Die Tage zählen

Früher hat man ja, möglicherweise leicht angetüddelt, sich abends oder später an den Rechner gesetzt, gehofft, daß Blogger.de nicht mittendrin abstürzt und alles ins Nichts reißt und irgendwelchen, womöglich sogar emotional geprägten Unsinn gebloggt. Heute geht das auch ohne Alkohol, aber lange nicht mehr so gut.

Der Spaß, heißt es, sei irgendwie vorbei. It just ain't fun anymore, und wenn ich wüßte, aus welchem Film das wieder war, könnte ich öfter einmal fünf Minuten eher einschlafen. Maulkörbe, Gelangweiltsein vom eigenen Tun & Treiben, falsche Rücksichten und richtige noch dazu, das Schleifendrehen in der immergleichen Sisyphosprojektion - indes am Ende einer harten Arbeitswoche, so die Kollegin, mit der ich heute auf dem Heimweg ging, ist man froh, wenn nicht allzuviel für die Montagskehrbesen übrig bleibt.

Mancher Peinlichkeit wünschte man im Nachhinein die [del]-Taste, aber, so antwortete ich heute meiner Kollegin, wir haben auch ganz schön was weggeschafft. Die Hornhaut auf den Fingerspitzen, die Stahlplatten über dem Herzen, die goldbedampfte Sonnenbrille gegen die Strahlen aus der Zukunft - man ist ja auch gewachsen womöglich.

Der frohe Spott, der unbedachte Witz, die schlecht verborgene Liebeserklärung, der enttäuschte Zorn. Die Menschen, die man traf, die paar, die man besser nicht getroffen hätte. Träume auch und ein paar zu laute Versprechen. Die Biere bei Kehrwieder, die Reisen, das Vorlesen, die falschen Hoffnungen. Zwischendurch das Immerweitermachen, immerhin, die augenrollenden Freunde, die sehr schöne Frau™, die zu klug für all das war, die Rollschuhchampionesse, die ihr eigenes Geschick nicht kennt, die Frau, die das Lied von Moloko mit mir nicht teilen wollte, die Frau, die mir am Ende die Leviten las.

Die Freunde, die fremden Städte, die oft so unverdiente Hilfe, das spontane Picknick auf dem Friedhof, die Kaffeetafeln in verwunschen wunderlichen Gärten, die Schickanedernächte, und all die, die um ihre Gesten wohl gar nicht wissen. Nothing can come close to this familiar feeling.

Früher hat man diese trunkenen, womöglich emotionalen Dinge gebloggt.

Homestory | 01:32h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
referral - Samstag, 25. Oktober 2008, 01:38
Hach, Sie schreiben das so schön. Und ja... stimmt.

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kid37 - Samstag, 25. Oktober 2008, 16:08
Ich denk' mir doch nichts aus! (Danke ;-))

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kinky - Samstag, 25. Oktober 2008, 01:45
Geben Sie es zu, Sie wollen ja nur mal wieder ein paar weinende Frauen sehen!

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kid37 - Samstag, 25. Oktober 2008, 16:12
Soviele Hemdzipfel habe ich ja nun nicht, um all die verlaufene Schminke wegwischen zu können.

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sunny5 - Samstag, 25. Oktober 2008, 01:47
Klingt wundersam. Schön und gut. "Und Blumen gehören natürlich auch dazu" - Zitat gerade auf Arte aufgeschnappt.

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kid37 - Samstag, 25. Oktober 2008, 16:08
Blumen & Schokolade. Bewältigen oft schon die halbe Wegstrecke.

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mark793 - Samstag, 25. Oktober 2008, 02:00
Ich sach da
jetz nix ssu. Bin leicht angetüddelt...

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gerdbrunzema - Samstag, 25. Oktober 2008, 02:46
Diese allgemeine Bloggerdepression verwundert mich immer mehr.

Ist doch nur Herbst. Is jedes Jahr. Bisher jedenfalls.

Und wenn man jenseits der Zeit ist, in der man Weltkarriere macht, und all die Scherben und Wunden und Kratzwunden betrachtet und gar nicht versucht, das alles wieder zusammenzukriegen, dann, dann werden so Sachen wie Haltung so zentral, das man fast das Schauen auf den Anderen vergisst. Dabei geht doch nur beides.

Naja.

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kid37 - Samstag, 25. Oktober 2008, 16:06
Die Haltung wurde hier schon oft genug verloren. Manchmal zu oft, aber es gab eine Zeit, da lag auch ganz genau darin die Kraft dieses Dings hier. Countenance muß man ja schon überall sonst bewahren. Dieses Maskierte gefällt mir nicht, aber man kommt besser damit voran, das stimmt.

Die Zeit der kühleren Abende ist ja auch die, in der man merkt, mit welchen Anderen man enger zusammenrücken möchte, auf wen man sich verlassen möchte, wenn dann der Schnee fällt.

Ich liebe den Herbst. Es gibt so schöne Mäntel.

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cabman - Samstag, 25. Oktober 2008, 02:41
Ach Herr Kid, ist der Herbst nun vielleicht auch im Kopf angekommen?
Ich lese es so und wenn dem so wäre, würden wir schon Zwei sein.
Im Übrigen hätte ich große Lust mal wieder eine Kanne Tee mit Ihnen zu trinken. Sehen Sie da Möglichkeiten?

Und als Worte des Aufbaus und des Trostes, da ich sie heute las und an dieser Stelle sehr passend finde:

Aus solchem Chaos, Mischmasch-Potpourri,
was sonst erwartet uns als Poesie?
Wird nachts ihr Hirn mit Schlafentzug gequält,
Bleibt ihr nur Verseschreiben oder Schafezählen.


T.S. Elliot "The Waste Land"

In diesem Sinne, bitte weiter schreiben. Danke.;-)

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kid37 - Samstag, 25. Oktober 2008, 15:47
That corpse you planted last year in your garden,
'Has it begun to sprout? Will it bloom this year?


t(ee) minus x Tage. Aber bis dahin schaffen wir vielleicht sogar was mit Schaum oben drauf. Gern.

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frl.deville - Samstag, 25. Oktober 2008, 04:31
das lied ist anscheinend nicht zum teilen ged8.
bei uns mir hat das auch nicht sein sollen.

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Lu - Samstag, 25. Oktober 2008, 10:57
ich hab noch photos davon.

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saxanasnotizen.blogspot.com - Samstag, 25. Oktober 2008, 12:49
Bei Ihnen mag es wie beschrieben gerade sein, bei mir ist es gaaaaaaaaaaaaaaaanz anders, aber auch depremierend.

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kid37 - Samstag, 25. Oktober 2008, 15:53
Ungeteilte Lieder sind wie ungleich verteilte Liebe, ein bißchen. Der Rest ist wie in der Tanzstunde, manchmal wird man nicht aufgefordert. Auch das ist irgendwie traurig. Also ein kleines bißchen.

Lu, die hbe ich neulich noch gesehen. Verschwundene Orte, entschwundene Menschen zum Teil. Das war ein herrlicher Abend - oder Nacht muß man ja fast sagen. Ich glaube, die Hedi fuhr auch noch vorbei.

Ach Saxana, ich habe dieses Jahr soviele Zahlen einfach bloß abgelegt, mal hier eine Summe, dort ein paar Posten. Es kostet viel Kraft, das alles mal zusammenzuzählen und eine größere Bilanz zu ziehen. Ich befürchte einen Kursabsturz. Die Ergebnisse sind ja nicht nur schön.

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kittykoma - Samstag, 25. Oktober 2008, 16:15
ja.

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kid37 - Sonntag, 26. Oktober 2008, 23:50
Andererseits heißt es ja, offen bleiben für den Wandel.

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maz - Samstag, 25. Oktober 2008, 16:36
...
Aber dann muss man raus.
Aufhören, weil es am schönsten war...

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kid37 - Sonntag, 26. Oktober 2008, 23:52
Last Man Standing. Der alte Mann macht es vor, wie man auf der Brücke bleibt.

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lac - Samstag, 25. Oktober 2008, 19:31
leider ist zur zeit mein aussen wie leicht besoffen; ich selber war noch nie so nüchtern. und schüchtern. ziemlich nah, am punkt.
einen jahresabschlussblogbericht schreibe ich auch schon, in gedanken.

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kid37 - Sonntag, 26. Oktober 2008, 23:54
Dieses Jahr ist eine einzige Bilanz. Zeit der Transformation.

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creezy - Samstag, 25. Oktober 2008, 19:41
Vorsichtiger bin ich geworden, es gibt einige wenige Menschen da draußen mit denen will und muß man nicht mehr teilen wollen. Die, die man besser nicht getroffen hätte und es auch gar nicht hat.

Aber ein schönes Blatt Papier haben Sie da wieder schön vollgeschrieben, Ihr Handschrift ist so edel!

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kid37 - Montag, 27. Oktober 2008, 00:06
Wenn man einmal den Blick hinter den Vorhang, der Schein und Sein trennt, gewagt hat, läßt sich vieles mit einem Schmunzeln ertragen.

(Huch, habe ich das gerade gesagt?)

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ladys smock - Sonntag, 26. Oktober 2008, 02:06
Sie schaffen es sogar, dass "Graswurzellautsprecher" in meinem Wortschatz vertraut klingen :-)

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kid37 - Montag, 27. Oktober 2008, 00:06
Und ich kann auch leise Töne ;-)

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anousch o. - Montag, 27. Oktober 2008, 10:21
Lieber Kid, nur dass es am Ende bloß nicht heißt: "Traurig, dass wir uns nie begegnet sind." Also wenn ich das nächste Mal in Hamburg bin, würden Sie mir dann den Regenschirm halten? Ich mag ja so Old-School.

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kid37 - Montag, 27. Oktober 2008, 12:00
Komm rüber, Deern. Regen gibt es hier ja immer wieder passend zu einem Herbstspaziergang. Sie müssen sich aber auch stilecht unterhaken, da steh ich drauf.

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rationalstuermer - Dienstag, 28. Oktober 2008, 01:34
... what´s for you
will not pass you by.


Singt die wunderschöne junge Dame da einfach so. Und man kann sich beinahe selber zusehen, wie sich einem diese Zeilen in den Kopf bohren, ins Herz und in den Magen.

Immerhin, mein Lieber, Sie vertreiben einem die Wut. Und das ist doch schon eine Menge in diesen Tagen. Schnee bis ins Flachland. Man will es besser gar nicht so genau wissen.

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kid37 - Dienstag, 28. Oktober 2008, 10:50
Dieses Lied hat mir traurigerweise einmal bewiesen, daß da wohl was "not for me" war. Auch das bohrte sich dann in Herz und Magen. Das Video zeigt dann aber auch, wie es geht: Nicht warten und sitzenbleiben, sondern Schuhe putzen und los.

Heute ist kein Tag für Wut. Gut so.

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rationalstuermer - Mittwoch, 29. Oktober 2008, 04:31
Ach, Lieder. Wo doch im Alter ohnehin nur noch ein gutes Essen zählt. Eine Erfahrung jedenfalls, die ich gemacht habe.

Und stellen Sie sich nur vor: Unser Scheff hat kürzlich eine Schuhputzmaschine im Foyer aufstellen lassen. Grimmig, aber vielleicht doch nicht ganz.

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kristof - Dienstag, 28. Oktober 2008, 10:04
Darf ich außer der Reihe mal Ihre Interpunktion loben?! Die Kommas in diesem Text bereiten mir Freude.

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kid37 - Dienstag, 28. Oktober 2008, 10:41
Oh, jetzt bin ich überrascht, werde ich doch sonst wegen meiner Orthografie und vor allem wegen einer gewissen Grammatikschwäche gescholten. Mit Kommas geht man ja heute oft viel zu sparsam um - nach meinem Lesegeschmack.

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kristof - Dienstag, 28. Oktober 2008, 11:07
Von Grammatikschwäche merke ich nichts. Und ja, Kommas, Gedankenstriche und Großschreibung sind unsere Freunde.

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kaethe feinstrick - Donnerstag, 30. Oktober 2008, 16:59
Mit dem Alter wird man verletzlicher und daher vorsichtiger. Darum schreibe auch ich heute anders als noch vor einem Jahr. Und gleichzeitig wurmt es mich und ich denke, was soll der ganze Unsinn, diese ewige Selbstkontrolle, diese falsche Rücksichtnahme wegen der drei falschen Leser, die sich zwischen all die richtigen geschlichen haben? Wir leben doch nur einmal, und ich mag es lieber stürmich und den Wechsel zwischen eiskalt und glühendheiß. Lauwarm finde ich auf Dauer ausgesprochen langweilig. Das ist so bei uns Herbstkindern.

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kid37 - Donnerstag, 30. Oktober 2008, 23:32
Lauwarm ist mir zu oberflächlich. Ja, man wird verletzlicher - und wohl sicher bewußter für das eigene verletzende. Rücksicht fällt ja nicht immer leicht, es gibt so viele, die kess damit kokettieren, einen Scheiß um andere Meinungen oder um ihre Leser zu geben (eine Ansicht, die sich leicht äußert, solange sie nicht selbst ins Fadenkreuz laufen). Trotzdem verkneift man sich ab einer gewissen Öffentlichkeit besser die ein oder andere verbale Volte, auch wenn ich festgestellt habe, daß sich meist die am lautesten beklagen, die selber gerne mal die Wäscheleine vollhängen.

Das Problem reicht dann natürlich tief, wenn sich so ein Befindlichkeitsblog auf diese Weise selbst den Gnadenschuß gibt. Vielleicht sind das auch nur Phasen, vielleicht findet man die passenden Worte zu besseren Gelegenheiten. Bloggen aber sollte nicht so viel Selbstkontrolle haben. Man könnte dann ja gleich in der Zeitung schreiben. Bloggen ist besser, wenn es wie Küssen ist, bis es schmerzt. Oder wie eine Ohrfeige.

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