Mittwoch, 19. Januar 2011


Private Life

"You can fuck off with your cameras."
Chrissie Hynde rotzcool, als ob Butter
in ihrem Mund nicht schmelzen würde.

Belästigungen wegspringen lassen wie kitzelnde Blätter, die auf einen zum Reflex gespannten Muskel fallen. Erstmal allerdings werden verspannte Muskeln beklopft: Die blitzeisbedingte Steißlage meiner eigenen kleinen Hinterland-Nation habe ich heute dann doch mal begutachten lassen. Die unfallchirurgische Praxis überzeugt mit Selbstironie. "Laut MOPO", so die Aussage auf der Webseite, residiere man in "Hamburgs häßlichstem Haus" - man solle sich davon aber nicht abschrecken lassen. Eigentlich hatte ich angenommen, selbst in Hamburgs häßlichstem Haus zu wohnen, aber die MOPO war dort ja noch nicht. Drinnen dann alles apfeldesignt und hipstermodern eingerichtet, der Medizinalrat zügig, freundlich, aufmerksam. Angenehm, denn ich kenne auch unfallchirurgische Praxen, die eher wie Feldlazaretts geführt werden. Der kundige Doktor führt allerhand Untersuchungen durch, deren intimere Details ich hier einmal im Dunkel lasse, dann geht es zum Röntgen und ich wurschtel mich in eine Art Blei-Unterhose mit Klettverschluss. Kein Kandidat für eine Fashion Week, aber gleich in mehrfacher Hinsicht die perfekte Unterbekleidung für einen Castor-Transport. Am Ende wünscht er mir für die nächsten Wochen viel Glück, ein Beißholz und den gelegentlichen Griff in die Medikamentenkiste.

Die humpelnde Entschleunigung kommt vielleicht zur rechten Zeit. Je langsamer es geht, desto schneller kommt man raus, jeder Trippelschritt weniger ist ein Schritt mehr in die Freiheit.

Wie hübsch man sich schon entnetzt hat, merkt man, wenn man vom allerneuesten Blogger-Krawall zuerst aus der FAZ erfährt. Aus der gedruckten Ausgabe wohlgemerkt.


 


Montag, 17. Januar 2011


Personenschaden

Einer reichlich entglitzerten Woche den frühen Freitag abgerungen, stille Freude auf eine Heimkehr noch vor der Tagesschau (früher: ...till the cows come home). Mit den letzten Seiten des Stadlers in der U-Bahn bequem gemacht, bis zum vorzeitigen Zugstillstand, Feuerwehreinsatz am Berliner Tor, Umwege also mit der S-Bahn, deren eine Linie zuerst ausfällt (Zugschaden), dann aber doch noch fährt. An der Station geht der Einsatz gerade zu Ende, Transportwege werden freigeräumt, Menschen in orangefarbenen Westen drängen hektisch, man spürt schon, das sind zu viele, das sieht nicht so gut aus, als schon die Rolltrage vorbeieilt und dazu Bilder, die ich auch nicht hätte sehen müssen, unablässig pumpende Hände, denen man wünscht, daß ihnen die Kraft nicht versagt, der aufgeblähte Bauch, der wie ein bleicher Walfisch auf den Strand geworfen unter den rhythmischen Stößen hilflos hin- und herwogt.

Die Kinks singen and the kitchen sink is leaking, auch das ist wie aus dunklen Tiefe einer anderen Epoche gehoben, ich betrachte die tintenfleckigen Finger, denke an die eigene frivole Buchhaltung dieser Woche: die schicksalstaggeplagte Frau, immer Zigarette rauchend, zwei Kinder und ein totgeglaubter Mann, dabei innerlich immer aufrecht, immer widerborstig, eingeklebt in eine heimatmuseal nachgestaltete, nostalgische Vergangenheitsbebilderung, Sepia-Resistance wie die großen Produktionsfirmen sie sich vorstellen.

Wie manche immer unzufrieden sind, ihnen nie etwas gut genug ist. Immer just das falsche Restaurant, die guten Plätze immer zu weit hinten, die Möbel immer zentimeterweit am falschen Platz. Und das sind nur die banalen Dinge, die lächerlichen, aber an so einem Freitag, wenn die Bäuche pumpen und wir nur Alkohol im Regen am Büdchen trinken, nehmen, was da ist, während wir auf den Ersatzbus warten, denke ich, mein eigner Ein-Mann-Widerstand, schön nostalgisch in ein heimatmuseales Erinnerungsbuch verpackt, ganz so, als wäre es von TeamWorx ausgestattet, fick dich einfach.


 


Donnerstag, 13. Januar 2011


Arbeiter & Arbeiter

oh my god my girlfreind got me the best christmas present...
she got me the whole box set of ALL the Beatles' albums...
every single one ... and all i got her was a engagement ring...
god i need to step it up.. ahaha

[Q]

Oft muß man von jungen Menschen hören...

...die Beatles, z. B., seien "überschätzt". Dann recke ich die Arme gen Himmel, rufe Jesse, John & Yoko und doziere über die Bedeutung der Fab Four, unleugbar!, wie sie meinen nostalgischen Kinderwagen in Schwingungen versetzten und diesen wie sonst nur die Entwicklung der populären Musik mit immer neuen Wendungen rasant beschleunigten. Außerdem, so sage ich, haben sie den Teleprompter erfunden, heute von den Bühnen dieser Welt nicht mehr wegzudenken. Und blieben dabei immer menschlich!

So ist das eben, nichts kommt von nichts. Und die Leute sehen immer nur das Beet und nie den Spaten. Wenn das tägliche Love Me Do fertig ist, dann heißt es natürlich, ja, etwas derartiges hätten's wir fein auch schon gekonnt. Eh kloa. Oder sie sagen, ja du, du arbeitest bloß auf der Schiffswerft, da hat man es gut, wir hingegen müssen... Oder sie denken, so ein Lied liegt morgens fertig ans Kopfkissen gepinnt, auf daß man es nur nehmen müsse, auf dem Weg zur Drogenhölle kurz beim Studio halt machen und einsingen - und zack! Welthit.

Aber auch hinter den kleinen Blüten steckt harte Arbeit. Offene Ohren, offene Augen, alles einsaugen, verdauen, fermentieren und dann in die Form zwingen, Bleischürze um (wegen der Strahlung des ungezähmten Materials), mit dicken Gummihandschuhen die schweren Zangen halten, dazu die Dämpfe, diese schlimmen Dämpfe, die einem erst zu Kopf und später tief in die Lungen steigen. Gut, wenn man wenigstens einen hat, der einem den Text hält.


 


Dienstag, 11. Januar 2011


Teuerkasse

AKG 701

Irre. Und Made in Austria. Muß nun alle meine Sonic-Youth-Alben neu hören. Ich komme jetzt ins analytische Alter. Pfeife kommt aber nicht ins Haus.

Auch irre. Das Finanzamt will, daß ich die Kosten für die Elbphilharmonie fortan alleine übernehme. Binnen einer Woche, schreibt man und empfiehlt das "bequeme Lastschriftverfahren". Ich empfehle einen Blick in die behördeneigenen Akten und rechne im stoischen Vertrauen auf Beamtentugenden mit einem Versehen.

Bis dahin höre ich weiter analytisch meine Sonic Youth-Alben und entdecke ungeahnte Geräusche, das Ächzen von Gitarrensaiten und Anatmen vor Studiomikrofonen. Kleine Fehler bei den Liveauftritten. Werde das alles von der Steuer absetzen.

Bin wieder auf Glatteis gestürzt. Neben schlimmen Schmerzen ist der schlimmste Schmerz die Selbstdemütigung. Wie ein hilfloser Käfer auf dem Boden liegen, darauf wartend, von den Schwestern mit Äpfeln beworfen zu werden, die Knochen durchzählen und dann im Dunkel des heranbrechenden Abends nach Hause schleichen. Ich bin fast bereit, demnächst einen Bus zu nehmen.

Ausatmen. Sie lesen entweder aus Lichtenstein dem Hamburger Schuldturm oder einem Krankenlager weiteres von mir. Ich werde dort Zeitungssausschnitte sammeln, nachdenken und meine Neuentdeckung Chelsea Wolfe hören.

Radau | von kid37 um 12:00h | 25 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 7. Januar 2011


The Time Is Now



Wer sich fragte, warum hier etwas unregelmäßig geschrieben wird, dem sei versichert, es ist alles gut. Ich habe nur furchtbar viel zu tun. Da ist zum Beispiel diese TV-Show, die ich in nicht allzu ferner Zukunft in einer mir fremden Sprache moderieren werde, was mir sehr viel Freude bringt. Es geht ganz entspannt um coole Musik und noch mehr um Erinnerungen. Macht auch ein paar, jetzt am Wochenende vielleicht. Dann habt ihr später auch welche.

>>> Weitere Podcasts von Kid Vinil

Radau | von kid37 um 12:48h | 9 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 4. Januar 2011


Mehr Talmi

...oder: Warum die Bloggerbewegung scheitern mußte.

Während man das weiße Hemd wieder ordentlich zurück auf den Bügel fummelt (der kleine Rotweinfleck fällt nächstes Jahr noch nicht auf), den Zylinder und die Handschuhe in die Schachteln räumt, anderswo Strumpfbänder und extravagantes Schnürschuhwerk mühsam unter Jahreswechselbetten hervorgezerrt werden, man also den ganzen Operettenschwindel zurück hinter die Uniform für den Alltag räumt und dabei ohne Rang und weitere Würde sich im Spiegel nackt betrachten kann, fragt man sich, warum man, den Schwung des einstigen alles, alles besser und alles sofort-Anspruchs nicht genutzt hat, um jetzt als ehemalige Vorhut der besseren Welt so wie ein Politiker der Grünen ganz vorne mit dabeizusitzen.

Nicht, daß mich derlei Dinge noch den warmen Lufthauch interessieren, der sich in den goldenen Ornamenten meiner Brokatvorhänge fängt, aber wenn dann doch noch einmal die Frage auftaucht, wieso das dauert mit diesem Etablieren und warum sich die anderen nicht in uns, sondern immer nur wir in den anderen etablieren, werfe ich einen Blick in das Köchelverzeichnis der sogenannten besseren Gesellschaft. Die Haute volée weiß seit Jahrhunderten wie man die Dinge zelebriert und zementiert, sich gegenseitig zitiert, hofiert (verlinkt und verblogrollt) und keine Scheu vor dem Mucki, Micki und Mausi hat - während Blogger allzuschnell zaudern, ihr Mäusemänchen67 oder Blumenzupferin82 ins Stolze einer Ehrenbezeichnung zu wenden.

Schauen wir in die Gästeliste einer mittelbedeutsamen gesellschaftlichen Veranstaltung und achten wir auf die Berufs- und Standesbezeichnungen: Nicht nur "Maler", sondern auch ein "Malerfürst" sind anwesend, eine "Hellseherin" ebenso, aber auch ein "Ehemann und Journalist" (darüber hinaus noch ehemaliger Chefredakteur mehrerer bekannter Titel), dazu eine Menge von und zu und Grafen und Professores. Aber liest man irgendwo "Blogger"? Selbst als "Miss Ferrari" hat man besseren Zugang zu den erlauchten Kreisen.

Beim Kampf um die Erbhöfe der Aufmerksamkeit darf man nicht zaghaft sein. Früher war mehr Lametta, heißt es. 2011 wird das Talmi-Jahr, es soll Auszeichnungen und Preise regnen, Ehrentitel und bunte Bänder, Bloggerfürsten und Hellblogger, Träger von Orden, Rängen und Begleiter von Missen. Einen Ball soll es geben, auf die wir ehemalige Chefredakteure laden, und Landsitze für jedermann. Und eine Kutsche hätte ich gern.


 


Freitag, 31. Dezember 2010


Herein - Heraus

A missed train
doesn't indicate a cloudy journey

(Am. Proverb)



Viel wäre noch zu erzählen gewesen. Einreihen könnte ich mich in die Schlange derer, die Geschichten von der Bahn berichten. Andererseits: Ich kann dieses Gejammer nicht mehr hören! Zwei Stunden Verspätung! Herrje, möchte man rufen. Oder: laßt euch ein Leben schenken! Ich könnte Kunde tun von einer Fahrt in den heiligen Abend, dem Schein eines Kometen am Himmel folgend, und einer Verspätung von sechs Stunden. Man muß das aber in Relation setzen zur eigentlichen Fahrtzeit, die bei (gemäßigten) Temperaturen im Sommer auch schon vier Stunden dauert. Da sind zehn Stunden insgesamt nicht zu viel. Immerhin liegt Schnee. Und auch Eis. Vereinzelt war sogar von "Winter" die Rede. Und es kostet nicht mehr! Ich kenne jetzt alles: abgerissene Oberleitungen, vereiste Weichen, vereiste Bremsen, Bahnhöfe ohne Wartesäle, den Nahverkehr und seine Möglichkeiten in und um Münster, Hamm und Dortmund, HBF. Orte, die auf -bögge enden wie in Ober-, Unter-, West- und Nordbögge (oder ähnlich), Momente, in denen verzweifelte Mütter ihre Säuglinge auf dem Vierertisch eines Großraumwagens wickeln, den weihnachtlichen Geruch von Ochs und Esel, der sich in der Folge entwickelt, den angestrengten Blick hinaus ins eisvernebelte Dämmerlicht, nachschauend, ob es nun -bögge oder Bethlehem heißt, das sportliche Cheer up! einer zufälligen Notgemeinschaft, die letzten lauwarmen Tropfen aus der Thermoskanne.

Darüber lohnt kaum ein Wort. Es war ja nur die Hinfahrt. Die Rückfahrt dauerte ebenfalls zehn Stunden, ließ mich die halbe Nacht auf dem Dortmunder Hauptbahnhof verbringen oder besser in dem in einen Container untergebrachten McDonalds, die Taschen gefüllt mit Verzehrgutscheinen, der Güte eines landesweit bekannten Verkehrsunternehmens zu verdanken, auf Anschlußzüge wartend, die irgendwie "aus dem Süden" kamen, aber von dort, wo "gar nichts mehr" ging. Ich kenne jetzt alles. Den tröstlichen Schein des Dortmunder "U"s bei Nacht, die Diskussion mit Bahnangestellten, ob Dortmund nun Champion's League sei oder nicht, das lustige Spiel "wir sagen Züge nach Mitternacht gleich gar nicht mehr an, behaupten aber das Gegenteil", das Gefühl der Ohnmacht vor sogenannten "Service Points", untergebracht in Containern, aus denen eine bullige Wärme lockt, während man selbst seine Füße schon lange nicht mehr spürt, das Miniatureisenbahngefühl, wenn Züge im Hauptbahnhof Hannover zweihundert Meter in die eine Richtung fahren, bloß um wieder zurückzusetzen (Portemonnaie vergessen vielleicht oder eine Warnweste), um dann in die ganz andere Richtung nach Hamburg zu fahren, gegen zwei Uhr morgens von Zugchefs belehrt zu werden, daß man ja "nur aus Kulanz überhaupt mitgenommen" würde, den Geruch vollgestopfter Abteile in einem Nightliner, den Wunsch, einfach bis Kopenhagen durchzufahren, auf Kulanz natürlich, sich gegen sechs Uhr morgens auf dem Hamburger Hauptbahnhof ausgespuckt zu fühlen, nur um zu sehen, daß die U-Bahn gerade vor der Nase wegfährt. Aber dafür nur ein müdes Lächeln.

Auf dieser nicht kleinen Odyssee durch deutsche Weihnachstnächte habe ich viele Menschen kennengelernt. Gefaßte, aufgelöste, entspannte, verbissene. Zugbegleiter von großer Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit und Augenmaß, andere, die vielleicht in einem Job am Hamburger Hafen, wo man nur Container umlädt, glücklicher wären. Ich sage das mal ganz kulant. Familiengeschichten habe ich gehört, manche freiwillig, manche, das Mobiltelefon macht Zeugenschaft möglich, auch unfreiwillig. Ich habe eine Entwicklungshelferin kennengelernt, die in Haiti arbeitet, und mit einer anderen Frau, die wie ich gestrandet war, ihren Geburtstag im Gastraum des McDonalds am Dortmunder Hauptbahnhof begangen, der eine Anmutung zwischen türkischem Kulturcafé und Abfertigungshalle Tallinn besitzt (wobei, ich kenne Tallinn gar nicht und tue der Stadt vielleicht Unrecht). Grelles Licht, Plastikstühle um Resopaltische, sonst nichts. Am Ende kam raus, sie arbeitet im selben Winkel des Schaugeschäfts wie ich, nur auf der anderen Seite des Werktisches, also ließen wir noch Namen tropfen wie Eiswasser in den Schnee, sagten ha! oder auch mal haha! - bis die Nacht rum war und Weihnachten und das Gefühl von zwanzig Jahre Interrail.

Wie jung man also plötzlich wieder wird. Nächte am Dortmunder Hauptbahnhof zum Beispiel, wenn man nach der "Disco" (wie das damals noch hieß) in dieser neonlichternen Trümmerstimmung mit anderen Zertanzten auf die erste S-Bahn wartete. Wenn man die jungen Leute heute dort beobachtet, junge Mädchen, die 15-Zentimeter-hoch durch den Schnee staksen, Grüppchen, die von hier nach da ziehen, in unsichtbar gelenkten Schüben, merkt man, es hat sich nichts verändert. Wir sind nur die anderen.

Nächste Runde also. Am Himmel über den östlichen Stadtteilen kann ich bereits die Ziellinie sehen. Erste Raketen klären die Luft und künden: 2011 wird bunt.

Achtet darauf, was Silvester passiert. Goldene Regel: Feiert nur mit Menschen, die auch um Mitternacht mit euch anstoßen wollen. Ich fahr jetzt mit der Bahn in die Nacht und kehre erst nächstes Jahr zurück. Ich hab da jetzt Bock drauf. Einen guten Rutsch.