Mittwoch, 7. September 2005


Heim

Sie wandern an dem Strom, der schwarz und breit
Wie ein Reptil, den Rücken gelb gefleckt
Von den Laternen, in die Dunkelheit
Sich traurig wälzt, die schwarz den Himmel deckt.

(Georg Heym, "Die Dämonen der Städte". 1912.)

Abends mache ich noch ein paar Besorgungen, ein, zwei neue Notizbücher, die für die kleine Reise bestimmt sind, kaufe ich, dazu eine derbe Hose für Streifzüge durch die Natur. Einen Brief werfe ich ein, der ist wichtig, aber das merkt man solchen Briefen oft nicht an.
Es hat sich ein wenig abgekühlt, ein leiser Wind schleicht um den Bahnhof. Dort wird eifrig gebaut, ab Morgen gastiert das Tanztheater auf dem Platz vor dem Schauspielhaus. Ich beschließe, noch bis zur nächsten Station zu laufen, denn die Luft ist mild und daheim warten vielleicht nur schlechte Nachrichten.

Am Steindamm hat sich die Szenerie mit der einbrechenden Dämmerung gewandelt. Die jungen Mädchen, die sich dort statt nach der Schule ein wenig Taschengeld verdienen, sind zurückgekehrt nach Pinneberg, Uelzen oder Itzehoe, heim an den Abendbrottisch mit den Vätern, die über die Benzinpreise wettern und den früh ergrauten Müttern, die alles ahnen und nichts wissen und sich in eine immerwährende Migräne geflüchtet haben.

Nun stehen die älteren Huren vor den Spielsalons und türkischen Elektromärkten. Und die dünnen Mädchen vom Drogenstrich. In meinen ersten Jahren in Hamburg ging ich oft durch St. Georg spazieren, weil ich in der Nähe wohnte und dieses Viertel so mochte. Naiv, wie ich war bin war, antwortete ich immer "Hallo", wenn mich eines dieser sehr jungen, sehr hübschen Mädchen, die an den Hausecken lungerten, mit einem geflüsterten "Hallo" ansprachen. Eine freundliche Stadt, dachte ich, und grüßte freundlich zurück. Die Codes waren mir nicht bekannt. (Einmal, als ich spät abends aus der Wohnung ging, verließ zur selben Zeit eine sehr attraktive junge Frau die Nachbarwohnung. Leutselig sprach ich die Blondine im schicken Webpelz an, während sie Seite an Seite mit mir die Treppe runterstöckelte und einsilbige, aber freundliche Antworten gab. Hui, dachte ich, das ist ja mal eine scharfe Nachbarin - und sah mich schon im Geiste Tassen um Tassen Zucker, Mehl und gute Ratschläge von ihr erbetteln.

Bis am Wochenende darauf die mausgraue Frau und die kleine Tochter des neuen Sachbearbeiters der großen Hamburger Firma, der die Wohnung neben meiner gehörte, zu Besuch kam. Erst dann fielen die Groschen bei mir. Nun ja.)

Heute stand das junge Mädchen wieder vor der Spielhalle. Ich kenne sie schon lange vom Sehen. Zwei Straßen von meiner alten Wohnung war nämlich die Methadonausgabe, schon da ist sie mir aufgefallen. Neulich sah ich sie und ihren Freund in der U-Bahn. Ein paar Jugendliche riefen ihr obszöne Worte hinterher, sie streckte ihren Mittelfinger raus.

Es gibt ein Video von den Smashing Pumpkins, "Try, Try, Try". Das wurde vom feigen MTV nur nach Mitternacht oder zensiert ausgestrahlt, weil es auf sehr drastische Weise einen Tag im Leben eines Pärchens zeigt, das auf der Straße lebt. Drogen, Elend, Prostitution, Schwangerschaft - eben das, was nicht in die Britney-Klingelton-Welt paßt. Ein wenig erinnern mich die beiden daran, wie sie mir gegenüber saßen, eng aneinandergeklammert. Und ich überlegte, wie es wohl wäre, lebten die beiden ein "normales" Leben.

Nun sah ich sie wieder. Sie stand in der milden Abendluft, die Flasche mit dem zuckerhaltigen Saft in der Hand, nervös nach allen Seiten schauend. Wenn man an ihren Hämatomen und dem Ausschlag in ihrem Gesicht vorbeischaut, sieht man eine bildhübsche junge Frau, die dort im Zwielicht der untergehenden Sonne wartet.

Gegenüber im Ümlüt-Market werden die Kisten mit dem Gemüse in den Laden gerollt. Einer der Jungs lacht, als ihm ein Bund Bananen auf den Boden fällt. Heute geht hier keine Maschin' mehr kaputt, denke ich und feixe zurück. Bei Olympia stehen ein paar glatzköpfige Muskelmänner um die Gewichte, palavern. Einer liest Zeitung.

Ich mag es, wenn es langsam dunkel wird, und die Neonreklamen der Fahrschulen, der kleinen Spelunken und der Döner-Buden den Gehweg in farbige Lichter tauchen. In der Mittagssonne gibt immer nur ein paar wenige Wahrheiten. Das Nachtlicht ist mehrdeutig, es schafft Raum für Mißverständnisse. Für viel Verzweiflung.
Aber auch ein wenig Hoffnung.


 



Eis

What does this ship bring to me
Far across the restless sea
Waiting for the sirens call
I've never seen it here before

(New Order, "Waiting For The Sirens' Call")

Im Leben eines jeden Hausmanns kommt der Tag, da muß er erkennen: Diese Schicht im Kühlschrank, die ist nicht gut. Da mag man zögern, da mag man zaudern. "Die ganzen Lebensmittel! Bei diesem Wetter!"
Wer nicht abtaut, ist verloren, sage ich.

Morgen, wenn die Elbe vergrillt und derbe Mägen gefüllt sind, lege ich alles bloß. Das Eis muß weg. Alles muß raus, dann wird durchgewischt. Und wenn es mit Essig ist. Danach sehen wir weiter.