
Freitag, 5. Juni 2009
Etwas derangiert von einer turbulenten Herstellungswoche im Unterhaltungs- und Dekorationsgewerbe schnitt ich gestern nach der Arbeit durch die schafskalten Regenvorhänge schnell nach St. Pauli. In der Boutique Bizarre, dem wohl hübschesten und umfassend ausgestatteten Sex-Shop vor Ort, war wieder Kulturprogramm. Man ist ja dort sehr rührig, zeigt im Untergeschoß regelmäßig Kunst und veranstaltet auch Seminare zu fesselnden und einschlägigen Themen. Diesmal war es angenehm bestuhlt, und so sank ich hin, zwischen Nylons und Gummiwäsche, ein wenig erschöpft vom Produktionsalltag, noch fröstelnd vom eisigen Wind über der Reeperbahn, feucht vom Regen und nun dankbar über die warmen Kellerräume und das sanft gedimmte Licht. Zwei, drei atemkontrollierte Züge, schon sank ich - wie es Männer sonst nur in der Oper tun - in meinen Sitz, während auf einer flimmernden Monitorwand Dita etwas mit ihren Beinen vollführte, das Kinn fiel schwer mir auf die Brust, die Augen, wirklich, ich schloß sie nur für eine Sekunde! Vielleicht waren es auch ein paar mehr, eine Stimme schreckte mich hoch, Cornelia Jönsson war mittlerweile nach vorne gekommen und las aus ihrem SM-Roman Spieler wie wir. Umstandslos begann es mit einer Szene, in der ein Harness und zwei Dildos eine wichtige Rolle spielten, und ich dachte, da kann man sich für Bloggerlesungen ein Beispiel nehmen. Also was die Texte betrifft: Nicht langsam vortasten, gleich auf die Zwölf und bloß nicht einschlafen.
Ich war jetzt wach, die Autorin trug ein paar verhalten explizite Stellen vor, ich muß aber sagen, das Performative fand ich am Ende interessanter als den Text. In dem war leider auch viel von Vögeln die Rede, ein Begriff, den ich nur für die Tierart gelten lasse und ansonsten ein wenig albern finde. Als Lesebühne hat der Ort zudem etwas mit einer herausfordernden Akustik zu kämpfen. Es gibt leider keine Tonanlage, und die Kunden im Obergeschoß sorgen für Unruhe. Sagen wir es so: Man schläft halt nicht ein.

Dienstag, 2. Juni 2009
Pfingsten zeigte sein schönstes Rosengesicht, strahlende Sonne, strahlende Gesichter, rotgestrahlte Rückenpartien, besser, so dachte ich, man geht unter die Erde. Mal wieder lockte die Elbart zum Abstieg in die Tunnelröhre, dort wo sich Lungenkranke Linderung erhoffen und die Kunst die kühlen, krummen Wände ziert. 50 Künstler, 500 Kunstwerke, 5000 Besucher und alles an einem von Hamburgs faszinierendsten Ausstellungsorten. Die Qualität der Arbeiten war wie immer durchwachsen, der Spaß aber durchgehend hoch. Eine wunderschöne Hommage an die Arbeit von Herrn Sakana beispielsweise, Akte auf Filtertüten, Detlef Klein mit seinem "euphorischem Realismus" (großartige Arbeiten mit bitterem Witz), viel Dekoratives natürlich, gesiebdruckte Fotos kann ich auch nicht mehr sehen, dafür die neuen Arbeiten der Edition 8x8, auf Herrn Graf ist Verlaß, ich habe mir den Weltreisenden Fungi Pavel Bratcovicii gekauft, wegen der Fliegenpilze natürlich, aber auch, weil er denselben Forscherdrang wie ich verspürt.
Abends dann, hier fehlt die Pointe, strukturiert präsentierter, aber spontan gekochter Spargel. Auch das paßt entgegen aller Bedenken gut zusammen.
>>> Fotos in den Kommentaren

Montag, 1. Juni 2009
Neues von einem rätselhaften Mann: David Lynch startet ab heute sein Interview-Projekt. 121 kurze Filme mit Menschen links und rechts des Weges, Stimmen und Stimmungen, Erhellendes und - da bin ich fast sicher - weitere Rätsel.
>>> Trailer
via Fecal Face

Sonntag, 31. Mai 2009
Eine kleine Wolke kann die Sonne verhüllen.
Kleine Füchse verderben die Weinberge;
und kleine Sünden bringen der zartfühlenden Seele Herzeleid.
(C. H. Spurgeon. Morgenandacht für den 30. Mai.)
In der Nacht dann ESG hören, eine der großartigsten und zugleich am wenigsten bekannten Tanzmusik, die man sich früher zuführen konnte. Von manchen Stücken der Birthday Party abgesehen. Mit den Fingernägeln über trockenen Putz kratzen, wie ein Hund bellen, wie kleine Füchse den Makel bringen, sich die Traumata und Neurosen aus dem Kopf schwitzen, Erinnerungen so fein sieben, daß die Glimmerstücke in der Sonne blitzen. Zwischen das Innenfutter eines schäbigen, abgewetzten schwarzen Anzugs gepreßt die Taschenbibel, die Adresse eines belgischen Anodenhändlers, die Karte für ein sehr lautes Konzert. Ein Kopf, der aussieht wie von Uecker vernagelt, ein Herz, das wie ein schartiger Anker den Schlick durchwühlt. Der Petrolgeruch der Nacht, die Versprechen am Ende der langen Straßen, die Musik hinter den fremden Türen. Die bleichen, fehlernährten Gesichter, die sich früher an die Scheiben drängten, als unsere Züge schneller fuhren.

Freitag, 29. Mai 2009
Tristesse Deluxe hat sich die Mühe gemacht und viele Punkte, Überlegungen und Links zur Debatte über den Gesetzentwurf von Ministerin von der Leyen zur Sperrung von Websites aufgeschrieben. Sehr lesenwert.

Donnerstag, 28. Mai 2009
Das Gedächtnis wird oft zum Sklaven der Hoffnungslosigkeit. Verzweifelnde Gemüter rufen sich jede dunkle Ahnung der Vergangenheit in die Erinnerung und brüten über jeden düsteren Gedanken, der ihnen die Gegenwart einflößt; so bietet das Gedächtnis dem Gemüt im Gewande der Buße einen Kelch voll bitterer Galle und Wermut dar.
(C. H. Spurgeon. Abendandacht zum 28. Mai.)
How utterly, utterly unterhaltsam dieses gefundene Buch doch ist. Man fühlt sich ja, als Sklave des Herzens, an jeder Stelle ertappt. Und was sagt C. H. Spurgeon zu düsteren Erinnerungen? Und doch ist das ganz unnötig. Wunderbar, einmal sagen muß das doch ein Mensch: Und doch ist das ganz unnötig. Nachdenken muß man! Denn: Die Überlegung kann aber das Gedächtnis leicht in einen Engel des Trostes verwandeln.
Ein Engel des Trostes, eine Sister of Mercy, barmherzig schleichen sich in Fetzen gehüllte Archivare durch den spinnwebverhangenen Gedankenspeicher, unter dem Arm einen Stapel brüchiger Papiere, die Namen und Bezeichnungen und Verhältnisse enthalten, die täglich über meinen Schreibtisch wandern, die ich aber selten nur zu fassen kriege. Wie hieß der noch? überlege ich ein ums andere mal, schaue in dieser oder jener Schublade, um Dinge und Bezüge zu verorten. Und das ist doch das wahre Ärgernis, daß man die Lappalie erinnert, die einst empfundene Ungerechtigkeit, den unbedeutenden Tritt auf den Fuß, den Akkord eines nur kurz verstimmten Klaviers, den scheelen Blick des Sitznachbarn, nie aber den Namen dieses Regisseurs, der doch diesen ganz wunderbaren und zauberhaften, wie war noch gleich der Titel, Film gemacht hat mit dieser Dings... Nein, die Archivare, ihr leises, heiseres Kichern hallt noch irgendwo unbestimmt von ferne, haben das Papier, auf dem alles verzeichnet ist, längst in eine Kiste gesperrt, den Schlüssel abgezogen und wie man auch denkt und am Schloss kratzt und auf den Deckel hämmert, es will und will nicht heraus. Als Sklave der Hoffnung folge ich den Fußspuren dieser Bibliothekare durch den Staub des düsteren Dachbdodens, tapp, tapp, tapp über stöhnende und ächzende Dielenbretter, wie der Indianer, der man ja einst werden wollte, schleiche ich hinterher, den Ursprung zu finden, den Anfang von allem, den verdammten Schlüssel.

Mittwoch, 27. Mai 2009
Vernachlässigung her. Ungeeignete Nahrung
bewirkt manchmal, daß Bekehrte
in ihrer geistlichen Kindheitszeit in
Zaghaftigkeit und Verzweiflung geraten...
(C. H. Spurgeon, Morgenandacht zum 27. Mai)
"Du darfst nicht vergessen - zu essen."
(Die Sterne)
Herr Brunzema erzählte neulich eine hübsche Anekdote über akribisch gesammelte Spam-Mails. Das erinnerte mich an das schöne Buch Cry for Help, in dem Henning Wagenbreth Klassiker des elektrifizierten Betrugspostwesens zusammengetragen und mit Illustrationen versehen hat. Eine verngügliche Lektüre für die bißfeste Mittagspause zum Beispiel, informativ und bildend auch und zugleich ein Beweis, daß sich eben alles als Gegenstand der Kunst eignet, sofern der Müll das Material nur strukturiert genug daherkommt. Man kann selbstverständlich auch behaupten, alles bloß Scam. Man kann auch sagen, hätte ich auch machen können, soviel Spam, wie hier eintrudelt.
Habt ihr aber nicht.
Nachtrag:
>>> Passend dazu auch das Projekt des Designers Elliott Burford, der die Betreffzeilen von Spam-Mails illustriert.
>>> ...and art. (A Softer World)
