
Freitag, 20. September 2013
Die letzten Tage dann ein wenig mit dem Rad unterwegs gewesen, durchs Naturschutzgebiet, an der Düne vorbei, durch Vorort-Siedlungen wo auffällig viele Galgen in Vorgärten stehen. Daran Schilder von Immobilienmaklern: Zu verkaufen, Haus zu verkaufen, günstig zu verkaufen. Alles muß raus, der Radwanderer, der ungelüftete Mensch, die Vorstadtimmobilie.
Heute ich selbst und das Wetter mehr so unbestimmt, daher kurz ins Museale. Im MKG laufen noch die Bösen Dinge. Eine "Enzyklopädie des schlechten Geschmacks" wird angekündigt und allerlei Gegenstände ausgestellt, die aus unterschiedlichen Gründen als "böse" gelten. Das sind Sachen, die einst als muntere Reiseandenken oder frivole Kellerbargeschenke galten, die in unserer Zeit die Sprach- und Moralpolizei aus den Blogbereitschaftswachen locken. Oder die Ästhetikkripo. Als Kontrapunkt und Belehrung am Ende des Raums eine Installation mit Dingen des "guten Geschmacks", denn es gibt sie ja noch, die guten Dinge, viel Manufactum Wagenfeld und Werkbundästhetik also. Im Grunde so wie bei mir. Meine Wohnung ist ja vollgerümpelt mit bösen Dingen, Kadaverchic und Gestaltungsverbrechen ("Zwinker, Zwinker!") - und räumt man die beiseite, ist alles ein geschmacksbürgerlich mahnender Zeigefinger aus Wagenfeld und Eileen Gray. Pfff.
Auf der anderen Seite derselben Etage läuft zur gleichen Zeit eine Ausstellung mit Fotografien von Steve McCurry. Ich finde die Setzung sehr ironisch. Denn wenn man etwas zynisch ist, hängen hier die "bösen Dinge" von morgen. McCurry, hochdekorierter Fotograf für National Geographic, hat hier eine Vielzahl allesamt eindrucksvoll pittoresker Reisefotos ausgehängt. Wie der aufgeblätterte Wandkalender im Oberstufenratdaheim gibt es bemerkenswert großäugige Afghaninnen, buntgekleidete Inder, noch buntere Elefanten, badende Bartmänner im Ghanges, natürlich das Weltpressejahresfoto mit dem Mädchen aus Dingsbumstan, kurz ein kulturbunter Reigen aus dem fernen Asien und Nordafrika. Alles toll fotografiert, da meckert man nicht, und toll gefärbt, und toll langweilig auch. Nun bin ich zugegebenermaßen auch überhaupt nicht zu begeistern mit "Asien" oder der westlichen Kulturtourismusvorstellung davon, diese Begeisterung für "Indien" und "Tibet" und "China" hat mich nie ergriffen. (Einzig diese Tempelanlagen in Kambodscha und Vietnam finde ich interessant, wo man sehen kann, wie verschlungenes Wurzelwerk durch verschlungene Bauwerke furchen.) Das ist das eine. Dann stört mich aber diese durchgehende Magazin-Ästhetisierung in diesen Knallkontrastfarben, jedes Bild eine gefällige Ansichtskarte. (Für das Bildbearbeitungsprogramm Gimp gibt es einen eigenen Filter "National Geographic", der diesen Kitschstil sehr hübsch nachahmt. Das sagt schon viel.)
Es gibt also viel Ah und auch Oh, denn viele Besucher sind hier und betrachten die rührende, farbenfrohe Armut, (diese umstrahlt laut Rilke ja "ein stiller Glanz von Innen"*) - auch so eine Art Kadaverchic, Negerpüppchen für Besserdenkende. Großes Lob also ans MKG, diese beiden Ausstellunge so erhellend gegeneinandergestellt zu haben. Aber vielleicht sehe das auch nur sich so - und bin schon auf dem Weg in die Möbelsammlung, wo es zuvor ganz tolle Kostüme des expressionistischen Tanzes zu sehen gibt und dann viel von Wagenfeld. Zur Beruhigung der aufgepeitschten Sinne.
Dann noch schnell zum Amt, meine Stimme abgeben. Im Aufzug zum Dritten ein wenig mit einer jungen Frau geplaudert, die es auch zur Urne drängte. Obswasbringt Wasändert und Toitoitoiganzbestimmt. Überlegt, was sie wohl gewählt haben mag. Ich fand sie da schwer einzuschätzen. Auf die jungen Menschen ist schließlich kein Verlaß. Die lokale Krawallzeitung hatte neulich eine Straßenumfrage, da waren dann an und für sich vernünftig ausschauende junge Menschen abgebildet, wo man dachte, ach, vernünftige junge Menschen, mal schauen, was die so wählen. Da gab es eine "Angela" (21), die eine Namensvetterin gut fand. Und ihr Freund, "Jens-Uwe" (23), empfahl sogar die CDU. Eine an und für sich attraktive junge Frau (24) gab als Beruf "Immobilienmaklerin" an und wählte, es ist vorhersehbar wie die Farbgebung eines Bildes bei National Geographic, die FDP. Ich selbst habe mal eine an und für sich attraktive junge Immobilienmaklerin kennengelernt und sagte, Mensch, Immobilienmaklerin in Hamburg, "da hast du ja eine richtige Schlüsselposition inne". So als Witz. Maklerin. Schlüsselposition. Hat sie aber gar nicht verstanden, dabei hätte man schön gemeinsam lachen können. Und Augenzwinkern. Und anstoßen aus kitschigen Gläsern. Die hielt dann aber ein Schild hoch. Ich muß raus.
("Böse Dinge - Eine Enzyklopädie des Ungeschmacks", bis 27. Oktober 2013. "Steve McCurry - Überwältigt vom Leben". Bis 29. September 2013. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg.)

Montag, 16. September 2013
Bekanntlich ist nicht nur Geschlecht, sondern auch die Vorstellung, im Sommer alberne und vor allem den Körper nur unzureichend bedeckende Kleidung tragen zu müssen, bloß ein soziales Konstrukt. Glücklicherweise aber nähern wir uns den Jahreszeiten, da die Natur auch solches richtet.
Regen und ab und an ein bißchen Regen sind für diese Woche vorhergesagt. Das paßt gut, denn da habe ich Urlaub. Ich besitze ja allerlei meist mittelmäßig ausgeprägte Talente, aber tatsächlich fehlen mir unter anderem ein Händchen fürs Heiraten und eins fürs Verreisen. Heiraten ist nun zum Glück anders als zum Beispiel Geschenke einpacken, eine Wand zu streichen oder einen Wasserhan zu reparieren nichts, was allzu häufig von einem gefordert wird. Aber in hübscher oder in diesem Fall auch nicht so hübscher Regelmäßigkeit muß ich mich mit diesem Konzept namens "Urlaub" beschäftigen. Jedes Jahr aufs Neue, denn beide lernen wir nicht.
Was will man machen? Man kann ihn ja nicht mal verschenken, auch wenn es bei diesen Gelegenheiten, zumeist bei Menschen die soeben aus dem eigenen Urlaub zurückgekehrt sind, sehr häufig heißt: "Hast du es gut. Den hätte ich auch gern." Während ich denke, oje, oje, oje. Als wäre ich nicht schon krank genug! Dieses Jahr stand ich sogar um Fingerbreite davor, fühlte mich auch ausgelaugt und herumgezerrt genug für solcherlei frivole Unternehmungen, hatte sozusagen die Reiselektüre schon herausgelegt. Dann aber gab es Ereignisgeschehen und Ausbrennsymptome und schon versprach die Wettervorhersage, komm, ich mach's dir schön wie es der Herbst nur kann. Mal ehrlich, wer will da noch weg?
So sitze ich nun in meinem Zimmer und lese, denn dazu komme ich ja sonst auch nicht. Ich träume von wilden Abenteuern, so wie "einfach die Bettwäsche nicht mehr wechseln und sich ganz jung und unbekümmert fühlen". Jedermann sein eigenes Dschungelcamp! Oder "einfach alle Kreditangebote, die in mein eMail-Postfach trudeln, annehmen und eine Yacht kaufen!" Oder, ganz verrückt, "auf der Fernbedienung mal ganz bis nach hinten zappen!" Könnte ich alles machen.
Stattdessen komme ich erstmal Stufe für Stufe herunter, schalte nach und nach alles ab, vor allem die summenden Transformatoren in mir, stelle überall in der Wohnung Zettel auf mit "Ruhe!" und "Pst!" und tausche im Bad die Mischbatterie aus. Das hat vierzig Minuten gedauert und war eine große Befriedigung. Alles selbst geschraubt und das in einer Zeit, in der ich die alte nicht so glänzend geschrubbt bekommen hätte. Ich entdecke Talente.

Mittwoch, 11. September 2013
What difference does it make?
I mean, both obsessions are impossible
to capture, and trying to do so will only
leave you dead along with everyone else
you bring with you.
(Scully in "Quagmire")
Absent. Ein UFO, so ist zu vermuten, hatte mich die Tage entführt und in die Zeit zurückgeworfen. Gestern vor 20 Jahren nämlich war der Tag, an dem sich das Fernsehen für immer änderte. Oder wie es neulich hieß: davor gab es nur "Matlock", dann kam "Akte X". Am 10. September 1993 wurde die erste Folge dieses US-amerikanischen TV-Melodrams ausgestrahlt, von der alle zuerst dachten, es ginge darin um Ufos und Aliens, Monster, Verschwörungstheorien und geheimen Regierungsaktivitäten, die sich gegen die Bevölkerung richten. Dinge, also, von denen wir alle wissen, daß es sie nicht gibt.
Jetzt kann man natürlich sagen, "Mensch, Moby Dick, das ist so 19. Jahrhundert!" oder "Akte-X, so 90er-Jahre!", unterschlägt dann aber entweder die Wahrheit, sein popkulturelles Wissen oder, schlimmer, die eigene Geschichte. So waren es Autoren von Akte-X, die später hochgelobte Serien wie Homeland oder Breaking Bad schufen, und selbst Großregisseure wie Ridley Scott bedienten sich für (den insgesamt leider recht mäßigen) Prometheus eifrig bei den X-Akten, von einzelnen Ideen wie dem "schwarzen Öl" bis hin zur Übernahme kompletter Sequenzen aus dem ersten Kinofilm.
Akte X (dazu aber später mehr) hat am Ende Wahrheiten auf mehreren Ebenen gefunden. So wurde tatsächlich aufgedeckt, daß es eine Regierungsverschwörung gibt, die wiederum deckt, daß an der Bevölkerung medizinische Experimente durchgeführt werden, Big-Data gesammelt und... na ja, Dinge, die sich so Spinner, die beim Fernsehen arbeiten, halt ausdenken. Ein bißchen Quatsch ist immer. Im Serienableger von den "Einsamen Schützen", wo es um die drei Hacker aus der Hauptserie geht, wurde im Frühjahr 2001 sogar eine Folge gezeigt, in der ein Flugzeug in das World Trade Center... na ja, Quatsch halt. (Die Folge sorgte trotzdem für eine Menge Irritationen auch bei sogenannten "höheren Stellen".)
Wichtiger, und das muß man keinem Fan oder aber mir erklären, ist natürlich die andere Wahrheit, die sieben (plus zwei weitere) Staffeln lang verfolgt wurde. Von den FBI-Agenten Edward Sno Fox Mulder und Dana Scully, die mit riesigen Drahtlostelefonen und ebenso großen Brillen (ja, es waren wirklich die Neunziger) das taten, was man zu zweit so sieben Jahre lang erleben kann. Sie unternahmen Ausflüge in die Umgebung, kleinere Städte und Dörfer meist, besichtigten dort einsame Gehöfte oder verlassene Industrieanlagen, übernachteten draußen oder in Höhlen, trafen verschrobene Gestalten, hörten sich Legenden der Umgebung an, jagten Tiere, Außerirdische und Verbrecher, überlebten Krankheiten, richtig bösartige Krankheiten, mörderische Bienenschwärme, tödliche Infektionen und Verbrennungen, Schußwunden und Krankenhäuser. Am Ende gibt es ein Kind, dann aber (wir sind im verflixten siebten Jahr) auch die Trennung, Mulder muß mal Zigaretten holen, einen wichtigen Auftrag erfüllen, untertauchen, kurz: die beiden durchlitten Dinge, wie jedes andere Paar auch.
Eine dramatische Liebesgeschichte also, verpackt in eine freilich absurde Rahmengeschichte, nach der es (hahaha) eine Verschwörung geben soll, bei der die Regierung (also bitte!) die eigene Bevölkerung an extraterritorial operierende Organisationen verrät. Und weil es eine Liebesgeschichte ist, kann sich auch jeder damit identifizieren. Selbst Menschen, die damals, also den furchtbar passé-seienden Neunzigern, noch gar nicht geboren oder viel zu jung für Akte waren. Wer bei Youtube mal unter "X-Files" sucht, wird Tonnen von Videos entdecken, die - auf der Suche nach der Wahrheit - Schnipsel und Fakten aus der Serie neu zusammenschneiden, ikonische Szenen zusammensuchen wie die berühmte Tanzszene aus "The Post-Modern Prometheus" oder die berühmte Szene, in der Mulder Scully zeigt, wie man Baseball spielt, oder die berühmte Szene... überhaupt: die Blicke. Also die berühmten Blicke. Es gibt Tonnen von Fan-Videos, die sich auschließlich mit den Blicken beschäftigen, die sich Mulder und Scully im Laufe der Jahre zugeworfen haben.
The Philosophy of the X-Files versammelt hochinteressante Essays über Denkmuster und Struktur der Serie, so wie den Aufsatz über Abduktion als dritte Möglichkeit der Schlußfolgerung neben Induktion und Deduktion - und zugleich ein hübsches Spiel mit einem zentralen Motiv der Serie, der alien abduction. Mulder, der übrigens am 13.10. Geburtstag hat, weil die Mutter des Serienschöpfers Chris Carter an diesem Tag Geburtstag hat*, was eine interessante Verbindung ist, weil nämlich Mütterchen Kid... aber gut, es hängt eben alles mit allem zusammen. Mulder also gilt seinen bausparkassenbiederen Kollegen beim FBI ja als ein bißchen überdreht mit seinen Fotosammlungen von toten Kühen und Geraune von unerklärlichen Phänomenen, ist im Grunde ein ganz dufter Typ, der sein Büro im Keller hat ("weil mich keiner leiden kann", wie er etwas selbstmitleidig sagt) und ganz in seiner Arbeit aufgeht. Der also liebt, was er tut und tut, was er liebt.
Scully ist eine Frau wie du und ich, ihre Arbeit schrieb sie über Einsteins Ideen zum "Zwillingsparadoxon", selbstverständlich wie wir alle mit Auszeichnung, wurde dann, was modernen Frauen immer zu empfehlen ist, wegen der vielen wehleidigen Männer und Unfällen im Haushalt, Medizinerin und ist folglich eine hochpatente, streng rational denkende Kollegin und Kritikerin an Mulders Seite. (Irgendwann, in einer emanzipatorischen Sequenz der Serie, begehrt sie auf, weil sie nie einen eigenen Schreibtisch besessen habe - auch das einer gewissen Lebens- und Serienwirklichkeit abgeschaut.) Gegen Ende der Serie zeigt sie nebenbei, wie schwierig es übrigens ist, ein kleines Kind allein aufziehen zu müssen und gleichzeitig als FBI-Agentin zu arbeiten.
Diese höchst unterschiedlichen Denkweisen führen vor allem zu Beginn zu Reibereien, aber auch später noch zu kritischen Auseinandersetzungen und Streitereien (bei denen man als Zuschauer ja dazwischenfahren und alle unter die kalte Dusche schicken möchte, aber egal), wenn Scully als Pathologin bis zu den Elllenbogen in irgendwelchen Kadavern oder Leichen steckt und Fakten sammelt, während Mulder seinen schrägen Hypothesen nachhängt. Aber auch zu bissigen Witzeleien, wie in der Szene, in der Mulder Scully parodiert. Am Ende einer Reihe höchst unerklärlicher quasi-apokalyptischer Ereignisse, angesichts derer sich Scully aber eisern "wissenschaftlich" zeigt, fallen plötzlich hunderte tote Frösche vom Himmel. Mulder sagt so was wie, sollen wir jetzt was Essen gehen? Scully ist total entgeistert und ruft, Mulder, hier sind gerade jede Menge tote Frösche vom Himmel gefallen. Und Mulder, ganz trocken, das läge wahrscheinlich daran, daß sich ihre Fallschirme nicht geöffnet hätten. Kommt Leute, das ist sehr, sehr hübsch.
Überhaupt der Humor. Kenne ich einerseits keine Serie, in denen den Helden physisch und emotional so brutal und übel mitgespielt wird (und die Staffeln 4 und 5 sollte man keinesfalls allein im Dunkeln schauen), sind es die vielen ironischen und selbstironischen und parodistischen Folgen, die zu Klassikern der Serie geworden sind. So gibt es eine "Jackass"-Parodie, eine "Reality-TV"-Folge, in der ein TV-Team Mulder und Scully auf Schritt und Tritt folgt, eine Episode, in der Hollywood einen "Film" über die berühmten Ermittler dreht - kurz, wo sich das Medium selbst bespiegelt. Höhepunkt ist darunter wohl die groß-großartige und komplett in Schwarzweiß gedrehte Folge "The Post-Modern Prometheus", in der "Frankenstein" nacherzählt wird. Das ist auch die Folge, in der Mulder und Scully miteinander Tanzen gehen, etwas, das ja nicht alle Paare miteinander, manchmal aber mit anderen machen.
Nach wie vor schwebt die Idee eines dritten "Akte-X"-Kinofilms wie ein irrlichterndes UFO im Raum. Der könnte die vielen immer noch losen Fäden der Serie zusammenführen und neue Fragen aufwerfen. Dieser Film war ursprünglich mal zum 21.12.2012, dem Weltuntergang also, geplant. Aber eine Regierungsverschwörung... nun ja.
>>> Mitschnitt der Frage- und Antwortrunde zum 20. Jubiläum mit Gillian Anderson, David Duchovny, Chris Carter und anderen auf der ComicCon 2013
>>> Dean A. Kowalski (Hrsg.). The Philosophy of the X-Files. (Lexington: The University Press of Kentucky, 2009. Erw. Aufl.)
>>> Zusammenschnitt von Scullyismen und Mulderismen

Sonntag, 8. September 2013

Dienstag, 3. September 2013
In meinem neuen Tumblr-Blog Dinge, die auf Dinge geworfen wurden sammle ich Fotos von Dingen, die auf Dinge geworfen wurden. Das können Gegenstände sein wie Bierflaschen oder Zigarettenschachteln, die von Fußgängerbrücken auf Vordächer geworfen wurden. Oder Münzen und Kleingegenstände, die von Kais auf Duckdalben landen. Was es halt so gibt. Die Sache fängt wie die meisten klein an. Erst mache ich hier und da ein Foto, bei denen es heißt "Wieso fotografierst du denn das?" oder auch "Was soll das sein?". Dann liegen die so rum, bilden Stapel und bald ist es eine SAMMLUNG. Bald gibt es in Hamburg, weil die Hamburger sich freuen, daß es auch mal was in Hamburg gibt, ein gewisses Raunen, unter den im Internet veröffentlichten Bildern von Dingen, die auf Dinge geworfen wurden erscheinen witzige Unterschriften, Szene Hamburg berichtet, bald auch das Abendblatt.
Dann muß ich nach Berlin, Hauptstadt in vielem, vor allem auch in Dingen, die auf Dinge geworfen wurden, manche sagen sogar, janz Berlin is een Ding, das auf was anderes geworfen wurde. Ich muß aber aufpassen und schon deshalb dahin, damit nicht ein kreativer Schwabe Berliner auf die Idee kommt, diese Idee mit einer .com-Adresse und vielen Hipster-Werbebannern ins Netz zu stellen, damit auch Monopol und Art und schließlich derdiedas tip und schließlich Kulturzeit darüber berichten. So aber werde ich selbst mit dieser Idee bekannt, Tyler Sonderzeichen-Brûlée schenkt wohlwollende Aufmerksamkeit, die SZ-Online macht eine lange Klickstrecke mit vielen Bildern, Iris Radisch schreibt einen Verriss in der Zeit ("Quatsch, der mit Quatsch gemacht wird"), Felicitas von Lovenberg dagegen einen amüsierten Artikel in der FAZ. Dadurch werden auch Spon und Stern-Online aufmerksam, ein Spiegel-Redakteur veröffentlicht schnell ein Fotobuch mit derselben Idee, setzt sich damit aber nur auf dem Mitbringselmarkt der Bahnhofsbuchhandlungen durch.
Ich hingegen fliege nach New York (das ist eine Stadt in den USA), um dort zu fotografieren, denn, wie heißt es so schön, wer in New York Dinge, die auf Dinge geworfen wurden fotografieren kann, der kann überall Dinge, die auf Dinge geworfen wurden fotografieren. Das schlägt tatsächlich ein. Man nennt mich den neuen The Selby oder auch den Satorialist für Dinge, die auf Dinge geworfen wurden. Promis, auch aus Berlin, mailen mich an, um ihre von Dingen beworfenen Vordächer von mir fotografieren zu lassen. Der Rizzoli-Verlag wird aufmerksam und möchte einen Bildband herausgeben, allerdings meldet sich zeitgleich auch ein gewisser Benedikt Taschen, der bemerkt hat, daß Internet-Phänomene bislang an ihm und seinem Verlag vorbeigegangen sind.
Um den Kontakt zur Basis nicht zu verlieren, mache ich in Hamburg und kleineren Städten im Ruhrgebiet, wo seit Jahren schon Dinge, auf Dinge geworfen werden und auch liegenbleiben, launige Unterhaltungsabende in Pinten und anderen Szene-Lokalitäten, bei denen ich Dias von Dingen, die auf Dinge geworfen wurden an die Wand projiziere und mit lustigen Ankedoten und Erlebnissen garniere. Mittlerweile zeigen sich im ganzen Land plötzlich Menschen Fotos von Dingen, die auf Dinge geworfen wurden und treffen sich zu geselligen Abenden unter dem Motto Zeigst du mir deins, zeig ich dir meins.
Fast hätte ich vor lauter Trubel einen Anruf aus Italien verpaßt. Der Panini-Verlag ist in der Leitung, man möchte einen Sammelband herausbringen mit Klebebildchen von Dingen, die auf Dinge geworfen wurden. [aufgew.]

Mittwoch, 28. August 2013
Es galt, an der 30-Km-Marke zu kratzen. Ich weiß, das beeindruckt hier niemanden, aber man weiß ja, große Sprünge sind aus kleinen Schritten gemacht. Sonnenstand stabil, leichtes Lüftchen von achtern (meinem Rad fehlt ein Windmeßgerät, sonst zeigt der kleine Computer am Lenker ja alles mögliche an), auf gehts also mit gleich zwei geöffneten Hemdknöpfen (Hipster nennen es casual sunday) Richtung Wilhelmsburg. Letztes Frühjahr war ich zuletzt dort, und seither hat sich einiges getan. Seit Aufhebung des Freihafengebiets wurden nämlich die Grenzzäune entfernt. Jetzt kann man von der Veddel aus auf der asphaltierten Deichkrone bis ins alte Zentrum fahren. Immer schön am Wasser entlang, manchmal auch dazwischen, an Liegewiesen und Hausbootanlegern vorbei. Wer schauen will, macht einfach eine Pause auf einem bequemen Stück Deichmöblierung.
Aber auch dafür habe ich, wie für viele andere Dinge übrigens, keine Zeit, denn wie heißt es so schön: Im Leben warten die Liebe und ein Luftschiff nicht ewig. Schreibt euch das in eure Expeditionstagebücher. Meine eigene führte mich weiter über eine mittlerweile gut ausgebaute Fahrradstraße (!) zur S-Bahnstation. Dort war, eher zaghaft angekündigt durch die Internationale Gartenausstellung, ein mit Pflanzenkraft betriebenes Luftschiff aus Nantes gelandet.
Genau.
Gut, vielleicht sollte man das näher erläutern, sonst glaubt mir wieder kein Mensch. Wie nicht nur entspannte jüngere Menschen oder auch Alt-Hippies wissen, ist "Flowerpower" oder "Blumenkraft", wie die Romantiker unter uns sagen, nicht nur als Königsweg zur Antriebslosigkeit bekannt. Findige Ingenieure und Wissenschaftler aus besagtem Nantes sind daher weltweit unterwegs, um Phytokräfte in aufwendigen Experimenten zu untersuchen. Nantes, das wißt ihr alle, ist die Geburtsstadt Jules Vernes, der in zahlreichen Sachbüchern weit zahlreichere wegweisende Erfindungen und wissenschaftliche Phänomene beschrieben hat. Ihm zu Ehren gibt es ja die berühmten und, jetzt ganz ohne Schmäh, wunderbaren Machines de l'îsle, die ein paar seiner Ideen aufgreifen. Riesige Puppen, Elefanten und andere mechanische Wesen.
Ein unerschrockenes Team aus Nantes ist also den Weg nach Hamburg geflogen, hat sein Botanik-Luftschiff sicher in Wilhelmsburg gelandet, dort Expeditionszelte, Labortische und retrofuturistische Instrumente aufgebaut, um allerhand wichtige Untersuchungen an der norddeutschen Pflanzenwelt durchzuführen. Ich habe mir heimlich ein paar Notizen gemacht, sauber abgeskribbelt in mein Expeditionstagebuch. In den nächsten Wochen, sobald mein Labor umgebaut ist und ein paar ordentliche Spätsommergewitter niedergehen, werde ich meine eigenen Geschöpfe schaffen. Eine Armee.

Montag, 26. August 2013
Am Wochenende feierte das Hamburger Gängeviertel den bereits, Kinder wie die Zeit vergeht!, vierten Geburtstag. Vier grimme Winter also überstanden und zähe und zahllose Runden schwierige Verhandlungen mit Stadt und Behörden bislang unbesiegt überlebt. Neben zahlreichen bekannten und auch guten Menschen, bin ich mittlerweile Mitglied der Gesellsch Genossenschaft und gratuliere daher nicht nur herzlich, sondern kam auch noch vorbei. (Ich würde ja auch Schiffstaufen machen, Glück, Glas und Porzellan zerschlage ich schließlich gut, warum nicht mal Flaschen.)
Jetzt aber hieß es Lieder singen, Kerzen auspusten, in der Sonne sitzen und Ausstellungen anschauen. Hübsch sind die Sachen von Markus Mross, der retrofuturistische Mensch-Maschinen-Visionen als Siebdrucke auf verschiedene Träger bringt. Holz, Papier, so was halt. Das sieht ein bißchen aus als hätte Max Ernst Ideen von Jules Verne umgesetzt, es sind Zukunftsvorstellungen der vorletzten Jahrhundertwende, Frauen mit mechanischen Greifarmen, von Robotern gezogene Badewannenfahrzeuge, Dinge und Konzepte, die man halt im Haushalt braucht und von daher topaktuell. Zur Ausstellung ist ein kleines Buch im Pixie-Format erschienen, und auch für die Bilder gilt: Kunst kann man auch kaufen!
("Martin Mross: Zurück in die Zukunft". Hamburg, Gängeviertel: raumlinksrechts. Bis zum 7. September 2013.)
