Donnerstag, 11. November 2010


Istanbul, andere Ecke







Es war eigentlich erst am letzten Tag, nachdem das touristische Hauptprogramm erledigt war, beim Spaziergang hinter die Ausläufer des ägyptischen Basars, den Hügel hinauf durch enge Gassen bis zur Uni, die tatsächlich LaLeLi-Universität heißt, daß ich ein Gefühl für die Details bekam: Unten am Wasser in Eminönü stehen ehemals prunkvolle Bankgebäude, dahinter reiehen sich Bürgerhäuser, die seit hundert Jahren einsam leer zu stehen scheinen, das Moos wächst senkrecht an den reichverzierten Fassaden empor, unten haben Händler ihre verwinkelten Läden. Es wird ein Spaziergang gegen die Zeit, gegen das schwindende Licht in den letzten Abend hinein. Die Stadt ist reich an Texturen, meist meint man damit die Mosaiken im Inneren der Moscheen, hier ist es Rost und bröckelnder Putz in Ockertönen und Resten von Pastell, ähnlich wie in den ausufernden Gassen unterhalb des Galata-Turms, dort wo auch dieses trutzige Teutonia-Gebäude steht und die Dogan-Apartments, die in einem altem Komplex einer belgischen Bankiersfamilie entstanden sind. Filmsets für britische Geheimagenten und untote Blutsauger, ich könnte mir dort auch ein Zimmer mit Aussicht zum Nachdenken vorstellen.



Hier in diesen steilen Gassen sind nur wenige Touristen unterwegs, vielen ist der Fußmarsch den Hügel hinauf zu anstrengend, dabei wird man ja hinaufgezogen, folgt neugierig jeder nächsten engen Kurve, hinter der neues Staunen liegt, überraschende Kontraste, ein verwaschener Reichtum von Farben und Gerüchen.

>>> Istanbul through my eyes, ein tägliches Fotoblog


 


Dienstag, 9. November 2010


Istanbul, vom Anfang her




Nach dem langen Blick auf zerklüftete Plateaus und gewundene Flüsse legt sich das Flugzeug im Anflug auf Istanbul mit schönem Schwung in die Kurve, dippt erst die eine, dann die andere Tragfläche, ein Fliegergruß, wie das Links-Rechts-Blinken der Brummis auf der Autobahn. Alles, was ich übers Fliegen weiß, habe ich hier gelernt: Kontrolliertes Trudeln, Steil- und Sinkflüge, Navigation auf Sicht - wir hatten ja nichts. Sicherlich, so mußte ich mich schon des öfteren Belehren lassen, hat sich die Technik mittlerweile weiterentwickelt. Aber wenn die Maschine stalled ist es egal, wie alt sie ist. Im schönen Schwung also über die Vorstadt, die gestaffelten Hochhäuser der Wohngebiete sehen aus wie bei Sim City, ich klebe mit der Nase am Fenster, die Stadt scheint sich endlos weit zu erstrecken und irgendwo, mittendrin, wird die Landebahn sein.

Vom Flughafen aus geht es wenig kompliziert mit der U-Bahn weiter, wenn man mal kleinlaut unterschlägt, wie unbeholfen ich mich mit Koffer und Tasche und wenig Orientierung am Drehkreuz angestellt habe. Ein nochmaliger Dank an den Bediensteten des Istanbuler ÖPNV, der ohne weiteren Kommentar für mich die Sperre öffnete. Schweigen wir bitte, alles gut. Anders als in einer Doku bei Arte gesehen, in der der Korrespondent der Süddeutschen ein Bild des Schreckens über den Umsteigepunkt in die Straßenbahn malte, ist das Umsteigen in die Straßenbahn so einfach und bequem, daß selbst ich es schaffte. Man steigt natürlich, ein Blick auf die Karte erklärt das von selbst, zudem weist eine Durchsage darauf hin, in Zeytinburnu um und eher nicht in Aksaray - aber dann macht es in einer Doku über die wuselige Rush Hour natürlich nicht so viel her.



Die Tram hält praktischerweise fast in meinem Hotelzimmer, was aber kein großes Problem darstellt, denn sie fährt nur die halbe Nacht. Man lebt, der Orient ist nah, hier nach der Sonne. In dem Zimmer war zuvor David Lynch zu Gast, jedenfalls erinnert es mich an Lost Highway. Der Schrank ist so klein, es wohnt garantiert ein Zwerg darin.



Ich folge dem Geruch des Wassers zu den Fähren hinunter. Restmilde liegt noch in der Luft, so eine Art Katzenwärme, man streckt sich, atmet, dreht die Gelenke nach außen und in die herbstlichen Sonnenstrahlen, die vom Wasser reflektiert werden, das selbst hier vom Ufer her aussieht wie ein Paar sehr grüne Augen. Die Geräusche schreibt man sich besser schnell in eine Partitur, das Hupen der Autos, das Tuten der Fähren, das Rufen des Muezzins, dem von den sieben Hügeln der Stadt herunter geantwortet wird. Da bin ich also, denke ich, während ich aber schon angesprochen werde, keine halbe Stunde in der Stadt. Man wird dort, das weiß ich nun, eigentlich ständig angesprochen, von jungen Leuten oft, manche sind auch geschäftlich unterwegs, dann gibt es die Koberer, die vor den Restaurants warten, die alten Männer, die Schuhe putzen oder wertvolle, handgeknüpfte Dinge für den Haushalt verkaufen. Am Anfang aber habe ich noch keine Kamera um den Hals hängen, sondern mich wie Schulze & Schultze in Landestracht geworfen.

Ein junger Mann möchte von mir mit seinem Mobiltelefon fotografiert werden, er spricht mich auf Türkisch an, erklärt mir, welche Tasten ich drücken muß, wir kontrollieren das Bild, ich mache gleich noch eins, dann stellen wir lachend fest, daß ich gar kein Türkisch spreche. Er feiert gerade seinen Ausstand, wir reden nun Englisch, er hat seinen Militärdienst beendet und verbringt ein paar Tage in Istanbul. Ich auch, meine ich, während er ein wenig erschrocken fragt, was mit meinem Haar geschehen sei. Es ist grau, sage ich. Ich sei ein alter Mann. Er tut so - und diese Freundlichkeit muß man den Türken lassen - als glaube er mir kein Wort und lädt mich ein, ihn und seinen Freund ins Kneipenviertel am Galata-Turm zu begleiten, was ich ebenso freundlich - so viel muss man mir lassen - ablehne.



Ich muß jetzt nämlich erst einmal eines dieser Fischbrötchen essen, Balik Ekmek, die von gefährlich schwankenden, bunt beleuchteten Booten herunter verkauft werden. Bratfisch, Salat, Zwiebeln zwischen zwei Brothälften, dazu Salz und Zitrone und schon könnte man glatt sein Käsebrot vergessen. Man geht dort also nicht unter und verhungert auch nicht. Das zuallerletzt.


 


Montag, 8. November 2010


Wird auch immer kürzer

Gerade Alain Delon meinem Vater zum Geburtstag gratuliert. Er war gerade beschäftigt, weil er irgendein Gerät ausbauen mußte ("wart' mal, ich stell' dich auf laut"), und brummelte dann ein wenig jojo und neinnein. 2:28 Minuten, sagte das Display. Ich gebe zu, ich habe es durch Nachfragen etwas in die Länge gezogen. Die Wetterdaten haben wir noch getauscht.


 


Sonntag, 7. November 2010


Panorama & Freiheit

Die angenehm kalte, aber sonnige Luft nutzte ich für einen meiner regelmäßigen Spaziergänge durch die von Gott und Welt verlassenen Gewerbegebiete, um tüchtig Auszuhusten und ein wenig zu Fotografieren. Erstmals nun wurde ich von am heiligen Sonntag dort Gewerbe Treibenden mißtrauisch aufgehalten, einer fuhr mir gar mit seinem Auto hinterher, um mich einer Befragung zu unterziehen. Nun ist es ja so: Gibt man zu Protokoll, man fotografiere gerne rostige Eingangstüren oder Dinge dieser Art, könnte man auch gleich behaupten, man nähe sich abends zum Schlafen in einen Pferdekadaver ein. Die Wirkung auf manche Menschen ist dieselbe. Man wird also ungläubig und eher noch eine Spur mißtrauischer beäugt, die Blicke wandern von meinem Gesicht hinab zur Kamera, dann wieder zurück. "Papparazzi?" fragt man.



Wer also gestern noch griente und dachte, jaja, Anger-Management, was soll das denn wieder geben, sieht nun die praktischen Anwendungsmöglichkeiten. Statt bissig zu kontern mit "die jagen nur Prominente, sind Sie prominent?", reicht ein knappes "Nein", (nie etwas erklären!), das läßt das Gegenüber ins Leere laufen. Und selbst wenn man sich für solche Fälle einen dieser Streetview-Apologeten im Kleinformat in der Fototasche wünschte, der nun wortreich etwas über Gesetze, den freien Fluß von Information, Zensur durch Unterlassung, globale Vernetzung und Gedankendurchfall in Echtzeit vortragen könnte - die Wirkung auf einem kopfsteinbepflasterten, müllübersäten Gehweg im trostlosen Nirgendwo scheint mir ungewiß. An der Türe, also an der Front, so heißt es in der praktischen Philosophie für Türsteher, diskutiert man nicht bereits geführte Diskussionen.

Ich hatte also dieses Schild, das sich vielleicht gegen Erwerbslose wendet, vielleicht aber auch anders gemeint ist - darüber lohnte es zu diskutieren - fotografiert, natürlich vom Bürgersteig aus. Ich trete doch nicht auf den Rasen. Nun aber blicke ich freundlich zurück ins Gesicht dieses Import-Export-Menschen, hinunter auf sein Mobiltelefon, das er griffbereit hält, und wieder hinauf. "Das ist so erlaubt", sage ich. "Privat?" fragt er. Ich huste dir was, krank wie ich bin. Ist eigentlich egal, denke ich, ich bin ja kein Suchmaschinenkonzern, sage aber nur knapp "Ja", schon allein, um ihn wieder ins Leere laufen zu lassen. Wichtig ist, erkläre ich dann doch, daß man auf öffentlichem Grund bleibt. Und ich öffne ihm ein gedankliches Panorama: "Wenn Sie ein Schiff auf der Elbe fotografieren, fragen Sie auch nicht den Kapitän." Er scheint nicht wirklich überzeugt und flüchtet sich in ein "Ich will halt mal nachfragen". Aber gerne doch. Man wünscht sich ein schönes Wochenende, ist ins Gespräch gekommen und geht weiter seiner öffentlichen Wege. Es geht um Details.

Zum Schluß noch die Einnahmen-/Ausgaben-Überschußrechnung:

[x] verloren (im Osten Hamburgs): 1 Okularmuschel DK-21 (Nikon)
[x] gefunden (im Straßengraben, öffentlicher Grund): 1 Gegenlichtblende HB35 (Nikon)

Der Tag nimmt was, der Tag gibt was. Die Blende paßt leider auf keins meiner Objektive, ist also gerne im Tausch gegen die verlorene Augenmuschel abzugeben.


 


Samstag, 6. November 2010


Ein kurzer Blogeintrag



Neulich diskutierte ich mit meinem Arzt, der meiner untreu gewordenen Berliner Medizinerin folgte (wir berichteten), das Für und Wider einer Grippeschutzimpfung. Wie ich das hasse, Dinge zu diskutieren, die ich für längst ausdiskutiert hielt (das geht alles von meiner Zeit ab!), aber wenn die Diskutanten wechseln, was will man machen. Ich bekomme ja noch nicht mal eine Erkältung! warf ich für mein bereits beim Europäischen Patentamt angemeldetes eisenoxidiertes Immunsystem in die Waagschale. Der Herr Doktor schüttelte bekümmerte den Kopf, gab aber klein bei und kritzelte etwas auf seinen Block. Querulant, wahrscheinlich.

Heute war er zum Glück nicht dabei, denn heute bin ich krank. Nach erster Diagnose würde ich sagen, gerade noch haarscharf am Tödlichen Männerschnupfen™ vorbei, aber natürlich weiß man nie und so ist mein Bewegungsradius zwischen Hühnersuppe, fieberfeuchten Bettlaken und diesem elektronischen Fenster zur Welt eingeschränkt. Hallo Welt!

Um mich mit Salbei (ich könnte keine Schildkröte synchronisieren, aber einen Tigerrr) einzudecken mußte ich aber noch in die Stadt, schließlich ist auch Samstag, und die Wocheneinkäufe kommen ja nicht auf einem fliegenden Teppich zum Fenster hereingeschwebt, auch wenn man auf dem Großen Basar von Istanbul in dieser Richtung alles mögliche angeboten bekommt.

Seit ich dieses Anger-Management-Training mache, muß ich ja eh ab und an samstags in die Innenstadt, die vier Adventssamstage sind da schon fest gebucht. Ach so, vergessen: Um auf der Reeperbahn als Türsteher arbeiten zu dürfen, benötigt man nicht nur ein eisernes Immunsystem, sondern seit neuestem auch eine Bescheinigung über ein absolviertes Anger-Management-Training. Der Beruf des Türstehers hat sich ja sehr gewandelt, es ist heute eher ein Door-Management, dienstleistungsorientiert und beratend zugleich. "Door-Care" ist das Stichwort. Man sagt dann nicht mehr, "Heute nur mit Clubausweis" oder "Du, du und du, du aber nicht". Man fängt den Kunden da auf, wo er bereits schwankt und sagt "Ich würde gerne ein anderes Mal ein Bier mit dir trinken oder auch zwei, du darfst auch deine Freundin dazu mitbringen, aber heute, leider, muß ich heute passen, so gerne ich dich sonst reinlassen würde". Man sagt heute auch "Du, ich denke, du wirst es verstehen, aber wir haben total nicht aufgeräumt, das sieht einfach nicht so dolle aus gerade. Komm doch morgen noch mal."

Zwar mag man als Türsteher, ähnlich wie als Patient, bereits ausdiskutierte Dinge nicht gerne noch einmal diskutieren, man muß aber Sanftmut und Geduld zeigen, denn Sanftmut und Geduld sind das neue Wegschubsen.

Unser Kurs, ich komme jetzt in die Stadt zurück, trainiert das gerade in der Innenstadt. Wenn man also in der Tür zum Salbeiteekaufhaus jemanden hat, der sich nicht entscheiden mag, ob er links oder eher rechts oder doch lieber gar nicht hineingehen will, aber auch nicht merkt, wie sehr er im Weg steht, nun, dann schlägt man ihn nicht einfach zusammen bleibt man ganz ruhig, läßt ihn austanzen, atmet dabei gleichmäßig wie ein Respirator auf der Intensivstation (außer man hat den Tödlichen Männerschnupfen™) und rollt (wenn man den Aufbaukurs besucht hat) dabei nicht einmal mit den Augen. Auch Menschen, die einen von Regalen wegdrängen oder ihre ScheißEinkaufswagen mitten im Weg stehen lassen - da läßt man die Ellenbogen schön nah am Körper, spart sich (nach dem Aufbaukurs "Don't talk, do it") belehrende Diskussionen Kommentare und Ermahnungen und flötet sich wie eine freundliche Kobra am Hindernis vorbei.

Lief ganz gut, Tür verteidigt, keiner tot und nun bin ich bereit für das Kulturprogramm. Da ich nicht zur Viennale fuhr, holte ich mir die österreichischen Filmtage ins Haus. Gibt es etwas schöneres, als sich krank und elend dem Kranken und Elenden hinzugeben? Der Busenfreund, ein weiteres Meisterwerk von Uli Seidl, das einen heiteren Forscher auf der Suche nach der Weltformel zeigt. In einem ähnlichen, ich möchte sagen herausgehobenen, Kosmos lebt der andere bekannte Österreicher, Hermes Phettberg. Dem heimlichen Idol der Frucade-Generation geht es derzeit nicht besonders gut, er schreibt darüber sein sonntägliches Protokoll. In dieser Dreifaltigkeit laßt mich also liegen, ihr wißt ja, allein könnt ihr es schaffen.

Himmel, jetzt ist es ein langer Blogeintrag.


 


Freitag, 5. November 2010


Fährmänner





In manchen Dingen ähnelt Istanbul Hamburg. Auch hier kann man mit der Fähre, die nicht mehr kostet als der Autobus, übersetzen, landet allerdings nicht in Finkenwerder, sondern in Asien. Man könnte den ganzen Tag so hin- und herfahren, die Nase in den Wind halten, Fabriken und alte Paläste links und rechts am Ufer betrachten und den regen Schiffsverkehr. In Üsküdar und Kadiköy gibt es eine Herzklinik und einen Friedhof. Schrottplätze, ein Carrefour und einen imposanten alten Bahnhof aus der Zeit, als sich die Eisenbahn noch zeigen wollte.

Es regnet, aber das macht nichts, wenn es eh schon übers Wasser geht.


 


Mittwoch, 3. November 2010


Byzanzbilanz





Wie die schwebenden Düfte eines Gewürzbasars verteilen sich gerade die verknäulten Fäden der angesammelten Schätze, also die Fülle des Materials - Eindrücke, Erinnerungen, Mosaiksteine: Diese Dinge erwarten eine Ordnung. Ich habe festgestellt, daß ich vielleicht einen Tag zu lang oder ein, zwei Wochen zu kurz da war. Für die wichtigsten touristischen Attraktionen reichen drei Tage, aber erst dann ist die Seele bekanntlich nachgereist, der Blick für die Details, das Gespür für Rhythmus, Klang und Geruch stellt sich sein, man erschließt sich die schummrigen Straßen jenseits der Lichtergirlanden, hat sich eingetunkt in die neuen Verhältnisse, das kreuz und quer unter Kuppeln. Aber dann ist so ein Kurztrip ja auch schon wieder vorbei.

Darin sind sich natürlich alle Reisen ähnlich, man schneidet sich sein Tortenstück heraus und malt den fehlenden Rest zum runden Ganzen später erst dazu.
Überbrücken also.