vergebens oder ohne Nutzen auf dieser Welt. Andererseits denke ich, ebenfalls ab und an, Single - das ist doch auch immer nur dasselbe Lied, so eine B-Seite, eine jedes Ding hat doch wohl zwei Seiten, wäre schön.

Nun sind meine Strategien einerseits sehr ausgefuchst. Da zeige ich meine tierliebe Seite (mehr. Bildbände ü. taxidermische Kunst vorh.) oder mein von unlauteren Trieben befreites viels. Interesse an geistigen Gesprächen (mehr. Bildbände ü. Sektionspräparate vorh.) - allein, gebracht hat es außer kritischer Aufmerksamkeit nichts. Manchmal auch einen Lacher, so als habe ich einen guten Witz gemacht.

Dann höre ich seit einiger Zeit konkrete Musik. Konkrete Musik ist sehr anspruchsvoll, auch wenn es sich mitunter anhört, als stimme dort jemand sein Kurzwellenradio ab oder säße im Inneren eines Staubsaugers. Das ist komplex und läßt mich ebenso erscheinen und - wie Polizist Dietmar Schäffer sagen würde - "Ist auch wichtig!" Ich sitze dann, höre also aufmerksam meine Schallplatte mit elektronischem Gefiepe oder dissonanten Maschinengeräuschen, lasse alsbald meine Augen durch die gute Stube wandern, entdecke vielleicht einen Spinnweb (wirklich nur einen) oder einen einsamen, vertrockneten Krümel auf dem Teppich und denke, ich weiß nicht, wie ich ausgerechnet in diesem Moment darauf komme, Staubsaugen könnte ich ja auch mal.

Dann sauge ich ein wenig Staub, auch richtig bis in die Ecken rein und nicht die Abkürzung in der Runde, stelle die Saugkraft auch gleich mal etwas höher denn da läuft ja noch diese konkrete Musik damit es auch richtig sauber wird. Und dann bin ich - dank der konkreten Musik - im Anschluß sehr glückl.: Ernsth. Kunstinteresse und auch tatkräft. im Haush. Ich möchte das empfehlen, einerseits.

Andererseits macht konkrete Musik nicht sexy. Es ist so: Alles, was ich über Menschen weiß, habe ich aus Westermanns Monatsheften, von denen ich ein nicht wirklich aktuelles, aber doch sicher zeitloses Exemplar auf dem Flohmarkt erstanden habe. "Möchtest du mitkommen, Staubsaugermusik hören?" ist kein Sager, der gut und vor allem aufrichtig verstanden werden würde. Menschen ziehen einzelne Augenbrauen hoch, schauen auf ihr elektronisches Mitnahmegerät, seien ja noch irgendwo zum "Coffee-to-go" verabredet, leider, leider... es ist nicht einfach. Manchmal, dank Westermanns Monatshefte weiß ich, wie man sich benimmt und Freunde gewinnt, überrasche ich Menschen mit einem Strauß Blumen und meinem tragbaren Phonokoffer, um mit ihnen konkrete Musik zu hören. Ich habe natürlich keinen Beweis, Menschen reden - anders als eine gewisse Musik - häufig so unkonkret. Aber es scheint als seien diese Menschen nicht nur froh über mein Kommen.

Am Ende bleibt das Inserat. Um nicht allein mit meinen verwitterten verwitweten Gedanken zu bleiben, formuliere ich schlichte Herzenswünsche, verweise auf meine Expertise als preisgekrönter Foto Photograph mitunter kurvenreicher Landschaften und appelliere an die herzensg. und haushaltsnahen Wünsche junggebliebener, unbemalter Nichtraucherinnen. Wie ein guter Geist könnte ich "Sie" nebengedankenfrei und modern mit meinem Staubsauger umwienern. Ganz konkret zu guter Musik. Ganz herzl.

>>> Geräusch des Tages: Rune Lindblad, Thermonuklearreaktion