Montag, 25. April 2005
Als junger Student, also irgendwann in den frühen 80ern, stieß ich auf die Arbeiten des österreichischen Psychiaters Leo Navratil. In Landeskrankenhaus in Klosterneuburg/Gugging entdeckte und förderte er das kreative, künstlerische Potential von psychisch Kranken. Seine wissenschaftlichen Arbeiten über Literatur und Schizophrenie und die editorische und kuratorische Tätigkeit im Bereich der bildenden Künste machten ihn und Patienten-Künstler wie "Alexander" oder Oswald Tschirtner (der als "O.T." durch ein Album der Einstürzenden Neubauten bekannt wurde) berühmt.
Navratil stellte fest, daß durch eine Psychose ein poetischer Sprachgebrauch zu Tage treten kann, seiner Theorie nach sind "Kreativität und Psychose [...] kortikale Interpretationen höherer Erregungsstufen des zentralen vegetativen Nervensystems, die sich überschneiden können."
(Literatur und Schizophrenie, 120.)
(Als junger Mensch, wenn man sich sowieso "anders als die anderen" (Family Five), ausgestoßen und "irre" fühlt, zum Dichter berufen sogar, identifiziert man sich mit solchen grenzgängerischen Theorien, die einen durch Selbsterniedrigung zum Erhabenen führen sollen, besonders leicht. "Genie und Wahnsinn" heißen die Schlagworte solcher (post-)pubertären Seelenzustände, wobei die Betonung häufig allzu voreilig auf dem und liegt.)
Der von Navratil zusammengestellte Band Art brut und Psychiatrie (Wien: Brandstätter, 1999.) versammelt einige der eindrucksvollen Zeichnungen, die seine Patienten wie "O.T.", Johann Hauser und August Walla über die Jahre angefertigt haben. Skurille, oft linkische Zeichnungen, die nur vordergründig wie die von Kindern wirken, aber häufig viel besser im Format sitzen oder andere, "reifere" Züge des Gestaltens zeigen. Andere Werke zeigen elaborierte, versponnene, von ideologischen oder religiösen Wahnwelten und Symbolen durchzogene, nachgerade pedantisch ausgeführte Wandgemälde und rohe, den Bildern Dubuffets nahestenden, von sexueller Thematik durchzogene Kritzeleien.
In den umfangreichen Erläuterungen Navratils erfahren wir, wie die kreativen Prozesse durch den Verlauf der Krankheit beeinflußt wurden und wie sich die unterschiedlichen Stile ableiten lassen. Jean Dubuffet gehörte zu den ersten, die das Besondere der Art brut erkannten und förderten. Für ihn war die künstlerische Isoliertheit der psychisch Kranken, das "Primitive" und ihre "Unbelecktheit" von zeitgenössischen künstlerischen Strömungen das herausragende Merkmal einer wirklich eigenständigen Kunst.
Nach Donald W. Winnicot ist alle Kunst nur Mittel, Schmerzen und Enttäuschungen der Realität zu ertragen. Der Schizophrene ist demnach den weitesten Weg gegangen - hat er sich doch eine komplett eigene Welt erschaffen.
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Leo Navratil. Art brut und Psychiatrie. Wien: Brandstätter, 1999.
ders. Gespräche mit Schizophrenen. München: dtv, 1978.
Gotthard Wunberg (Hrsg.). Literatur und Schizophrenie. München: dtv, 1977.
Andreas Franzke. Dubuffet. Köln: dumont, 1990.