Montag, 21. Juni 2004


Trau keinem über 100


Ihr Vater war hundertzwei Jahre alt geworden und hatte an seinem letzten Geburtstag einen Viertelliter steifen heißen Grog getrunken. Er hatte den Zeitungsreportern erzählt, das wäre seine tägliche Gewohnheit und er verdanke dieser Gewohnheit sein langes Leben. Er hatte einen richtigen Skandal verursacht und freute sich sehr darüber.

(Katherine Anne Porter, "Oma Weatherall, die man sitzenließ", 193o.)


 



At Home He's A Tourist

Das Prospekt versprach eine tolle Reise. Eine Kreuzfahrt, kein Kreuzzug. Junger Mann zum Mitreisen gesucht. Auf, auf, all aboard. Leinen los und abgelegt. Das Schiff legt ab. Keiner hat gesehen, daß Titanic auf dem Heck steht.
Der Eisberg heißt Schweigen im ähnlichen Temperaturbereich. Kommunikationsverweigerung. Demütigungsszenarien. Abstrafung, um Wohlverhalten zu erzwingen. Abschneiden von Informationen und sozialen Ritualen.

Kein Kapitänsdinner. Essen am Katzentisch.

Erst lacht man drüber. Denkt, jeder Kinderkram hört von alleine auf. Steckt dann aber erst mit den Füßen, dann bis zur Hüfte im Leim. Verwickelt sich in den zähen Fäden widersprüchlicher Informationen, die sich wie ausgelassener Mozzarella um einen wickeln. Zuckerbrot und Peitsche.
Bis der Wille bricht. Oder nicht.

Die Tage ziehen sich hin. Auf der Straße herrscht Redeverbot. Demonstratives Konspirativgewisper am Telefon. Die Clique, per definitionem protofaschistoide Kadergruppe, muß instruiert werden. Soziale Rückkoppelungsmechanismen. Ausgrenzungsstrategie. Isolationshaft. Nächtliche Terrorkommandos, die Bilder von den Wänden holen, Scheiben zerschlagen. Schlafentzug. Ein Mahlstrom aus Adrenalinwirbeln. Konstante Verunsicherung. Ein Pandaemonium aus Geschrei, Weinen und dumpfen Aufprall. Darüber der pfeifende Atem der eigenen Hyperventilation. Niemand kommt hier lebend raus.
Panic Room. Eine weitere Falle.

Ein Rhythmus pendelt sich ein. Statt Quartalssaufen vierzehntägliches Wochenendbomben. Frustabbau. Offensichtlich an andere Besuchsrhythmen gekoppelt. Das alkohlbefeuerte Stück bekommt ritualisierten Charakter. Man spielt mit. Froh, überhaupt eine Rolle zu spielen. Die Abläufe folgen einem festen Skript. Lauern auf das Widerwort.

Zeit, den Notfallkoffer zu packen. Irgendwann für einen Programmwechsel sorgen. Das immer gleiche Spiel ins Leere laufen lassen. Lange kriechen, dann fällt das Schulterzucken leichter.

Diesmal nicht. Die Spiele kennt man alle schon. Sich plötzlich erinnern. Man wollte doch woanders hin. Jetzt nur noch alles herausschneiden. Ein malignes Herzensgeschwür.

Dann wieder Segel setzen.

The Mercy Seat | von kid37 um 04:00h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link