Sonntag, 6. Oktober 2013


Tadaa!



So. Während ihr alle wieder an den Buffets von Filmempfängen und Vernissagen rumhängt, die Nächte mit innerlich und äußerlich schönen Menschen durchtanzt, willkommen im Hort der banalen Geschichten und belehrenden Sonntagspredigten. Aber getanzt mit einem Twist!

Mir, der ich im Leben quasi nie etwas verloren habe - gut, mein Herz natürlich schon, die Liebe auch oder Zuneigung und das Vertrauen anderer, selbstverständlich. Aber was die dinglichen Dinge angeht, halte ich meine Siebensachen gerne und meist erfolgreich bei mir. Soll kein Angeben sein. Ist so. Andere können dafür gut... na ja, irgendwas können andere meist auch. Jedenfalls ließ mir der Verlust des Objektivdeckels keine Ruhe. Um eine persönliche Niederlage zu vermeiden, fuhr ich heute die Strecke nach, die Augen sozusagen wie die Nase eines Spürhundes auf die Straßenränder gerichtet auf der Suche nach einem schwarzen runden Plastikding. Alles nur, weil ich es zu nachlässig locker in die Hosentasche gesteckt hatte.

Ich fand aber nichts. Das heißt doch. Ganz in der Nähe, wo ich meinen Objektivdeckel vermutete, lag plötzlich ein offenbar nachlässig locker in die Hosentasche gesteckter, dann aber herausgefallener zusammengeknüllter Fünfeuroschein. Dasjanding, dachte ich. Und: Das kommt davon, wenn man Dinge nachlässig in die Hosen stopft! Dann fällt's raus. (Notiert euch das.) Auch dachte ich, Gott nimmt, Gott gibt aber auch und nahm selbst den Schein in vorläufige Sicherheitsverwahrung. (Wer kürzlich dort in der Nähe einen verloren hat und nun meint, ihn wiederzuerkennen, bitte dienliche Hinweise unter Glaubhaftmachung einer exakten Beschreibung an mich.)

Eine Zustoßung von Glück! Dennoch, der Deckel blieb verloren. Am Kanal hielt ich innere Einkehr, beobachtete den einsamen Schwan, der seit ein paar Wochen dort seine Solokreise zieht und dachte über die Bedeutung dieses offenkundigen Fingerzeiges nach. Was man verliert, so schloß ich, verliert man nur halb. Denn niemals geht man so ganz, auch wenn man weg ist. Zehn Euro kostet so ein Deckel, die Hälfte hatte ich also schon mal wieder drin. Man darf den Glauben nicht verlieren, muß aber auch etwas dafür tun und darf nicht zu Hause sitzen und meinen, das Glück oder auch nur ein Objektivdeckel klopften an die Tür!

Ein wenig ist es manchmal aber doch so. Denn was liegt bei meiner Rückkehr vor der Türe des Fahrradkellers? Ja, ruft es ruhig im Chor: der Objektivdeckel! Seit einer Woche treu ausharrend und nur wenig verängstigt hielt er sich zwischen Herbstlaub gepreßt, sicher nur flach atmend, aber wohlbehalten. Da heißt es immer, es lohne sich nicht, alte Wege nachzugehen. Mein Leben ist so reich! Fünf Euro im Plus, um genau zu sein.

>>> Geräusch des Tages: Sparklehorse with PJ Harvey, Eyepennies


 


Donnerstag, 3. Oktober 2013


Ein Tag am Kraftwerk





Als Eleanor Rigby des Blogwesens gilt es, vom Feiertag zu berichten. Tilda Swinton ist in der Stadt, einen Preis entgegennehmen, aber man kann bei Frauen nicht immer auf Nein oder Nein, Ja oder Ja warten, also besser schnell den imaginären Hund angeleint und raus ins Freie. Sonnenschirm dabei nicht vergessen, es sind ja nicht einmal Wolken zu sehen. Ankreuzen gegen den Wind, und wenn einem der Wind entgegenbläst, herrscht ja eh die beste Stimmung. Nicht so auf dem Rad, kleine Pause daher unten am Kraftwerk, dort wo sich allerlei Vögel am Wasser sammeln. Auch die kauzigen.

Dabei dann den Objektivdeckel verloren. Ein Geschehnis mit Ansage, weil ich schon dachte, als ich den locker in die Hosentasche steckte, na, nicht daß der nachher weg ist. Schalt mich aber gleich selbst der durchstrukturiert denkenden Spießigkeit, also locker den Deckel in die Hosentasche gesteckt. Und nun ist der weg. Seltsames Phänomen, wie ich daheim nun schon fünf Mal in die Hosentasche griff, gleich einem nackten Mann im Angesicht der Steuerbehörde dort aber nichts finden kann. Jedenfalls keinen Objektivdeckel. Ein altes Taschentuch hilft hier nicht weiter. Immerhin habe ich den imaginären Hund nicht vergessen. Nicht, daß mir jetzt einer mit dem Tierschutz kommt.

Mehr Aufregung ist aber nicht passiert, das sind so die Tage, an denen ich im Anschluß ein wenig Schlaf finde. Ich komme jetzt in das Alter, so stellte ich an mir selber fest, als ich später im Fernsehen eine Landschaftsbesichtigungssendung vom Sofa aus verfolgte, in dem sich Männer für die Rosenzucht begeistern können. Das kommt nun auf meine Liste. Vor dem Löffelabgeben noch eine eigene Rosensorte züchten. Rosa triginta septimus, beliebt auch als Reisemitbringsel. Der NDR-Gartenmann verriet heute, daß man Mehltau mit einem Gemisch aus Milch (muß nicht laktosefrei sein) und Wasser vorbeugen kann. Das immerhin habe ich bereits gelernt, der Rest kann so schwer nicht sein.

Man braucht Pferdeäpfel dazu, jedenfalls gab es da mal einen Film mit Jean Gabin, so meine ich, der brauchte das immer für seine Rosen. Ich komme übrigens auch in das Alter, in dem Männer ein altes Gestüt übernehmen, das böte sich an, weil sich das eine mit dem anderen verbinden ließe. Dort könnte - jetzt nur als Beispiel - ab und an Tilda Swinton vorbeischauen, ungezwungen Ausreiten in eng anliegender Kluft, ein wenig Plaudern und anschließend mit einem Bund schöner Rosen zum Filmfestival fahren, weitere Preise entgegennehmen.


 


Dienstag, 1. Oktober 2013


Alles mal so hingeworfen (aber bio!)

Wir lebten in freigelegten Ziegelwänden/
zwischen Medizinbällen aus braunem Leder.
Wir tranken unser Soja noch aus Genen/
hielten Hunde aus dem Bauhauskatalog.

(Don Pascal, "Dein Liebster war ein Hipster")




Bei mir liegt ja alles immer nur so rum. In meinem Kopf, in meinem Zimmer, in meinem Viertel. Plunder und Zeugs, Plastikreste und durchweichte Kaffeefiltertüten, zerbröselte Eierschalen, Dinge, die wir nicht wissen, Dinge, die ich nur ahne, der Rest ist aus Polyester und Acryl. Ein Versagen an Lebensführung, so heißt es. Wie das oft so ist: Der eine verbettelt sich, der andere verbittet es sich.

Wie schöner ist doch der Dreck der Straße in den aufgeweckten Vierteln, wo die schönen Menschen wohnen. Hier wird nachhaltig gemüllt, hier zeigt man was die Tonne hat und leisten will. Hier wird biologisch verklappt, hier riecht Hipstermüll nach Oleander und Jasmin.

Seit ich auf den Lilienweg gelockt wurde, riecht es schwer und dunkel wie ein Mausoleum. Abends sitze ich mit einem Glas Getränk vor den harten Knospen, warte auf den Moment, da sie aufgehen, sich auffächern zur obszönen Größe, die Sinne vernebeln. Tage später dann der langsame Blumentod. Klagendes Altern, ich rede gut zu, tröste, belehre, halte einen aufmunternden Vortrag. Der Erde warst du entrissen, predige ich. Zur Erde wirst du gehen. Was Blüten halt so hören möchten, geht es ans röchelnde Adieu. Blütenstaub rieselt auf die Flächen, schwere Linnen, Gedanken hängen schwer wie ein Frachtflugzeug an herbstlichen Himmeln. Dann der Bescheid, das war wohl nichts, das kommt nicht wieder. Zusammenwringen also das Blumengestrüpp, einen Knoten machen, zum Müll bringen, leere Olivenölflaschen schmücken, vielleicht Kerzen ausbringen aus echtem Wachs. Schön, schön, schön der letzte Genuß.


 


Dienstag, 24. September 2013


Apfelmantie

Es gebe immer weniger Kornkreise, wurde kürzlich im Fernsehen berichtet. Einer der Macher habe mittlerweile heftigen Heuschnupfen entwickelt und mußte sich selbst von dieser schnörkeligen Kommunikationsarbeit freistellen. Herr Buddenbohm andererseits war nun im Alten Land zur Apfelernte und brachte eine pausbäckige Ausbeute mit. Fox Mulder Ich hingegen studiere einmal mehr die kryptopomologischen Handbücher auf der Suche nach den Bedeutungen der runzligen Botschaften höherer Instanzen, die diese mir mit Hilfe süßer Früchtchen wieder einmal untergeschoben haben. (Wir hatten das Thema hier ja schon mal, ich finde aber gerade den Link nicht).

Ich bin sicher, mit diesen Hieroglyphen einen wichtigen Schlüssel in den Händen zu halten. Leider welkt mir die Zeit, diesen zu entziffern, schneller hinweg als ich "Fruchtfliege" buchstabieren kann. "Verloren für die Menschheit für immer", kann ich da nur zitieren, in der einen Hand Äpfel haltend wie ein zweifelnder Dänenprinz, in der anderen den Deckel vom Mülleimer. Vielleicht die Formel für ein wichtiges Medikament. Vielleicht ein Datum für ein wichtiges Weltereignis. Vielleicht auch bloß ein intergalaktischer Einkaufszettel ("Bring Gene von der Erde mit!"). Ich habe überlegt, die beiden Äpfel den Einsamen Schützen vom CCC mitzubringen. Vielleicht gelingt es denen, mit den Früchten den Scanner neuartiger Telefone von Apple zu überlisten.

Bis dahin könnte man Textnachrichten über verschlüsselte Äpfel austauschen. "Ruf mich heute abend mal an!" oder "Ich habe heute nacht ganz herzlich an dich gedacht" oder "Liegt meine Obstkiste noch bei dir?" Dann könnte man ein Blog mit Fotos der schönsten gesammelten Apfelbotschaften eröffnen und im Anschluß eine Buchreihe herausbringen mit den witzigsten davon. Apfelbotschaften von gestern Nacht. Vielleicht gründe ich aber auch eine grüblerische Sekte, lege in kargen Behausungen die Inschriften mit Blattgold aus und binde sie in Bücher aus auf dem Ofen getrockneter Apfelhaut. Im Alten Land feiern wir dann rituelle Feste im Morgen Abendnebel, apfelbäckige Deerns in leichten Gewändern sammeln Früchte in ihren Schürzen, juchzend werfen wir uns Kerngehäuse zu, trinken süßen Saft und warten auf die Ankunft der großen illuminierten Schiffe.


 


Freitag, 20. September 2013


So böse alles



Die letzten Tage dann ein wenig mit dem Rad unterwegs gewesen, durchs Naturschutzgebiet, an der Düne vorbei, durch Vorort-Siedlungen wo auffällig viele Galgen in Vorgärten stehen. Daran Schilder von Immobilienmaklern: Zu verkaufen, Haus zu verkaufen, günstig zu verkaufen. Alles muß raus, der Radwanderer, der ungelüftete Mensch, die Vorstadtimmobilie.

Heute ich selbst und das Wetter mehr so unbestimmt, daher kurz ins Museale. Im MKG laufen noch die Bösen Dinge. Eine "Enzyklopädie des schlechten Geschmacks" wird angekündigt und allerlei Gegenstände ausgestellt, die aus unterschiedlichen Gründen als "böse" gelten. Das sind Sachen, die einst als muntere Reiseandenken oder frivole Kellerbargeschenke galten, die in unserer Zeit die Sprach- und Moralpolizei aus den Blogbereitschaftswachen locken. Oder die Ästhetikkripo. Als Kontrapunkt und Belehrung am Ende des Raums eine Installation mit Dingen des "guten Geschmacks", denn es gibt sie ja noch, die guten Dinge, viel Manufactum Wagenfeld und Werkbundästhetik also. Im Grunde so wie bei mir. Meine Wohnung ist ja vollgerümpelt mit bösen Dingen, Kadaverchic und Gestaltungsverbrechen ("Zwinker, Zwinker!") - und räumt man die beiseite, ist alles ein geschmacksbürgerlich mahnender Zeigefinger aus Wagenfeld und Eileen Gray. Pfff.

Auf der anderen Seite derselben Etage läuft zur gleichen Zeit eine Ausstellung mit Fotografien von Steve McCurry. Ich finde die Setzung sehr ironisch. Denn wenn man etwas zynisch ist, hängen hier die "bösen Dinge" von morgen. McCurry, hochdekorierter Fotograf für National Geographic, hat hier eine Vielzahl allesamt eindrucksvoll pittoresker Reisefotos ausgehängt. Wie der aufgeblätterte Wandkalender im Oberstufenratdaheim gibt es bemerkenswert großäugige Afghaninnen, buntgekleidete Inder, noch buntere Elefanten, badende Bartmänner im Ghanges, natürlich das Weltpressejahresfoto mit dem Mädchen aus Dingsbumstan, kurz ein kulturbunter Reigen aus dem fernen Asien und Nordafrika. Alles toll fotografiert, da meckert man nicht, und toll gefärbt, und toll langweilig auch. Nun bin ich zugegebenermaßen auch überhaupt nicht zu begeistern mit "Asien" oder der westlichen Kulturtourismusvorstellung davon, diese Begeisterung für "Indien" und "Tibet" und "China" hat mich nie ergriffen. (Einzig diese Tempelanlagen in Kambodscha und Vietnam finde ich interessant, wo man sehen kann, wie verschlungenes Wurzelwerk durch verschlungene Bauwerke furchen.) Das ist das eine. Dann stört mich aber diese durchgehende Magazin-Ästhetisierung in diesen Knallkontrastfarben, jedes Bild eine gefällige Ansichtskarte. (Für das Bildbearbeitungsprogramm Gimp gibt es einen eigenen Filter "National Geographic", der diesen Kitschstil sehr hübsch nachahmt. Das sagt schon viel.)

Es gibt also viel Ah und auch Oh, denn viele Besucher sind hier und betrachten die rührende, farbenfrohe Armut, (diese umstrahlt laut Rilke ja "ein stiller Glanz von Innen"*) - auch so eine Art Kadaverchic, Negerpüppchen für Besserdenkende. Großes Lob also ans MKG, diese beiden Ausstellunge so erhellend gegeneinandergestellt zu haben. Aber vielleicht sehe das auch nur sich so - und bin schon auf dem Weg in die Möbelsammlung, wo es zuvor ganz tolle Kostüme des expressionistischen Tanzes zu sehen gibt und dann viel von Wagenfeld. Zur Beruhigung der aufgepeitschten Sinne.

Dann noch schnell zum Amt, meine Stimme abgeben. Im Aufzug zum Dritten ein wenig mit einer jungen Frau geplaudert, die es auch zur Urne drängte. Obswasbringt Wasändert und Toitoitoiganzbestimmt. Überlegt, was sie wohl gewählt haben mag. Ich fand sie da schwer einzuschätzen. Auf die jungen Menschen ist schließlich kein Verlaß. Die lokale Krawallzeitung hatte neulich eine Straßenumfrage, da waren dann an und für sich vernünftig ausschauende junge Menschen abgebildet, wo man dachte, ach, vernünftige junge Menschen, mal schauen, was die so wählen. Da gab es eine "Angela" (21), die eine Namensvetterin gut fand. Und ihr Freund, "Jens-Uwe" (23), empfahl sogar die CDU. Eine an und für sich attraktive junge Frau (24) gab als Beruf "Immobilienmaklerin" an und wählte, es ist vorhersehbar wie die Farbgebung eines Bildes bei National Geographic, die FDP. Ich selbst habe mal eine an und für sich attraktive junge Immobilienmaklerin kennengelernt und sagte, Mensch, Immobilienmaklerin in Hamburg, "da hast du ja eine richtige Schlüsselposition inne". So als Witz. Maklerin. Schlüsselposition. Hat sie aber gar nicht verstanden, dabei hätte man schön gemeinsam lachen können. Und Augenzwinkern. Und anstoßen aus kitschigen Gläsern. Die hielt dann aber ein Schild hoch. Ich muß raus.

("Böse Dinge - Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks", bis 27. Oktober 2013. "Steve McCurry - Überwältigt vom Leben". Bis 29. September 2013. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg.)


 


Montag, 16. September 2013


Le Herbst

Bekanntlich ist nicht nur Geschlecht, sondern auch die Vorstellung, im Sommer alberne und vor allem den Körper nur unzureichend bedeckende Kleidung tragen zu müssen, bloß ein soziales Konstrukt. Glücklicherweise aber nähern wir uns den Jahreszeiten, da die Natur auch solches richtet.

Regen und ab und an ein bißchen Regen sind für diese Woche vorhergesagt. Das paßt gut, denn da habe ich Urlaub. Ich besitze ja allerlei meist mittelmäßig ausgeprägte Talente, aber tatsächlich fehlen mir unter anderem ein Händchen fürs Heiraten und eins fürs Verreisen. Heiraten ist nun zum Glück anders als zum Beispiel Geschenke einpacken, eine Wand zu streichen oder einen Wasserhan zu reparieren nichts, was allzu häufig von einem gefordert wird. Aber in hübscher oder in diesem Fall auch nicht so hübscher Regelmäßigkeit muß ich mich mit diesem Konzept namens "Urlaub" beschäftigen. Jedes Jahr aufs Neue, denn beide lernen wir nicht.

Was will man machen? Man kann ihn ja nicht mal verschenken, auch wenn es bei diesen Gelegenheiten, zumeist bei Menschen die soeben aus dem eigenen Urlaub zurückgekehrt sind, sehr häufig heißt: "Hast du es gut. Den hätte ich auch gern." Während ich denke, oje, oje, oje. Als wäre ich nicht schon krank genug! Dieses Jahr stand ich sogar um Fingerbreite davor, fühlte mich auch ausgelaugt und herumgezerrt genug für solcherlei frivole Unternehmungen, hatte sozusagen die Reiselektüre schon herausgelegt. Dann aber gab es Ereignisgeschehen und Ausbrennsymptome und schon versprach die Wettervorhersage, komm, ich mach's dir schön wie es der Herbst nur kann. Mal ehrlich, wer will da noch weg?

So sitze ich nun in meinem Zimmer und lese, denn dazu komme ich ja sonst auch nicht. Ich träume von wilden Abenteuern, so wie "einfach die Bettwäsche nicht mehr wechseln und sich ganz jung und unbekümmert fühlen". Jedermann sein eigenes Dschungelcamp! Oder "einfach alle Kreditangebote, die in mein eMail-Postfach trudeln, annehmen und eine Yacht kaufen!" Oder, ganz verrückt, "auf der Fernbedienung mal ganz bis nach hinten zappen!" Könnte ich alles machen.

Stattdessen komme ich erstmal Stufe für Stufe herunter, schalte nach und nach alles ab, vor allem die summenden Transformatoren in mir, stelle überall in der Wohnung Zettel auf mit "Ruhe!" und "Pst!" und tausche im Bad die Mischbatterie aus. Das hat vierzig Minuten gedauert und war eine große Befriedigung. Alles selbst geschraubt und das in einer Zeit, in der ich die alte nicht so glänzend geschrubbt bekommen hätte. Ich entdecke Talente.


 


Mittwoch, 11. September 2013


Re:visited Akte-X

It's the truth or a white whale.
What difference does it make?
I mean, both obsessions are impossible
to capture, and trying to do so will only
leave you dead along with everyone else
you bring with you.

(Scully in "Quagmire")



Absent. Ein UFO, so ist zu vermuten, hatte mich die Tage entführt und in die Zeit zurückgeworfen. Gestern vor 20 Jahren nämlich war der Tag, an dem sich das Fernsehen für immer änderte. Oder wie es neulich hieß: davor gab es nur "Matlock", dann kam "Akte X". Am 10. September 1993 wurde die erste Folge dieses US-amerikanischen TV-Melodrams ausgestrahlt, von der alle zuerst dachten, es ginge darin um Ufos und Aliens, Monster, Verschwörungstheorien und geheimen Regierungsaktivitäten, die sich gegen die Bevölkerung richten. Dinge, also, von denen wir alle wissen, daß es sie nicht gibt.

Jetzt kann man natürlich sagen, "Mensch, Moby Dick, das ist so 19. Jahrhundert!" oder "Akte-X, so 90er-Jahre!", unterschlägt dann aber entweder die Wahrheit, sein popkulturelles Wissen oder, schlimmer, die eigene Geschichte. So waren es Autoren von Akte-X, die später hochgelobte Serien wie Homeland oder Breaking Bad schufen, und selbst Großregisseure wie Ridley Scott bedienten sich für (den insgesamt leider recht mäßigen) Prometheus eifrig bei den X-Akten, von einzelnen Ideen wie dem "schwarzen Öl" bis hin zur Übernahme kompletter Sequenzen aus dem ersten Kinofilm.

Akte X (dazu aber später mehr) hat am Ende Wahrheiten auf mehreren Ebenen gefunden. So wurde tatsächlich aufgedeckt, daß es eine Regierungsverschwörung gibt, die wiederum deckt, daß an der Bevölkerung medizinische Experimente durchgeführt werden, Big-Data gesammelt und... na ja, Dinge, die sich so Spinner, die beim Fernsehen arbeiten, halt ausdenken. Ein bißchen Quatsch ist immer. Im Serienableger von den "Einsamen Schützen", wo es um die drei Hacker aus der Hauptserie geht, wurde im Frühjahr 2001 sogar eine Folge gezeigt, in der ein Flugzeug in das World Trade Center... na ja, Quatsch halt. (Die Folge sorgte trotzdem für eine Menge Irritationen auch bei sogenannten "höheren Stellen".)

Wichtiger, und das muß man keinem Fan oder aber mir erklären, ist natürlich die andere Wahrheit, die sieben (plus zwei weitere) Staffeln lang verfolgt wurde. Von den FBI-Agenten Edward Sno Fox Mulder und Dana Scully, die mit riesigen Drahtlostelefonen und ebenso großen Brillen (ja, es waren wirklich die Neunziger) das taten, was man zu zweit so sieben Jahre lang erleben kann. Sie unternahmen Ausflüge in die Umgebung, kleinere Städte und Dörfer meist, besichtigten dort einsame Gehöfte oder verlassene Industrieanlagen, übernachteten draußen oder in Höhlen, trafen verschrobene Gestalten, hörten sich Legenden der Umgebung an, jagten Tiere, Außerirdische und Verbrecher, überlebten Krankheiten, richtig bösartige Krankheiten, mörderische Bienenschwärme, tödliche Infektionen und Verbrennungen, Schußwunden und Krankenhäuser. Am Ende gibt es ein Kind, dann aber (wir sind im verflixten siebten Jahr) auch die Trennung, Mulder muß mal Zigaretten holen, einen wichtigen Auftrag erfüllen, untertauchen, kurz: die beiden durchlitten Dinge, wie jedes andere Paar auch.

Eine dramatische Liebesgeschichte also, verpackt in eine freilich absurde Rahmengeschichte, nach der es (hahaha) eine Verschwörung geben soll, bei der die Regierung (also bitte!) die eigene Bevölkerung an extraterritorial operierende Organisationen verrät. Und weil es eine Liebesgeschichte ist, kann sich auch jeder damit identifizieren. Selbst Menschen, die damals, also den furchtbar passé-seienden Neunzigern, noch gar nicht geboren oder viel zu jung für Akte waren. Wer bei Youtube mal unter "X-Files" sucht, wird Tonnen von Videos entdecken, die - auf der Suche nach der Wahrheit - Schnipsel und Fakten aus der Serie neu zusammenschneiden, ikonische Szenen zusammensuchen wie die berühmte Tanzszene aus "The Post-Modern Prometheus" oder die berühmte Szene, in der Mulder Scully zeigt, wie man Baseball spielt, oder die berühmte Szene... überhaupt: die Blicke. Also die berühmten Blicke. Es gibt Tonnen von Fan-Videos, die sich auschließlich mit den Blicken beschäftigen, die sich Mulder und Scully im Laufe der Jahre zugeworfen haben.

The Philosophy of the X-Files versammelt hochinteressante Essays über Denkmuster und Struktur der Serie, so wie den Aufsatz über Abduktion als dritte Möglichkeit der Schlußfolgerung neben Induktion und Deduktion - und zugleich ein hübsches Spiel mit einem zentralen Motiv der Serie, der alien abduction. Mulder, der übrigens am 13.10. Geburtstag hat, weil die Mutter des Serienschöpfers Chris Carter an diesem Tag Geburtstag hat*, was eine interessante Verbindung ist, weil nämlich Mütterchen Kid... aber gut, es hängt eben alles mit allem zusammen. Mulder also gilt seinen bausparkassenbiederen Kollegen beim FBI ja als ein bißchen überdreht mit seinen Fotosammlungen von toten Kühen und Geraune von unerklärlichen Phänomenen, ist im Grunde ein ganz dufter Typ, der sein Büro im Keller hat ("weil mich keiner leiden kann", wie er etwas selbstmitleidig sagt) und ganz in seiner Arbeit aufgeht. Der also liebt, was er tut und tut, was er liebt.

Scully ist eine Frau wie du und ich, ihre Arbeit schrieb sie über Einsteins Ideen zum "Zwillingsparadoxon", selbstverständlich wie wir alle mit Auszeichnung, wurde dann, was modernen Frauen immer zu empfehlen ist, wegen der vielen wehleidigen Männer und Unfällen im Haushalt, Medizinerin und ist folglich eine hochpatente, streng rational denkende Kollegin und Kritikerin an Mulders Seite. (Irgendwann, in einer emanzipatorischen Sequenz der Serie, begehrt sie auf, weil sie nie einen eigenen Schreibtisch besessen habe - auch das einer gewissen Lebens- und Serienwirklichkeit abgeschaut.) Gegen Ende der Serie zeigt sie nebenbei, wie schwierig es übrigens ist, ein kleines Kind allein aufziehen zu müssen und gleichzeitig als FBI-Agentin zu arbeiten.

Diese höchst unterschiedlichen Denkweisen führen vor allem zu Beginn zu Reibereien, aber auch später noch zu kritischen Auseinandersetzungen und Streitereien (bei denen man als Zuschauer ja dazwischenfahren und alle unter die kalte Dusche schicken möchte, aber egal), wenn Scully als Pathologin bis zu den Elllenbogen in irgendwelchen Kadavern oder Leichen steckt und Fakten sammelt, während Mulder seinen schrägen Hypothesen nachhängt. Aber auch zu bissigen Witzeleien, wie in der Szene, in der Mulder Scully parodiert. Am Ende einer Reihe höchst unerklärlicher quasi-apokalyptischer Ereignisse, angesichts derer sich Scully aber eisern "wissenschaftlich" zeigt, fallen plötzlich hunderte tote Frösche vom Himmel. Mulder sagt so was wie, sollen wir jetzt was Essen gehen? Scully ist total entgeistert und ruft, Mulder, hier sind gerade jede Menge tote Frösche vom Himmel gefallen. Und Mulder, ganz trocken, das läge wahrscheinlich daran, daß sich ihre Fallschirme nicht geöffnet hätten. Kommt Leute, das ist sehr, sehr hübsch.

Überhaupt der Humor. Kenne ich einerseits keine Serie, in denen den Helden physisch und emotional so brutal und übel mitgespielt wird (und die Staffeln 4 und 5 sollte man keinesfalls allein im Dunkeln schauen), sind es die vielen ironischen und selbstironischen und parodistischen Folgen, die zu Klassikern der Serie geworden sind. So gibt es eine "Jackass"-Parodie, eine "Reality-TV"-Folge, in der ein TV-Team Mulder und Scully auf Schritt und Tritt folgt, eine Episode, in der Hollywood einen "Film" über die berühmten Ermittler dreht - kurz, wo sich das Medium selbst bespiegelt. Höhepunkt ist darunter wohl die groß-großartige und komplett in Schwarzweiß gedrehte Folge "The Post-Modern Prometheus", in der "Frankenstein" nacherzählt wird. Das ist auch die Folge, in der Mulder und Scully miteinander Tanzen gehen, etwas, das ja nicht alle Paare miteinander, manchmal aber mit anderen machen.

Nach wie vor schwebt die Idee eines dritten "Akte-X"-Kinofilms wie ein irrlichterndes UFO im Raum. Der könnte die vielen immer noch losen Fäden der Serie zusammenführen und neue Fragen aufwerfen. Dieser Film war ursprünglich mal zum 21.12.2012, dem Weltuntergang also, geplant. Aber eine Regierungsverschwörung... nun ja.

>>> Mitschnitt der Frage- und Antwortrunde zum 20. Jubiläum mit Gillian Anderson, David Duchovny, Chris Carter und anderen auf der ComicCon 2013

>>> Dean A. Kowalski (Hrsg.). The Philosophy of the X-Files. (Lexington: The University Press of Kentucky, 2009. Erw. Aufl.)

>>> Zusammenschnitt von Scullyismen und Mulderismen

Super 8 | von kid37 um 15:10h | 23 mal Zuspruch | Kondolieren | Link