Montag, 24. Januar 2005


Die 10.000 Ruten

Auch in seiner Introduction à la vie dévote behandelt Franz von Sales die Flagellation im Kontext der Trauer und Melancholie [...]. Trauer und Melancholie machen die Seele zum Spielplatz des Bösen, der Versuchungen, die durch Gebet, durch Gesang, schließlich auch durch "äußere Übungen" vertrieben werden können. Zu diesen Übungen gehört die Geißelung, denn sie "erhitzt und reinigt das Gemüt" von der depressiven Stimmung, die "aus dem trockenen und kühlen Temperament hervorgeht".
Der Körper ist ein Ort, ein Schauplatz, eine Bühne, wo Streben, Scheitern, Gelingen agieren. Sehnen und Süchte weiten den Raum, beschränkt nur durch Ge- und Verbrechen (als Verstoß gegen soziale Konstrukte).

Die Flagellation als Variante von Akupunktur und Akupressur stimuliert die Nerven, fördert den Stoffwechsel und bringt den Körper ins Selbst-Bewußtsein zurück. Sozusagen ein temporäres Surrogat für Piercing und Tattoo ("Whenever you feel blue - get a new tattoo"). In Zeiten, da nach dem Tod der Moral (nach dem "Tod des Romans" (Fiktion), dem "Tod des Autors" (Fiktionär) und dem "Tod des Todes" (letzte Wahrheit) durch genetische Manipulation) dieselbe nur noch bei Bedarf aus dem Keller geholt wird und ausschließlich, um den Mangel derselben als Vorwurf durch den Raum zu schleudern, in solchen Zeiten also erzielt die Geißelung vielleicht nicht mehr die reinigende Wirkung wie einst. Billiger als Power-Step-Aerobic ist es allemal. Und ein paar Kandidaten für gründliche Heilung habe ich auf meiner Liste.

Natürlich ist dies aber auch und vielleicht zuallererst ein Arbeitnehmerbuch und sollte in keinem Gewerkschaftshaushalt fehlen.

(Niklaus Largier. Lob der Peitsche: Eine Kulturgeschichte der Erregung. München: C. H. Beck, 2001.)