Sonntag, 22. November 2015


Jetzt bist du klein, jetzt bist du groß



Mein neues Thema ist ja die Bienenfotografie. Es handelt sich bei diesen Wesen zumeist um bedrohte Völker, es liegt also schon auch ein Stück Sozialarbeit darin. Fotografie soll ja die Geister bannen, aber auch neue Erinnerungen schaffen. So sitze ich also an meinem kleinen Arbeitstisch, korrigiere hier was am Stativ, dort was am Balgengerät (kauft euch ein vernünftiges, meins ist echt kein Meisterwerk an Feinmechanik), genehmige mir ab und an einen Kaffee oder ein Glas Wasser, und stelle mir Fragen über das Leben an sich.



So lautet eine Frage, warum die einen Honig ernten, und mir nur tote Bienen bleiben. Ist das gerecht? War mein Einsatz zu gering? Daß es auch lebendiger geht, beweisen andere Leute mir zum Vorbild. Titeldesigner Gregory Herman etwa. Insektenfilme, das große Ding mit kleinen. Wenn ich mal Zeit habe, stelle ich Shakespearedramen mit denen nach. Oder adaptiere Bücher von Ian McEwan. Warum nicht? Andere machen das mit Lego, ich dann mit sechs Beinen.


 


Montag, 16. November 2015


Adrift



Es sind schon ein paar Minuten nach 12. Es bleiben einige wenige wertvolle Momente, Erinnerungen, kleine Dinge, die man festhält. Das Schweigen für wenigstens eine Minute. Die Traumpfade der eigenen Mythologie nachgehen, am Ende sagen, es ist schon gut, wie es ist. Jeder hält sich an sich selber fest.

In 20000 Days on Earth gibt es eine gruselige Szene, in der Nick Cave bei seinem Therapeuten erzählt, wie er als Kind gefährliche Abenteuer in Australien erlebt hat, vor dem heranrauschenden Zug von einer Brücke in den Fluß gesprungen sei. Und wie er es bedauere, daß seinen eigenen Kinder solche Abenteuer heutzutage verwehrt blieben. Und wie er an einer anderen Stelle erwähnt, daß sich Geschichten und das Leben nur im Nachhinein erschließen. So wie das schockierende Schicksal eines seiner Söhne, das er damals ja nicht erahnen konnte.

Was wir brauchen für das Ende der Welt ist ein Überlebenskit. Selbsterhaltende, autonome Systeme, das vorweggenommene Leben an einer Maschine.

Ende Oktober 2007, das ist meine allernächste Verbindung dazu, wollte ich ein Konzert besuchen im Pariser Bataclan. Es war aber schon ausverkauft und dann unternahm ich nicht einmal diese Reise, wie ich so vieles nicht unternommen hatte in diesem Jahr, weil mir einiges klar wurde, anderes aber ums Verrecken nicht. Wie man durch die eine Tür geht, nicht aber durch die andere und nie weiß, welche Bedeutung es hat.

So wie das Mädchen, das aus Paris erzählte, daß sie nur deshalb überlebte, weil sie sich gerade mit ihrem Freund zerstritten hatte und schon einmal hereingegangen war, um die Rechnung zu bezahlen, als draußen die Gäste beschossen wurden. So muß denn jeder Schritt, jede Entscheidung als richtig betrachtet werden.

Wenn sonst nichts weiter geschieht. Wenn man die Geschichte erzählen kann.


 


Samstag, 7. November 2015


Maskierte Misantrophen



Ich bin ja ein alter Mann mit tagträumenden Vorstellungen. Aber da wir ja alle unseren Haushalt machen müssen und die Wäsche und dann auch noch allein, hat ja kaum noch jemand Zeit für die sinnlos schönen Dinge des Lebens. Man müßte so eine Art Manufactum-Boudoir als Club eröffnen, wo man abends im Hasenkostüm einen komplizierten Tee mit gesundheitsfördernder Wirkung schlappt genießt, dabei ein wenig durch die Feuilletons der gesammelten Tagespresse blättert, sich schön anschweigt und vor der letzten Bahn nach Hause fährt, sich in frisch gestärkte (aber von wem?) Linnen fallen zu lassen.



Nun haben die meisten von euch Mikrofaserbettwäsche daheim, und da wundert ihr euch, ich aber nicht. Dafür wunderte ich mich am sogenannten Halloween, weil ich hier in meiner selbstgebastelten und adrett gebügelten Maskierung im Lehnstuhl ausharrte, von den Dreikäsehoch-Horrorknirpsen aber keiner klingeln wollte. Vielleicht war es ihnen zu gruselig hatte ich doch mein Gewand nach den wunderbaren Fotografien gestaltet, die Ossian Brown gesammelt hat. Der war früher in der kleinen Gebrauchsmusiktruppe Coil und hat nun aus den USA der letzten Jahrhundertwende Amateurfografien über Halloween gesammelt und als Bildband herausgebracht.

Wer den hübsch gestalteten Band mit einem Vorwort von und Danksagung an David Lynch nicht wie ich daheim hat, mag sich ein paar der Bilder von der großen Suchmaschine auswerfen lassen. Die Beispiele sind wirklich fröstelnd beeindruckend durch ihre liebevoll unbeholfene Heimbastelgestaltung. Ein amerikanischer Umhänge-Quilt irgendwo zwischen Outsider Art, dem Texas Chainsaw Massacre und gruselig überspitztem Frühjahrsputz-Hausfrauenkittellook. Nächstes Jahr seid ihr dabei.

BoingBoing hatte es auch mal erwähnt.

(Ossian Brown. Haunted Air. London: Jonathan Cape, 2010.)


 


Sonntag, 1. November 2015


Der Reiseteil



So geht einer meiner Albträume. Ich habe alles so schön vorbereitet. Aber weil ich kein Facebook habe dann kommt keiner. Ich höre also ein bißchen Musik, warte ein wenig mit hochgestelltem Mantelkragen auf den berüchtigten Ostwind und eine hübsche Influenza, die mir wild verliebt um den Hals fällt, schaue wie ein gehetzter Hause mit Zylinder immer wieder auf die Taschenuhr und scharre gedankenverloren in Herbstlaub und Erinnerungen. Die ewigen Baustellen dieser Stadt, wie aufgeplatzte Wunden nähen in den zerborstenen Flächen, wie immerzu Möbel rücken, sinnlos hierhin, dahin und wieder zurück. Nie fertig und oft ohne Bestand.




Ein Paradies wird mir das wohl nicht, denke ich leicht verfroren, mögen noch so viele Engel aus einem Himmel voller Rasierklingen gestürzt auf den Straßen posieren. Vielleicht sage ich nächstes Mal einfach ein paar Gästen Bescheid oder lasse mir von Jonathan Meese ein paar wilde Pappfiguren malen, mit denen ich Gespräche führe und vielleicht auch vertraulich bin.



Zum Warmlaufen und Durch- und Ausschwitzen mache ich ein wenig Rentnerprogramm: Hier wird ein Schloß gebaut, dort liegt was im Bikini herum, schöne Frauen blinzeln mir von Plakaten zu und tun auch sonst sehr freundlich. Als mir beim Kramen im Rückgabeschacht des Fahrkartenautomaten ein Zehn-Cent-Stück auf den Boden rollt, hat sich schnell eine Dame gebückt, klaubt mit vor Kälte klammen Fingern die Münze auf - und ehe ich noch rufen kann: Hamburger! Berliner stehlen euch die Centbeträge!, reicht sie sie mir mit einem Lächeln zurück. Ehe dieser Typ von "Verstehen Sie Spaß" aus dem Versteck springen kann wie ein Springteufel auf Speed, wähne ich aber die Lacher längst auf meiner Seite, als ich vergnügt "Na, dit is Ballin, wa!" brülle und der guten Frau jovial in die Wange kneife. Es kommt aber doch kein TV-Team, da ist es mir ein bißchen peinlich.



Weil ich es vor Jahren schon wollte, aber nie dazu kam, besuche ich wie ein staatlich bestellter Vergänglichkeitsforscher das Medizinhistorische Museum in der Charité. Ein Teil von Virchows Sammlung ist dort in einer überschaubaren Daueraustellung zu sehen (der umfangreiche Rest nur mit Führung), die Entwicklung bestimmter Diagnose- und Therapieformen demonstriert und allerlei chirurgische Instrumente (die sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert haben) ausgestellt. Mich beeindruckt die Eiserne Lunge aus den 50ern. Gleichzeitig im wahrsten Sinne beklemmend, ein Überlebensgefängnis, aber auch beeindruckend als ein edles Stück Industriekultur: Hammerschlaglackierung, chromglänzende Hebel und Schalter, eine organisch abgerundete Form - hier war eine Maschine nicht nur zweckdienlich, sondern wurde sichtbar vernünftig und mit Sinn und ästhetischem Bewußtsein gestaltet. Ähnlich zwiespältig in Auftrag und Wirkung manche der Präparate. Verformungen, Vernarbungen, allerlei Malignes und dann die Fehlbildungen: fahle Sirenen, anmutige Sänger, zerebral geschädigt, aber in ihrer Erscheinung sehr wundersam. Man ahnt, woher sich Mythen und Fabeln eben auch speisen. Ein am abgerundeten Schädeldach zusammengewachsenes Zwillingskelett zeigt, wo H. R. Giger möglicherweise seine Einflüße für die Gestalt des Alien herhatte. Biomorphe Strukturen, die fremdartig wirken, uns zugleich aber befremdlich nahe sind.



Im Weltraum, darin Berlin sehr ähnlich, hört einen keiner schreien, heißt es seither, deshalb stoisch und nur die lustigsten Anekdoten im Halfter weitermarschiert, denn für abends hat Frau Gaga alles so schön vorbereitet. Wir sehen uns zu selten, zu lange mußte ich pausieren, nun aber stehen Getränke bereit (ich nur einen winzigen Schluck, Frau Gaga auch) und eine ganz dufte Stimmung. Als Hamburger kenne ich manchen Schnack von Irrungen und Wirrungen, trübseligen Ebben und finsteren Sturmfluten, so ist der reichgedeckte Tisch im Vorbeiflug geplündert, während wir beschwingte Dönekes tauschen. (Ganzer Bericht hier.)

Aus der Nacht draußen tauchen zwei junge Blondinen auf, die um ein Foto bitten. Nicht von mir, ich bin zunächst geknickt, tue aber, um meine welterfahrene Begleitung zu beeindrucken, schnell so als wüßte ich, wie man mit einem modernen Telefon umgeht und mache ein Straßenlaternen-Shooting, mit dem ich demnächst groß rauskommen werde. Beim nächsten Mal sollte ich die Brille vielleicht besser erst hochschieben.

Dann stehen wir noch ein wenig wie kichernde Teenager vor dem Klingelschild von Jonathan Meese. Ich überlege, wie lustig es wäre, den guten Mann rauszuklingeln und mir zum Geburtstag ein auf die Schnelle selbst gemaltes Bild von ihm signieren zu lassen. Aber wenn man nicht mehr ganz 37 ist, wird man vernünftig. Nachher ist der erzbeliebte Künstler weg und die letzte U-Bahn auch.

Am nächsten Tag sitze ich mit einer jungen Dame im Café, und wir tauschen ganz alte Schule Adressen aus. In, Achtung, Getränke kurz absetzen, unseren Notizbüchern! Mit einem Stift! Vor Rührung über diesen Manufactum-Moment werden meine Züge ganz weich. Abends zeigt mir Frau Casino ein kleines, gut besuchtes italienisches Restaurant, so kuschelig, daß ich gleich die Blondine und deren Mann am Nachbartisch an meiner Begeisterung über die Präparate in der Charité teilhaben lasse. Ich meine, bevor man anfängt, beim Essen über Nichtigkeiten zu reden! Die beiden bleiben aber gefaßt, und Frau Casino erschüttert so schnell sowieso nichts im Leben. Die steuert auch sonst souverän jeden Tag einen Viermaster und kann meine kleinen pathologischen Berichte lässig mit mindestens so beeindruckenden Erlebnissen parieren. Prodesse und delectare wie es zurecht heißt. Ich habe einiges gelernt. Und die Influenza ist ein ganz bezauberndes Mitbringsel. Ganz verschmust.

>>> Geräusch des Tages: Tropic Of Cancer, A Color


 


Donnerstag, 15. Oktober 2015


Lowlands



Herbst wird der Herbst erst, wenn Low ein neues Album herausbringen und mit einem Konzert ihre berührend einfach gestrickte, melancholische Decke über deine Stadt legen. Die Vorgruppe, anstrengend dahergeklampfte, von sich selbst ergriffene Küchentischmoritaten (irgendwas um C-Dur und G und D), wird freundlich verabschiedet, ("In Hamburg sagt man Tschüß!"), dann elektrisches Knistern (als wären die nicht geerdet, pah), eine sehr tiefe Bodenfrequenz übers Effektgerät hineinoszilliert und Low schaben los, sanft schwingend, extrem kontrolliert bis in die gelegentlichen Feedback-Ausbrüche hinein.

Das Trio aus Minnesota, quasi das Norddeutschland der USA (in einer kurzen Unterbrechung werden wir über die Wetterlage aufgeklärt), ist nicht da, viele Worte zu machen, sondern die frohe Botschaft zu verkünden. Im Publikum halten einige Herren, die sogar älter sind als ich, vielleicht wollten sie zum Downtown Blues Club oder Landhof Walter, auch hier im Knust tapfer durch. Sie hören Lieder über den sterbenden Affen, Abneigungen und Lügen, wie es ist, sich auf die Zehen zu pissen, allesamt stoisch vorangetrieben vom Standschlagzeug, unaufgeregt zersägt von rostigem Gitarrenkreischen. Wie das so ist, wenn die Dinge kaputtgehen. "Lovers sleep alone".

So ein Regenspaziergang im eisigen Hafenwind wäscht einen schön durch, klappt einem den inneren Mantelkragen hoch, wappnet gegen Erinnerungen und blümchenduftvernebelte Illusionen. Danach dann dämmrig mit der U-Bahn heimrumpeln, vorbei an zittrigen Lichtern. In klamme Laken schlüpfen.

Setlist Hamburg

>>> Geräusch des Tages: Low, Pissing

Radau | von kid37 um 13:37h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 26. September 2015


It's me!



Das Schöne am Reeperbahn-Festival ist ja, daß man da nicht darauf achten muß, ob man das coolste T-Shirt anhat oder die Schuhe spitz genug sind. Einfach alte Akkreditierungskarten und Backstage-Pässe herausgekramt, alles umgehängt wie winters einem Weihnachtsbaum, und schon erreichen einen auch als älteren Herren eine Menge großäugiges Geklimper und freundliches Geschau. Man ist eben parkettsicher hier in Hamburg, und wenn irgendwo eine Rock'n'Roll-Veranstaltung mit jungen Leuten ist, dann füge ich mich ein, passe ich mich an, ganz als gehörte ich dazu. (Auch bekannt als "Schulze-und-Schultze-Methode" und für exotische Reiseorte sehr empfehlenswert.)

Das nächste Mal nehme ich vielleicht einen abgewetzten Gitarrenkoffer mit, auch um meine Schätzchen von der Flatstock-Poster-Convention, die zeitgleich zum Festival stattfindet, nach Hause zu tragen. Dieses Jahr hatte ich Geld vergessen und wollte mir mit den mitgeführten 25 Euro gleich ein Limit setzen. Das reichte für einen hübschen Druck für Sleater Kinney. Erst ein Kollege mußte ich darauf aufmerksam machen, daß in einer schummrigen Ecke ein Plakat mit hohem Schwarzwertanteil hing. "Mulder, it's me" rief es mir entgegen, als ich erstmal die Brille geputzt hatte. Fast verpaßt, denn wahrlich lange ist es her, daß mir eine schöne Rothaarige hinterhergerufen hat! Alles nur, weil ich so mit VIP-Karten dekoriert war wie ein Weihnachtsbaum!

Derart auf der Reeperbahn willenlos gemacht kam es, daß ich erstmals in meiner Zeit in Hamburg diesen berühmten Geldautomaten an der "sündigen Meile" benutzen mußte, um nachzutanken. (Ich schätze, morgen ist das Online-Konto leergeräumt, an diesem Ort muß man ja mit allem rechnen.) Aber wenn man den Hals voll Backstagepässen gehängt hat wie ein Weihnachtsbaum, kann man schon mal coole Sachen machen. Um ein paar Maak bestückter, konnte ich dann die Nummer 6 von 8-und-unleserlich erwerben. (Wäre es eine "37" gewesen, ich hätte nicht überlebt.) Ich hoffe, ich kann recht bald in ein schönes Schloß umziehen, mir fehlen daheim wirklich die Wände.

Radau | von kid37 um 20:10h | 2 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 25. September 2015


Urlaub #I



Endlich Herbst! Dunkle Wolken senken den hochmütigen Menschen wieder das Haupt, Schwermut und Demut schlurfen wie graue Geschwister mit ihren Decken zum nunmehr verlassenen Freibad. Drücken zögernd die Klinke des verschlossenen Tores. Verhallt, verhallt die Schreie und Juchzer der Kinder, die bunten Bälle, alle verweht. Endlich Herbst, sage ich, die Mühsal der sommrigen Urlaubstage vergessend, durchatmen in schöneren Kleidern, kein Schweiß, kein Speiseeis klebt auf meiner Brust. Sommerfähnchen hängen längst in den Schränken, Wespen zucken klamm in dichter gewebten Netzen fetterer Spinnen.



Könnte ich wählen, ich wäre ein Urlaub in Deauville, trüge mit nach innen gekehrter freudiger Empfindsamkeit meinen neuen Strandanzug und genösse kühlere Gischt und die ehrliche Ruhe der Nachsaison. Die Fotografin Kourtney Roy hat das für mich als stilles Glück verfilmt, eine Stimmung zum Mitnehmen, eine Heimat für schön schwere Gedanken, fern von goldenem Flitter und verlogenen Versprechen. Die Hitze zu kosmischem Staub verfallen, wie eine Blase verschrumpelt, als Nachhall nur noch wie giftiger Auswurf einer fernen Explosion. Tiefer atmen jetzt mit volleren Nüstern: Auf Ernte folgt Moder, ein Ende. Wenigstens Wahrheit.