Montag, 19. September 2011


Autoluminescent



Heimat ist da, wo der Anker liegt, so geht die Saga von den tosenden Wellen, sogenden Strömen und verwehenden Winden. Ein Hafen, ein Kühlschrank, eine Leiter, die bis zu den oberen Brettern der Bücherregale reicht. Ein Simulacrum von Glück, wären nur die Nachbarn nicht, die Verwalter, die Befindlichkeiten anderer Leute. Eine Woche war das, fremdbetankt mit Selbstherrlichkeit, Süffisanz über kleine Leute, Dosen von "Versteht außer Ihnen allen eigentlich jeder", billige Polemik von sogenannten Erwachsenen und diesem Schuß guter Hamburger Handwerkerempörtheit: "Unterputz? Wenn ich das schon höre, Unterputz!"

Was denn aber sonst, bitteschön. Strippen und Rohre auf die Tapete gekloppt? Ausweinen später beim Vater, der meine Theorie über regionale Unterschiede interessant findet. So wie es hier nur schwer gutes, dunkles Brot zu finden gibt, so schwer finden sich gute Handwerker. Während in der Heimat eben traditionell viele in der Produktion tätig waren, Werkzeuge, Klingen, Metallverarbeitung, Montan- und Stahlbau, sind es hier die Handelsberufe: "Hamburger Kaufleute", nickt der Vater verständnisvoll durchs Telefon. Ich berichte von der in der Hansestadt weithin anzufindenen Altbaumodernisierungslösung, bei der man in einem engen Kabuff über die Kloschüssel steigen muß, um in der Duschtasse zu landen. Wie mich mal ein Norddeutscher fragte, ja, nun, wie soll man das denn anders lösen? Wie mir auf einmal Kulturunterschiede, über die man nur schwer reden kann, bewußt wurden. Indem man es richtig macht? Unterputz, wandverschiebend, von Grund auf?



Ich bin immer wieder verblüfft, leicht entnervt auch, das mag an der Jahreszeit liegen, am fehlenden Urlaub, dem Tribut usw. Diesem Sonne-Regen-Kälte-Wärme-Oszillieren, was einem neuerdings als Sommer verkauft wird auf einem Palettenstapel gleich neben dem Spekulatiusregal. Neuer Entschluß, ich lasse jetzt einfach machen, es verschwendet doch nur Zeit, und was hier manchmal als Brot verkauft wird, ist ja auch ein Fall für sich. Die malzgefärbten Brösel kann man meinetwegen Aufputz auf die Wände kleben.

Über tiefstem Schatten liegt immer auch ein Licht: Autoluminscent, die Doku über Rowland S. Howard, erscheint Ende Oktober, zum schönsten Herbst also. Anker lichten, neue Gefilde, innere Horizonte erweitern, komme ich auch sonst kaum raus. Ein Musikinstrument mal völlig anders spielen. Brot, irgendwer?

>>> Rowland S. Howard, Sleep Alone


 


Dienstag, 13. September 2011


Wind-, Wasser- und Gedankenkraft




Während draußen die Ausläufer von Orkan "Katia" an den Fenstern rütteln, habe ich gestern vormittag endlich, nachdem immer öfter kleine Bäume darin gewachsen waren, den verstopften Überlauf der Spüle repariert. Alles auseinandergeschraubt und in einzelne Teile zerlegt und das Rohr von Schmand und Schlamm und Schlick befreit. Wir Urban Guerilla Küchengärtner nennen das guten Humus, und es riecht auch ein bißchen so. Dunkel und erdig, hinterläßt es schlierige Spuren in der Schüssel, mit der ich das Wasser und alle Sedimente aufgefangen habe. Ein hübsches Forschungsunternehmen, sieht man hier doch anschaulich, wie organisches Material sich zu Öl umwandelt. Noch ein paar tausend Jahre länger, und schwarzes Gold hätte sich aus meiner Spüle pumpen lassen.

Später, auf dem Weg durch mildes, windiges Herbstwetter und Haushaltswarengeschäfte, versuchte ich, ein weiteres Mysterium durch reine Gedankenkraft zu lösen: Warum werden Glühlampen verboten, nicht aber elektrisch betriebene Pfeffermühlen oder digitale Personen- und Küchenwaagen, allesamt Dinge, die leicht auch mechanisch zu bedienen wären und so überhaupt keine elektrische Energie benötigten? Vielleicht ist die Pfeffermühlenlobby einfach nicht so stark vernetzt wie die der Energiesparlampenindustrie, wäre eine Theorie, der nachzugehen ich hoffentlich einmal Zeit in meinem geheimen Kellerlabor finden werde.

Auch dort hieße es, endlich einmal aufräumen.


 


Freitag, 9. September 2011


And eyes are crying out for everything

Die Eingangsbilder vom Tweed Ride in London (Film) erinnerten mich daran, dieses Jahr die schwarzen Mäntel noch hübsch runterzufahren, dann aber die honigfarbenen oder weißen aufzuziehen. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich ein wenig wunderlich scheine, was wurde darüber nicht schon lamentiert, aber spätestens zum nächsten Frühjahr heißt das Motto nicht nur langsam, aber mit Stil, sondern allgemein "Verkehrsaufhübschung".

So wie es Jean-Paul Gaultier mit Günter von Hagens gemacht hat. Dieser Dress ist vielleicht nur auf dem ersten Blick nicht straßenverkehrstauglich, dann aber gerade doch. Hätte ich den mal vor ein paar Jahren bei meinem kleinen Unfall getragen, der Autofahrer hätte vorher brav abgebremst, da bin ich fast sicher. Macht einen schlanken Fuß, könnte man süffisant anmerken, und braucht deshalb keine Handytasche, denn wenn nichts passiert, muß auch niemand anrufen.

Da war nix, heißt es ja sonst ganz gerne mal. Diese Woche aber schon: Eine mittlere Woge einer als ungiftig deklarierten Arbeitsemulsion hüllte mich unversehens ein, ein Schwimmen im Seufzermeer unter vielen Seepferdchen-Aspiranten, Titanenmaloche, Rückführungsschwitzen wie in einer mongolischen Zauberjurte. "Written On The Forehead", singt Polly Jean, etwas vom dunkleren Sommer, und wie ich neulich dachte, wie gerne ich mich einhüllen lasse von diesen Stimmen und, wenn ich in ein paar Jahren einen runden 37. Geburtstag feiere, dann lasse ich die alle antreten. Die Braut zum Beispiel, am liebsten aber wären mir drei beschwipste Bloggerinnen, die für mich Karaoke singen. Wenn man nur die Frisuren sieht, ohne Brille jetzt, ähneln die sogar drei recht bekannten.

Ist aber alles unbezahlbar.


 


Montag, 5. September 2011


Landausflug



Ich liebe ja Hochzeiten. Beerdigungen haben auch ihren Reiz, vor allem, wenn es einen selbst nicht betrifft, aber Hochzeiten haben oft das bessere Essen, die bessere Musik und obendrein meist die bessere Laune. Wenn es also irgendwo eine Hochzeit gibt, ich bin dabei. Beinahe ist es so, als hätte ich allzeit bereit eine kleine Reisetasche wie einen Notfalleinsatzkoffer für Hochzeiten neben der Türe stehen, in der ein freundliches Hemd und eine festliche Jacke darauf warten, mich zu einer Trauung zu begleiten. In meiner kargen Freizeit lungere ich manchmal vor dem Standesamt herum, klatsche Beifall für die Brauleute, hake mich unter, biete mich als Trauzeuge an. Ein wenig trage ich mich sogar mit dem Gedanken, mich allein deshalb doch bei diesem Facebook anzumelden, um Mitteilungen über bevorstehende Hochzeitsfeiern zu erhalten, um dann wie eine Art Owen Wilson in Die Hochzeits-Crasher hereinzuplatzen, ein wenig fröhliche Melancholie wie Blütenblätter oder Reiskörner zu verstreuen, und generell der Erste zu sein, wenn der Hochzeitskuchen endlich zerteilt und die Schnitten herumgereicht werden.

Es herrschte ja früher so ein Hunger. Einer dieser großen, einer nach diesem allem, vor allem in der ersten Zeit in dieser großen Stadt. Am Wochenende also fanden glücklicherweise meine zuvor unablässig gemurmelten Gebete Gehör für ein kurzes Zwischenhoch, und ich ließ mich kurzerhand ins Schleswig-Holsteinische Guts- und Begütertwesen entführen. Hochzeit auf dem Lande, das ist sozusagen das Crèmeschnittchen unter den Hochzeitsfeiern. Zwischen Scheunen, Herrenhäusern, Pferdeställen, weißen Pavillons auf grünem Cricketrasen fühlte ich mich zunächst wie beim Jahrestreffen von Young, Young, Young & Söhne, denn um mich herum lungerten zunächst halbjunge, den konservativen Parteien nahestehenden Menschen in Gel und Nadelstreifen (die Schuhe, ihr Aktenkoffermänner, immer habt ihr so dürftiges Schuhwerk an!) begleitet von ihren Begleitfrauen, den zukünftigen First Ladies und Beilagen.

Diesmal allerdings war ich das Ziermöhrchen, kannte quasi keinen, konnte also wahlweise behaupten, entweder zur Seite der Braut oder der des Bräutigams zu gehören. Auch diese kannte ich nicht, war aber spaßeshalber der erste bei der Gratulation, knuffte den Gatten und flüsterte der Braut, nachdem ich mich zutraulich in ihr Dekolletée gedrückt hatte, zu, ich hätte gehört, es gebe sehr guten Kuchen.

Den gab es auch, und dazu dieses ausnehmend schöne Wetter, das sich wie ein Urlaubskatalog um die schönen Menschen legte. Während ich, ein einfacher Mann aus dem Mittleren Westen, den es auf die Hamptons verschlagen hat, vom Liegestuhl aus die Szenerie beobachtete und zu dem Schluß kam, daß diese Feier wie ein Urlaubsort war, nur mit besser gekleideten Menschen und keinen, die in bunten Bermudas und Badelatschen die Szenerie verschandeln, umwuselten mich kecke Kinder auf Laufrädern, teilnehmende Verwandte, keine Hunde, aber Raucher und andere freundlich herausgeputzte Gäste. Im, nennen wir es Herrenhaus schnupperte ich an den Lüstern, suchte die Bibliothek vom großen Gatsby, fand an meinen Fingern keinen Staub, als ich den Lack der Möbel prüfte.

Draußen auf dem Rasen klöppelte inzwischen der Grillimpressario auf seinem Flammenrost beidhändig mit den Zangen herum, daß er aussah wie ein Vibraphonist oder Marimbaspieler, der eifrig die Musik begleitet, die von der lampionverhängten Tanzfläche herüberwehte. Bessere als ich zunächst befürchtete, wie ich festhalten möchte. Ein blondes Mädchen im luftigen Kleid erinnerte mich an eine Exfreundin, und kurz überlegte ich, ob ich nicht mit ihr durchbrennen sollte, war sie doch mit einem Mann zusammen, den sie nicht brauchen konnte. Dann fiel mir ein, daß besagte Exfreundin mich einst auch nicht brauchen konnte, wandte mich also lieber erneut diesem fantastischen Kuchen zu, unterhielt mich mit einem Paar aus Berlin, die aufatmend gesund aussahen und muntere Dinge über Stadtentwicklung zu berichten wußten. Zwischen dem Bräutigam und mir paßte irgendwann kein Blatt Papier mehr, wie man so sagt, wir haben uns quasi für den Abend "geaddet", und er hatte sich sogar meinen Namen gemerkt, wie ich merkte, als er mir im vertraulichen Ton zuflüsterte, daß im Kühlhaus noch Massen an Kuchen standen. Gute Menschen, allesamt.


 


Samstag, 3. September 2011


Just Kids



"In Bed with Patti" titelte die Galerie über Judy Linns Ausstellung. Ihre Fotos aus den Jahren 1969 bis 1976 zeigen eine junge Patti Smith in ihrer Zeit mit Robert Mapplethorpe in New York. Straßenszenen, aber auch viele Momente, gestellt und als Schnappschuß mitgenommen, in ihrem Apartement, auf Stühlen, auf Kissen, und ja, im Bett. Die Fotos sind dicht dran, beiläufig oft, nie aufdringlich. Man merkt das noch Unfertige der Protagonisten, die Suche und manchmal schon den auf maximale Energie verdichteten Punkt, der kurz vor der Explosion steht, den Moment, wo sie das Bild von Bob Dylan, das sie auf einem Foto vor dem Gesicht hält, ablegt und Horses, horses, horses losstürmt als Patti Smith, Rock'n'Roll-Star.

Judy Linn hat dieses Jahr ihre Fotos aus dieser Zeit in einem wirklich hervorragenden Bildband herausgebracht. Viele Fotos sicher "nur" von dokumentarischer Qualität, andere ikonografisch, rückblickend aber alle roh und unverschämt genug, diese Prä-Punk-Jahre zwischen kaputten Verhältnissen, kaputten Klamotten und ungerichteten Träumen in glaubhafte Bilder zu setzen. "Oh, I'm so young, so goddamn young", singt Smith auf "Privilege". Hier kann man es sehen.

("Judy Linn - Patti Smith 1969 - 1976". White Trash Contemporary, Hamburg. Bis 15. Oktober 2011.)


 


Dienstag, 30. August 2011


Lebendigtote Tiere



Zuletzt kehrte ja so etwas wie Totenruhe ein in der ansonsten so ausgelassen und munter synkopierten Reiehe Mit toten Tieren durch das Jahr, so daß ich mich genötig sehe, wenigstens ein paar Eindrücke und Schätze zu teilen, deren ich in letzter Zeit habhaft werden konnte. Die beiden Bildbände Die präparierte Welt und Animalia eint eine der Zeit enthobene, nostalgische Ästhetik, die an sepiagetönte Plattenkameraufnahmen erinnert. Geringe Tiefenschärfe und ein Schwerpunkt auf Details führen den Blick ins Imaginäre, in die Schattenzonen, den unwirklichen Zwischenbereichen, bei denen man unsicher ist, ob wir uns noch im Diesseits oder Jenseits befinden. Im Fall von Die präparierte Welt fällt die Entscheidung noch leicht, die Fotos von Philippe Bréson sind im Naturhistorischen Museum in Wien entstanden. Diese Tiere sind ganz sicher tot, wirken aber oftmals wie lebendig.

Anders bei Henry Horenstein. Seine Fotos sind in Zoos und Aquarien aufgenommen worden, und doch sehen die porträtierten Tiere oft starr und unwirklich aus, wie in einem schweren Traum erstarrt, daß man meint, sie seien Präparate. Horenstein, der sich einen Namen als (Country-)Musikfotograf gemacht hat, läßt eine auffällige Ruhe in seine Tierfotografien einfließen, so als hätte er bei der Arbeit hundert Jahre Zeit gehabt und verlange dies nun auch von uns. Ein kontemplativer Zoobesuch, wie man ihn sonst nur in den Sälen der letzten Dinge im Wiener Prachtbau der Naturhistorie erlebt. Schöne Ergänzungen also, am besten zur beginnenden Nacht betrachtet.

Henry Horenstein. Animalia. Rom: Contrasto, 2008.
Philippe Bréson. Die präparierte Welt. Wien: Brandstätter, 1994.


 


Montag, 29. August 2011


Wochenende




Die Mansardenwohnung erlebt eine Spinneninvasion, die achtbeinigen Seilkletterer haben die Nasen voll vom in sich selbst verknoteten Wetter und drängen hinein in die Küche, die gute Stube, das Ankleidezimmer und die fahl nur beleuchteten Winkel der Diele. Bleich aber sitze ich nicht unter wildem Wein, sondern zwischen Nacht und Regenwolken. Nach einer Woche, in der ich mir vorkam wie ein rollschuhlaufendes Telefonvermittlungs-Girl, die vor einer großen Schalttafel auf- und abfährt und mit bunten Strippen neue Verbindungen knüpft, gehetzt vom aufgeregten Klingeln und Blinken drängender, in Bakelit gefaßter Signallampen, erschöpft die Zeit gestohlen, zwischen auf- und abschwellenden Regenschauern eine Runde mit dem Rad zu drehen. Laß uns über Regenkleidung sprechen. Laß uns sehen, wie die Arbeiten am alten Wasserfilterwerk vorangehen. Wege sind schon um die Becken gelegt, an den hübschen Pumpenhäuschen vorbei, die alte Villa steht offen, aber zu viele Spaziergänger behindern eine heimliche Inaugenscheinnahme.

In den letzten Wochen noch einmal Carnivale gesehen, um endlich die zweite Staffel anzuschließen, langsam, langsam arbeite ich den Berg hinunter, die aufgestapelten Bücher, die zu Staub zerfallenen Gedanken, Textanfänge, Bildideen, die nun von den eingewanderten Spinnen eingewoben und verschnürt werden, bereitgestellt wie Paketsendungen aus einem früheren Leben. Sonntag mit der Lu auf Schiffspassage. Elbfährenflaneure, die Welt als Schaufenster, an dem immer neuer Regen langsam herunterperlt.