Sonntag, 5. Dezember 2010


Weck Vati nicht auf







Seit 2005 heißt es, der Jahreskreis neigt sich erst dem Ende zu, wenn der famose Herr Krüger das Bescherungsglöcklein zur Gruppenausstellung "Don't Wake Daddy" läutet. Bekannte Namen der Low-Brow-Szene, allesamt cool wie Sau, zeigen dem, der sich auch zeigt, ihr Ding: teuflisch, saccharinsüß, verdorben, plemm-plemm oder ka-wumm, mit viel Witz und noch mehr Finesse. Andy Ausgang, Moki, Eric White, Ryan Heshka, Fred Stonehouse, Lokalmatador Heiko Müller (dessen Büchlein Gangland in der Galerie zu erwerben ist und zwar unbedingt), Mia Mäkilä und viele weitere sind dabei, der Laden summt, und prompt ist der Winter vergessen.

Ein Tipp vom Parkett: Wer zur Zeit nicht in Gold anlegt, tut dies besser in Kunst. Noch sind nicht alle roten Punkte verteilt.

"Don't Wake Daddy V". Feinkunst Krüger, Hamburg. Bis zum 24.12.2010)


 


Donnerstag, 2. Dezember 2010


Bunte Teller



Mensch, du hast ja richtig Farbe bekommen! Wie oft habe ich das nach einer ausgedehnten Bootstour schon gehört. Meist liegt so etwas am Essen, das im Ausland häufig interessant, andererseits längst nicht mehr so exotisch ist wie man zurückgelehnt im heimischen Ohrensessel meinen könnte. Man ißt globalisiert, und von der Anwesenheit der üblichen Ketten wie Starbucks und McDonalds wäre man ja höchstens noch auf dem Gipfel des Nanga Parbats überrascht. Auch in Istanbul kann man sich kulinarisch wie zu Hause fühlen, es geht sogar soweit, daß ich für einen kurzen Augenblick dachte, da erlaubt sich jemand einen Scherz mit mir. So erstaunt war ich über die Filiale der Nordsee, daß ich vergaß, nach den Angeboten zu schauen. So weiß ich nicht, ob es wirklich "Bremer" dort gibt, vielleicht vom Drehspieß, aber sonst ganz wie daheim.



Neben Cafés unterschiedlichster historischer und kultureller Verortung (Oriental bis US-amerikanisch), locken Imbissbuden, Büfes und Kebabläden mitunter verrätselter Qualität und am anderen Ende der Skala Restaurants, deren Speisekarten man leider oft deshalb nicht vorab studieren kann, weil überall Koberer stehen wie sonst nur vor den Striplokalen auf der Reeperbahn. Wer hier "nur mal gucken" will, hat schon verloren. Hilfreich ist da eine YPS-Detektivbrille mit eingeklebten Seitenspiegeln, mit der man aus den Augenwinkeln heraus Umgebung, Trickdiebe und Angebotsaushänge beobachten und dabei zugleich eine nonchalante Unbeteiligtheit an den Tag legen kann, daß sich die Lügenbalken biegen.




Mir haben die kleinen Lokantas spontan am besten gefallen. Unspektakuläre Speiselokale, die zumeist in den von Touristen gemiedenen Seitenstraßen liegen, keinen Alkohol ausschenken, aber eine verlockende Vielfalt vernünftiger und schmackhafter No-nonsense-Mahlzeiten anbieten. Schmucklose Tische, freundliche Leute, unaufgeregte Gerichte, ich weiß, das wäre manchem zu langweilig. Mir als kulinarisch eh Ungebildetem kamen diese Schenken gerade recht.



Wer spät abends noch etwas vergessen hat, Zahncreme, Lutscher, Zuspruch, stellt fest, daß selbst die Büdchen in Istanbul aussehen wie ein kleiner Sultanspalast. Hinter schmiedeeisernen Gittern sind Wasser, Süßigkeiten und Krimskrams in alle Winkel und Nischen gestapelt. Eine Art Haremswächter sitzt an einem kleinen Schalterfenster, tauscht Geld gegen süße Ware, kostbares Wasser oder ein Erlebnis - in der Kulturhauptstadt 2010 durchdringt und umhüllt ein orientalischer Stilwille die westliche Idee der Systemgastronomie.



Wer länger möchte, als Wanderer durch die Nacht, greift zu wirkmächtigen Pralinen. Ein geheimer Zauber wohl, kandiertes Wunschdenken. So hat der Sultan früher sein Zelt gebaut.


 


Montag, 29. November 2010


Trockener Wochenendbericht




Mein Bruder und ich wurden bekanntlich bei der Geburt getrennt und wuchsen 20 Jahre versetzt voneinander auf. Da ich aber gut ein halbes Jahr jünger aussehe als ich wirklich bin, fällt das auf den ersten Blick nicht weiter auf. Und doch ist dieser Generationensprung ein wertvolles Korrektiv, zeigt es mir, daß manchen Namen, Farben und Ereignissen, die ich für völlig präsent halte, offenbar etwas gestriges anhaftet.

Hamburg hingegen ist für meinen volljährig gewordenen Bruder und seine frischgetraute Braut neu, und die Hansestadt, die in der Nacht endlich ihre Spagat-Koalition abschafft, zeigt sich glücklicherweise auch darüber hinaus von einer entspannten Bandbreite. Das Wetter spielt Bayrischer Wald, Winterausgabe: Schnee auf Baumwipfeln, ein zugeeister Kanal vor dem Fenster, vernebelte Fernsicht und all überall vermummelte Gestalten, während die Ungläubigen aus dem Bergischen Land behaupten, aus mediterraner Milde angereist zu sein und meine Warnungen ignoriert zu haben. Sie müssen sich meinen selbstkomponierten Schlager "Auf St. Pauli darfst du eine blöde Mütze tragen" anhören und werden dann ohne weitere trockene Bemerkungen erst einmal mit Hut und Handschuhen ausgestattet. Touristen.

Zur Abhärtung schleppe ich sie überall mit rum, halte Vorträge über das hanseatisch-portugiesische Erbe, die Bedeutung der finnischen Seemannsmissionen für die Rettung der Weihnachtsmärkte und weitere, weitgehend frei erfunde Themen. Wir kreuzen die Elbe, werfen einen Blick auf das Disney-Schiff, lassen uns in einem Kaufhaus von einem Verkäufer schmunzelnd versichern, es handele sich dort um "teure Angebote" und entdecken einen neuen Laden im ehemalig alternativen Viertel. Ich plausche unverfänglich entspannt mit der Besitzerin, bis diese unvermittelt und ein wenig zu betont einen Satz mit "also, mein Mann und ich..." beginnt. Also bitte, meine ich später auf der Straße, das mit dem Augenzwinkern muß ich noch dosieren lernen, und mein Bruder ergänzt dazu sehr trocken etwas, was sich gut in einer Satiresendung machen würde.



Das Hauptthema bleibt die Frage, ob man dieses Astra wirklich trinken könne. Da man in unserer Familie die Dinge gerne selbst überprüft, gehen wir zum Flaschenzählen und Vergleichstrinken auf den Kiez, ich muß dem jungen Paar ein paar Läden zeigen, in dem man sich mit müden Beine bequem unter dem Tisch ausschlafen kann, den Kopf auf einen Plüschhocker gelehnt. Kometen-Grind'n'Soul also, dem Hausherrn folgen wir ins Queen Calavera, wo ein Teil der Harbour Pearls Shake'n'Shimmy Ausziehtanz zeigt, und folgen wie die heiligen drei Könige dem Leuchtsignal und der ausgelegten Tiki-Wiki-Spur durch den geheimen Tunnel hinüber zu den Autoschrauber-Rock'n'Rollern gleich neben diesem sehr lauten Laden und weiter über die Hasenschaukel zu einem wagemutigen Finale auf der Ballermannmeile. Und zwar genau so.

Unterwegs versuche ich La Reimann, der ich zufällig begegne, damit zu beeindrucken, daß ich ja das tolle Buch über den Ratinger Hof besitze, was sie ganz trocken damit kontert, eine der Geschichten darin geschrieben zu haben. Zerknirscht muß ich hier und an dieser Stelle einer erweiterten Öffentlichkeit gegenüber zugeben: Ich bin bislang nur dazu gekommen, ein wenig oberflächlich in dieser tollen Edition zu blättern, möchte aber trotzdem sagen: Das gehört unter jeden vernünftig dekorierten Weihnachtsbaum!

Tief in der Nacht zeigt St. Pauli erneut seine große Aufrichtigkeit, als uns an der U-Bahn ein Typ anspricht, der Flyer für ein Tattoo-Studio verteilen will. Ob wir eins hätten, wünschten oder ändern wollten? fängt er seinen einstudierten Spruch an, um dann nach einer Gedankensekunde zu enden: "Ist doch auch irgendwie scheiße jetzt, um diese Zeit." Und zieht weiter, ehe wir im Chor eine trockene Antwort formulieren können und macht Faxen mit seinen Flyern, die Herbstblättern gleich um netzbestrumpfte junge Damen segeln, die auf dem Bahnsteig stehen und dem Winter trotzen, die uns einhüllen in eine tintenbedruckte Wolke, während irgendwo Musik spielt, während du an einem anderen Ort bist.

>>> Geräusch des Tages: Link Wray, Rumble


 


Freitag, 26. November 2010


Hackfresse, Tristesse, wann kommst du geschneit?



Donnerstag dann doch noch mit spitzen Ellenbogen einen freien Abend herausgekeilt, um die traditionelle Herbstlesung bei der netten Wirtin zu besuchen. Wieder Gesichter zu Namen gefunden, die sympathische Frau Kink zum Beispiel, die eigentlich immer noch bloß Kippen holen ist und auf diesem Wege bereits bis Hamburg gekommen ist. Viel Guten-Tag-sagen auch unter den Gästen, jemand komplementierte zu später Stunde, meine Brille hätte sich seit dem Blogmich '05 in Berlin kaum verändert. Viel Schlaf, emotionale Ausgeglichenheit und nur mäßig Alkohol beim Gläserreinigen sind mein Rezept. Man darf andererseits niemals das Porträt von Dorian Brill betrachten, das verhüllt bei mir auf dem Speicher hängt. The horror, the horror.

Solcherart Artigkeiten also wurden geschichtet, Landarbeitern bei der Heuernte gleich. Anekdoten-Tag-Clouds, wie wir waren, wie wir hierherkamen, wo wir jetzt sind. Als ich hinaustrete, hat es geschneit. Jetzt werden sein sechs Monate Eis und Schnee und Dunkelheit.


 


Freitag, 19. November 2010


Merz/Bow #25

Coole Sache, hört man hier und da, und sie beklatschen die nächste Idee von white corporate oppression. Hier singen welche: I don't think so!

>>> I don't wanna <<<

(Immer daran denken: Das könnten eure Eltern sein.)

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Knüppel frei: Die zukünftige Kanzlergattin kann "Stil" und "Stiel" nicht voneinander unterscheiden. Das könnte noch brisant werden.

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Im New Yorker East Village liegt der ganz richtig so benannte Laden Obscura, Antiques & Oddities (Blog), eine Art Harrys Hafenbasar. Auf dem Discovery-Channel läuft nun eine mehrteilige Dokumentation über das Kuriositätenkabinett, eine wunderbare Idee, von der ich hoffe, daß sie bald nach Deutschland kommt. Noch besser wäre eine deutsche Version, und ich sage schon mal jetzt, die würde dann gerne ich moderieren. (Trailer)

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Nie mehr aussehen wie von der Stange, sondern wie frisch aus der Zerreisse gezogen: Gibbous Fashions zeigt, warum viele Fashion-Blogger ihre Kleidersäcke gleich wieder einpacken können.

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Holt das Kreppeisen raus. Denn dies hier ist Gothic. Wunderbare Bilderfunde aus den 80er Jahren. Ich könnte irgendwo darunter sein.

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Dies wiederum könnte mir nicht passieren: Patti Smith hat den National Book Award bekommen. Ausgerechnet, so möchte man sagen, für Just Kids, ihr zwar schönes, aber doch schwächstes Buch. Aber wie sie einst in der TV-Show Kids are People too (haha) zeigte: man muß an sich glauben, mit einer Naivität und einer Inbrunst. (YT). Sehr schöne Nachricht.

MerzBow | von kid37 um 11:24h | 7 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 16. November 2010


Machen wir mal was mit Tieren




Wie der Standard so schön zitiert: "Ohne Katzen - das wäre wie in einer Stadt ohne Bäume zu leben". Man sieht sie in Istanbul wirklich überall: kleine und große, schwarze und bunte, sehr kleine und ganz alte. Nicht die Bäume, sondern Katzen. In meinem Hotel schleicht morgens eine in den Speisesaal. Geduldig sitzt sie neben den Tischen, drängt sich nicht weiter auf, wählt jeden Tag einen anderen, den sie beharrlich von unten herauf hypnotisiert und um kleine Bröckchen angeht. Nie springt sie auf die Tische, nie gibt sie einen Laut. Abends wartet sie vor der Türe, wartet auf einen Hotelgast, um mit ihm zusammen hineinzuschlüpfen. Irgendwo im Haus wird sie ihren Schlafplatz haben. In den Gassen steht auf Treppenstufen und in Hauseingängen in kleinen Schälchen Futter bereit, Turkish Hospitality.




Zu jeder Moschee, so scheint es, gehört eine eigene Hauskatze, das mürrische Exemplar, das auf der Holzbrüstung vor dem Besuchereingang der Blauen Moschee wacht, läßt sich nicht beirren von all den fremden Menschen, sie sitzt dort und starrt in eine imaginäre Katzenferne, sie hat wohl alles schon gesehen: Wanderlatschen, Turnschuhe, schwere Stiefel, Socken mit Ringeln und solche mit Löchern, hat ächzende Touristen gehört, die in allen Sprachen dieser Welt sich im Vorraum schwerfällig ihrer Schuhe entledigen.




Die Hunde leben in Gangs, kleine Rudel vor dem hübschen Sirkeci-Bahnhof, dort wo einst der Orient-Express endete. Sie liegen dort in der Sonne, gähnen, schlafen, manchmal haben sie Streit, der aber nicht lange zu währen scheint. Sie schlurfen übers Trottoir, gehen die Grenzen ihres Reviers ab, aber auch sie drängen sich nicht auf, stehen nicht im Weg und wollen einem keinen Teppich andrehen. Den auf dem kleinen Schrottplatz, vielleicht ist es auch eine Baustoffhandlung, mag ich besonders. Er scheint von sanftem Gemüt, vielleicht ist er auch einfach nur naiv, so wie ich.




In Asien, Fernreisende wissen darüber zu berichten, sind auch die Insekten bekanntlich größer: Käfer, Schmetterlinge, man ist beeindruckt, welche Dimensionen solche Geschöpfe im wärmeren Klima annehmen können, und wie hart so ein Chitinpanzer werden kann. Ernst Jünger, der alte Faunist, wäre begeistert, er könnte die bizarren Geschöpfe in sein Notizbuch zeichnen, eine präzise Skizze fertigen. Aber der ist ja nun auch schon tot.


 


Sonntag, 14. November 2010


TagundNachtgleiche




In dem Schuppen wurde das Rauchverbot sehr selektiv ausgelegt, und ich merke wieder: Ich brauche einfach länger zum Regenerieren. Das Nikotin vom Passivrauchen jedenfalls reicht wohl bis zum nächsten Jahr. Obwohl der Kollege tief in der Nacht einen famosen Sixties-Soul-Schrabbel-Ska-Schweineorgel-Set auflegt, tanzt leider niemand auf dem Tisch, und ich habe nicht das richtige T-Shirt dafür an. Macht aber nichts, zumal ich zuvor eine Imkerin kennengelernt habe. Ich nutze die Gelegenheit, Näheres über Aufwand und Gewinn, praktische Abläufe und, es geht ja nicht ohne, bürokratische Hürden zu erfahren. Versicherung, Steuern, Anmeldung, man glaube nicht, man könne es einfach so Summen lassen. Man muß sich kümmern, auch um das Kleinste noch.

Allgemeines Rumpeln und Pumpeln, Wiederentdecken und Aufstöbern, ein, zwei trinken sich selbst unter den Tisch, proklamieren das Ende vom Anfang, dann hinaus und zur Lumpensammler-S-Bahn, stotternd nach Haus. Halb fünf, Licht aus.