
Montag, 17. Juli 2006
So you had to be sold
(Marilyn Manson, "Saint")

Ich finde das nicht unsympathisch. Besser als daheim den Maulhelden in Monsterpuschelpantoffeln zu spielen, den Brüllaffen, den Freizeitmandrill. Aber draußen, auf Teer, Asphalt und Eisengleisen, nur duckendes Grau, fettige Schuppensträhne statt gesträubtem Fell. Denn entgegen der weitverbreiteten Meinung im Volksmund trainiert lautes Schreien nicht das Rückgrat.
Daheim, da macht es nichts. Da schaue ich nicht mal selbst mir zu. "Ich zieh' mich nur noch im Dunkeln aus/Und schau' nicht an mir herab", sangen Armutszeugnis früher, in den goldkranzumwundenen Zeiten. Morgens beim Bäcker immer die Altbrötchen mit echtem Mutterkorn, nicht wegen der Alkaloide, sondern wegen des Wortes Mut darin.
Schüchtern, wenn man vor lauter Worten keines mehr herausbekommt. Nackt, bloß, ein Wurm vielleicht. Und manchmal gar ein Würmchen. Offene Haut, kein Panzer, nichts derbes wie ein Elefant. Ach schüchtern, alles Quatsch, setz dich einfach her zu mir.

Sonntag, 16. Juli 2006
Dieses Wochenende sind in Hamburg ja die Harley Days, wo schwere Jungs sich um schwerere Motorräder drängen, in der Hoffung, leichte(re) Mädchen zu beeindrucken. Ich versuchte das früher ja immer, wenn ich mit meinem altersschwachen Hollandrad (drei schwere Gänge) und laszivem Schutzblechgeklapper runter zum Elbstrand fuhr, lässig wie der junge Bobby Vee, beim Versuch, sich eine flotte Vespafahrerin zu angeln. Heutzutage geht es natürlich brav und nur mit einem Zweiradmagazin ins Bett.
Schöne alte Scopitone-Musikfilme, alles angucken!

Freitag, 14. Juli 2006
Wirkung auf uns. Das Interesse, das
wir an ihnen nehmen, reicht nicht über
die Zeit eines kurzen Betrachtens hinaus:
Sie hallen nicht nach, verwirren nicht...
(Roland Barthes. Mythen des Alltags. 1957.)

Für freilaufende Tagelöhner wie mich gibt es in Hamburg das Kaufhaus Stilbruch, wo man sich, gut vorsortiert, aus dem Müll anderer Leute ein neues Heim für schmale Geldbeutel schaffen kann. Eine schöne Idee, zumal es in dieser Stadt keine festen Sperrmülltermine mehr gibt, an denen man sich straßenzugweise selbst auf Schatzsuche machen könnte. Ob Sofa, Tasse oder Gehhilfe, hier findet man im stetig wechselnden Ausstellungsangebot entweder was für sich oder zumindestens einen Eindruck über das, was bei den lieben Mitmenschen gerade über Bord geht.
Le Sofa: Immer schon Platz für gut abgehangenen Kunstgenuß
Bei manchen Dingen kann man schon ins Grübeln kommen. Hasenkäfige, Sanitätshausstühle und alte Hammondorgeln tragen die Aura des Versprechens eines geruhsamen Lebensabendes. Bembel, Sammelteller und formschönes Besteck mit Holzgriffen kosten hier nicht die Welt und zieren jeden Tisch (den es gleich nebenan gibt). Fahrräder zur Ertüchtigung, Balkonmöbel zum Entspannen - für jeden Bedarf offenbart sich hier ein Pièce de résistance, wie sonst nur dem Katalogbesteller. Ich schlendere umher, streiche hier gedankenvoll über kunstlederne Bezüge, knuffe dort einen Sitzsack und wundere mich still, aber intensiv, über Sammelsurien, die man andernfalls nur auf dem Flohmarkt Hellbrookstraße finden kann.
In den geräumigen Hallen findet sich viel, aber die wahren Trouvaillen liegen oben verborgen. Im ersten Stock nämlich befindet sich die Kulturabteilung des kleinen Kaufhauses. Bücher, Schallplatten, Computer- programme - und die überaus beeindruckende Galerie de Objét trouvée du Müll.
Das kleine Hansestadtmuseum bietet einen Querschnitt durch alle Epochen und Geschmäcker. Poster von Miró, üblicherweise nur noch mit leichtem Grusel goutierbar, entlocken ein sanftes Hallo, der Fischer mit der Piepe ist gleich mehrfach vertreten: als Druck, als Stickbild und in Öl.
Beinahe unbezahlbar und dennoch für Preise (nach Leinwandgröße gestaffelt) angeboten, die einem Mittagstisch ins Eimsbüttel entsprechen, sind die Originale. Gekonnt ins Format gesetzte Porträts, gewagt kubistische Akte und, herzerweichend, der kleine Fuchs aus dem kleinen Prinzen.
"Nimm mich mit!" schreien sie, die herzblutigen Bilder, expressionistische Stadtansichten und von lockerer Hand gemalten Haustierporträts. Wer setzte sie aus, diese Exponate aus den Plakafarben-Tuilerien? Wer konnte so grausam sein? Alles für die Kunst, denn Kunst ist alles! schrien wir einst, kaum war die Schule vorbei. Nun lehnen sie hier, die Gesellenwerke einer Zeit, die Bob Ross noch nicht kannte. Penible Pferdeköpfe, ungelenk gegenständlich, heiter Abstraktes und derbe Art brut, außer Form und Rand und Band, ein Zeichen eckt an, schrappt an den Wänden unserer Sehgewohnheiten, desorganisiert, sagt, hey, ich bin gekommen, um zu bleiben, und ruft wie ganz nebenbei: Hilfe, zu Hilfe - ist vielleicht zufällig ein Kurator ein Bord?

Donnerstag, 13. Juli 2006
Dieses Gefühl, aus der schäumenden Woge Stuttgarter Freundlichkeit in Berlin aus dem Zug zu steigen und als erstes einen Vater zu beobachten, der seinem ungefähr vier Jahre alten Sohn die Flötentöne beibringt. "Sag mal, spinnst du? Bist du jetzt völlig durchgeknallt?" herrscht es. "Du hattest heute schon zwei Eis. Und da willst du noch ein drittes?"
Umsichtig, den Nachwuchs frühzeitig auf ein Leben in Berlin, möglicherweise gar auf ein Leben als Weblogger vorzubereiten.
Theater allerorten. (Nein, eigentlich nur an dem immergleichen, dafür altbekannten.) Geht mich diesmal zum Glück nichts an.
Eintrag vom letzten Mal. Kann man einfach so stehen lassen.
Apropos über andere Leute reden. (Ebenfalls Eintrag vom letzten Mal.) Naughty James hat bekanntlich unser aller Sarah wiedergetroffen. Details wissen wir wieder einmal nicht, oder nur ein paar, wir nehmen es aber mit Wohlwollen zur Kenntnis. Man wird ja auch mal Fehler machen dürfen. Seinen Fotos tut es gut.
Liebe sollte übrigens immer ein wenig kompliziert sein. Wie eine gute Schachaufgabe. Oder überhaupt nicht. Kompliziert.
2006, das Jahr, in dem aus Bloggerkollegen Medienpartner wurden.
Ungelogen: Der zweite Berliner, der mir begegnete, murmelte so tourette-mäßig "Pack, alles Pack" vor sich hin. Man soll sich aber nicht gleich immer angesprochen fühlen.
Nachtrag, Wort des Tages: "Buschbesuch"

Mittwoch, 12. Juli 2006
Es gibt ja Dinge im Leben, die überfallen einen regelrecht wie sonst nur unverhoffte Liebesbriefe oder unbegründet verdrängte Steuerbescheide. So kam es, warum sollte nicht auch ich mal Glück haben, zu der Einladung zum Spiel um Platz drei - übrigens zu einem Zeitpunkt, als längst nicht klar war, welche Mannschaften dort aufeinandertreffen würden. "Deutschland - Brasilien" spekulierte ich, und behielt, zumindestens was die Landessprache des Gegners betrifft, etwas, was ich am liebsten behalte: nämlich recht.
So finde ich mich also am Samstag in Stuttgart wieder und schnuppere einen Nachmittag lang sonnig-begeisterte Stimmung der Schwaben. Nach dem Stimmungseinbruch nach dem Spiel gegen die Schauspieler, heißt es nun wieder: Party unter Freunden. Die Bäckereifachverkäuferin, bei er ich einen Mohnstrudel kaufe, haut mich fast um: Beim üblichen "Bitte" - "Danke" verbeugt sie sich sogar leicht! Ganz alte Schule, sehr vorbildlich! Und war die Stimmung im Schloßgarten schon ausgelassen, so gibt es spätestens in der S-Bahn kein Entkommen vor den letzten Proben für die Schlachtgesänge. Das Motto des Abends lautet unwidersprochen: "Schtuddgard ist viel schöner als Berlin".
So ein WM-Spiel ist wie das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig, nur weiß statt schwarz. Während jedes Jahr zu Pfingsten schwarzbekittelte Menschen das Bild rund ums Agra-Messegelände und in den Nahverkehrsmitteln bestimmen, sind es nun Massen in weißen Trikots, die das Stuttgarter Stadtbild prägen. Ich widerstehe vielfältigen Angeboten, mein Ticket zu versilbern und finde mich schließlich mit toller Sicht und guter Laune im Gottlieb-Daimler-Stadion wieder. Putzig: Ist das das Trainingsgelände für Jugendmannschaften? Alles sieht so klein, so überschaubar aus, gar nicht wie im Westfalenstadion, wo man von oben in einen tiefen, tiefen Trichter schaut. Unser zweiter erster Torwart betritt als erster den Platz zum Aufwärmen. Donnernder Applaus und "Oliver Kahn!"-Rufe. Nach und nach die anderen Jungs, endlich auch wieder Frings. Dann die Hymnen, und endlich geht es los!
Man denkt ja, man verbringt einen geruhsamen Abend im Stadion, während sich unten 22 Männer abrackern. Aber weit gefehlt. Kaum hat man Platz genommen, läuft die Welle durch die Ränge, und so heißt es "Oooooooooooooohhhh!" und alle Arme fliegen hoch! Das hält ganz schön in Bewegung. Zudem gibt es dieses doch etwas zweifelhafte Fanlied. Ich meine nicht,"Three Lions", das nun "Schwarz und weiß" heißt. Auch nicht "Auf geht's, Deutschland schieß ein Tor!" oder "'54, '74, '90 - 2010", dem Song zur Schröder-Agenda. Das sind alles Lieder mit Schmackes, Witz und Emotion.
Zweifelhaft aber ist dieses "Steht auf, wenn ihr Deutsche seid!", dessen Sinn sich meiner Begleitung und mir nicht erschließt. Widerborstig bleiben wir demonstrativ sitzen, während sich der Fanblock alle fünf Minuten wie ein Mann erhebt. Mist! Jetzt sehen wir nichts mehr vom Spiel.
Nach einer kurzen Beratung im ZK stelle ich die Frage ins Plenum. Aufmerksam lauscht der Block meinen wortreich vorgetragenen Ausführungen, dann kommt es zur Abstimmung. Ergebnis: 998 für Aufstehen, zwei Gegenstimmen. Wir beschließen, als echte Demokraten das Votum zu akzeptieren, dabei aber in den inneren Widerstand zu gehen. Sehr gute Entscheidung, wie sich sogleich zeigt. Wir sehen jetzt viel mehr vom Spiel.
Die Portugiesen sind nette Menschen. Sie wollen uns die Party nicht verderben und lassen unsere quicken Jungs gewähren. Erst als endlich Figo eingewechselt wird, kommt Gefahr ins portugiesische Spiel. Erstaunlich, wie man im Stadion spürt, welche Ausstrahlung dieser Mann hat, wie man weitaus besser als im Fernsehen sehen kann, wie superb seine Ballannahme und wie dynamisch sein Antritt ist. Unglaubliche Bewegungsabläufe. Ich beschließe spontan, mir eine Scheibe abzuschneiden und mir nicht nur einen Bartschatten, sondern auch meine Gegner fortan so elegant stehen zu lassen.
Nach dem Spiel geht in Stuttgart gar nichts mehr. Das Fahnenmeer erweckt den Eindruck, die Wiedervereinigung sei da. Aber es fiel wohl nur endgültig die Mauer in den Herzen. S-Bahnen bleiben liegen, Personen auf dem Gleis, überhaupt - überall Personen. Vor dem Spielerhotel am Hauptbahnhof warten Tausende, "Jüüüüüüürgen Klinsmann!" rufend. Mein Übernachtungsbett finde ich spät, aber glücklich. Ein toller Abend geht zu Ende - ausnahmsweise mit guter Laune.

Samstag, 8. Juli 2006
Nachdem ich fleißig geübt habe, begebe ich mich heute auf eine kleine sportaffine Reise. Durch kreuz- und querverkettelte,nachgerade wundersame Zufälle bin ich nämlich in den Besitz einer Karte für das bedeutsame Spiel um den dritten Platz gekommen. Da macht es irgendwie Sinn, dann auch nach Stuttgart zu fahren, um das Duell der Verlierer mitanzuschauen.
Schließlich liegt im Fußballspiel, das wußte schon Albert Camus, eine philosophische Tiefe, die den Blogs dem Leben abgeguckt zu sein scheint. Aber das nur nebenbei. Fahne und fantypisches Rauchwerk besitze ich zwar nicht, aber sollten sich die Jungs auf dem Platz an so etwas stören, dann pfeife ich gleich wieder ab.

Freitag, 7. Juli 2006
Deshalb versteht Bodo sofort, was Theo ihm im zweiten Orakel mit Musil sanft radebrechend eintrichtert: "Menschenhirn hat Dinge zwar glücklich geteilt, doch Dinge haben Menschenherz geteilt." Das ist nie wieder gutzumachen, auch mit Suff und Sex nicht.
(Edo Reents über Frank Schulz' Das Ouzo-Orakel. FAZ, 17.6.2006)
